TWIST AND SHOUT

KAPITEL FÜNF – A DAY IN THE LIFE

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»Woke up, fell out of bed,
Dragged a comb across my head
Found my way upstairs and had a smoke,
Somebody spoke and I went into a dream«

A day in the life"

The Beatles

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Stille.

Ein seltsames Gefühl. Nicht seltsam im negativen Sinne, nein – ganz im Gegenteil. Seltsam wohltuend. Seltsam beruhigend. Seltsam angenehm. Seltsam inspirierend. Und seltsam ungewohnt, nach dem ganzen Spektrum von möglichen und unmöglichen Tönen, durch die sie in der letzten Zeit geschleudert worden war.

Die letzte Zeit? Was sollte das bedeuten, die letzte Zeit? Gott, sie wusste es nicht. Zeit war auf einmal so...unwirklich. War sie das nicht schon einmal irgendwann gewesen?

Was war die letzte Zeit? Die letzten Stunden, Minuten, Sekunden? Tage? Oder Wochen, Monate, Jahre?

Hey. Die Wirkung musste echt ziemlich inspirierend sein.

Ihr Gehirn stellte Zusammenhänge her. Es arbeitete. Sie dachte. Und nicht nur das: Sie kombinierte noch dazu. Ihre Gedankengänge waren logisch. Rational.

Das war nun wirklich mehr, als man eigentlich hätte erwarten können. Eine scheinbar endlose Aneinanderreihung von Augenblicken – das schien ihr im Moment irgendwie noch das geeignetste Zeitmaß, auf das sie sich verlassen konnte – verging, in denen sie einfach nur still da lag und fasziniert dieses Phänomen des Denkprozesses, das gerade in ihrem Kopf ablief, verfolgte. Sie hätte ewig – noch so eine gute Bezeichnung für Zeit – so weitermachen können. Staunend. Ihr war, als könne sie die Arbeit ihrer Gehirnzellen förmlich sehen.

Stichwort sehen.

Auch ihr Universum hatte sich verändert, seitdem sie ihre müden Lider gehoben hatte. Schlagartig? Von einer Sekunde auf die andere? Nicht wirklich gute Bezeichnungen, aber was sollte es. Das Wunder ihres Denkens war ihr gerade viel zu wertvoll, um es an so etwas zu verschwenden. Jedenfalls war ihr Universum jetzt...anders – so neu, so frisch, scheinbar so unverbraucht wie frisch gefallener Schnee. Ob diese auf einmal so bewusst wahrgenommen Dinge, die in ihrem Kopf geschahen, auch ihren Hang zur Dramatik erklärten? Nun ja. Sie beschloss, vorerst auch auf diese Frage nicht näher einzugehen. Vorerst. So viele bestürmende Fragen, so viele Schreie nach Antworten...eigentlich war es ja fast genauso wie vorher, als durch ihren Kopf noch ein kaleidoskopartigen Wirbel in Endlosschleife gejagt wurde. Nur eben komplett anders. So viel zum Thema Logik.

Es war so rein. So sauber. Die verschwommen bunten Farbflecken vor ihren Augen hatten sich in glatte, weiße Flächen gewandelt. Wände. Alles, aber wirklich jeder Quadratzentimeter dieses Raumes schien vor der angenehmen Reinheit dieser Farbe erfüllt, die sie förmlich in sich aufzusaugen schien. Die Decke, das Bett, die Wände, der Boden...

Nahezu gierig ließ sie ihre Augen durch das ganze Zimmer schweifen. Sie konnte sich einfach nicht mehr von dem Strahlen losreißen. Es gab ihr ein angenehm beruhigendes Gefühl von Ruhe, von Frieden. Erst klein und dann immer größer wuchs der Wunsch in ihrem Inneren, dies alles zu berühren. Sich davon zu überzeugen, dass diese Herrlichkeit auch wirklich und wahrhaftig real war. Vielleicht auch, um nur ein ganz kleines Bisschen dieses Glanzes in sich aufnehmen zu können. Es sollte wirken.

Instinktiv richtete sie sich auf – oder vielmehr, sie wollte es. Denn schon nach einer winzigen Regung ihrerseits kreischten alle ihre Muskeln empört auf. Sie mussten buchstäblich in Flammen stehen. Oder zumindest fühlte es sich so an. Sie stöhnte auf. Außerdem breitete sich von ihrer Magengegend aus ein unvorstellbar grausam stechender Schmerz, der alles ergreifen zu schien, durch ihren Körper bis hin zu ihren Haarwurzeln und Fingerspitzen aus. Sie fühlte sich so hohl und leer wie eine Flasche, die jeden Moment auseinanderbrechen musste.

Der Schmerz pulsierte vor ihren Augen. Das reine Universum begann sich in zuckende Punkte aufzulösen. So fest sie nur konnte presste sie die Lider zusammen.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, war der Schmerz weder verschwunden, noch gelindert. Es half nicht. Auf einmal war wieder alles so fremd. Es war wieder so anders. Falsch.

Etwas war da, das nicht hierher gehörte. Sie spürte es, auch wenn sie nicht mehr sah. Ein hässliches Knarzen der Türschwelle ließ sie erschrocken zusammenfahren, gleichgültig, dass sie damit den pochendem Schmerz nur noch einmal neue Nahrung gab. Die Stille war plötzlich erfüllt von tausend Geräuschen. Normalerweise hätte man sie für diskret oder alltäglich gehalten, aber hier wirkten sie so störend und laut wie auf einem Punkkonzert. Und sie nahmen kein Ende.

»Willkommen in der Wirklichkeit, Lily!«

***

»Nein, nein und nochmals nein! Albus! Ich kann und werde das nicht dulden!«

Wie um ihren ohnehin schon mehr als scharfen Worten noch zusätzlichen Nachdruck zu verleihen, ließ Juke wütend ihre geballte Faust auf den mächtigen Eichentisch krachen. Der Rest der kleinen Gruppe, die sich außer der gestrengen Professorin noch in Dumbledores Büro befand, zuckte mehr oder minder erschrocken zusammen. Diese Zusammenkünfte oder Krisensitzungen, wie sie von allen eher lapidar bezeichnet wurden, waren seit den neuesten Terroranschlägen des Dunklen Lords beziehungsweise der seiner Spießgesellen oder auch Todesser genannt, schon zur Routine geworden. Doch seit dem Beginn eines enormen Undercover-Einsatz vor zwei Wochen, zu dem fast alle fähigen Auroren, die bisher in der Nähe von Hogwarts nach dem Rechten gesehen hatten, eingezogen worden waren, hatten sie eigentlich ihren Sinn verloren. Nur zu viert konnte man einfach nicht wirklich etwas finden, das zur Lösung der Sache Schwarze Magie beitragen würde. Und die Tatsache, dass sich dessen auch alle hier vollends bewusst waren, wirkte sich auch nicht gerade förderlich auf die Motivation aus.

Manchmal fragte sich Arabella Figg wirklich, was das alles sollte. Sicher, Dumbledore mochte seine Gründe haben, warum er diese zusammengeschrumpfte Versammlung immer noch einberief, aber die konnte Arabella nicht wirklich nachvollziehen. Und es sah ganz danach aus, dass die anderen beiden Personen – die stellvertretende Schulleiterin Professor Juke und Llewellyn Laywyah, Chef der Abteilung für magische Verbrechensbekämpfung, Spezialgebiet Jugendkriminalität im Zaubereiministerium, die außer Dumbledore und ihr noch im Büro saßen, ihre Meinung teilten. Arabella hasste es nun mal, sinnlose Dinge ohne ein konkretes Ziel im Auge, zu tun und eben genau das waren die Treffen in den letzten zwei Wochen gewesen. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie gewartet, bis die Auroren wieder zurückgekehrt waren.

Aber mit dem Zurückkehren war es auch so eine Sache. Natürlich sprach keiner davon, doch es war ein offenes Geheimnis, dass die Auroren jetzt mit jedem noch so unbedeutend scheinenden Einsatz ihr Leben riskierten. Als Arabella letzte Woche zufällig die Liste mit ihren Namen in die Hände gefallen war, hatte sie mit einiger Überraschung registriert, wie viel ihrer alten Schulkameraden und Kameradinnen unter ihnen waren. Finch, beispielweise. Oder Weasley.

Sie seufzte. Es wäre schön gewesen, sie nach all den Jahren, die sie in New York verbracht hatte, einmal wiederzusehen. Arabella selbst war keine Aurorin, sondern direkt nach ihrem Schulabschluss nach Amerika gegangen, um Journalistin zu werden, wo sie nach einigen Anlaufschwierigkeiten auch ein beachtliches Maß an Bekanntheit und Respekt erlangt hatte. Der Grund, warum sie hier war, war auch nicht Lord Voldemort, sondern ihre beste Freundin. Doch wer meinen mochte, dass diese Tatsache ja dann um Einiges unkomplizierter wäre, täuschte sich gewaltig. Außerdem waren sie noch keinen Schritt vorangekommen. Anstatt reden zu können, saß sie nun Tag für Tag bei diesen sogenannten Konferenzen und plante unnötige Einzelheiten, die vom Schwierigkeitsgrad her auch von Hauselfen übernommen hätten werden können. Jeden Tag das Gleiche.

Heute dagegen ging es ziemlich hitzig zur Sache, was noch höflich ausgedrückt war. Und ziemlich stark untertrieben. Schon seit zweieinhalb Stunden war eine erregte Diskussion in vollem Gange. Aber hier ging es ja natürlich auch um eine viel reellere Bedrohung als irgendwelche weit entfernten Attentate, wie Arabella in Gedanken ironisch kommentierte. Hier war das Ruf der Schule in Gefahr. Durch die Bedrohung Nummer eins, die auf der Skala potentieller menschlicher Zeitbomben von eins bis zehn mindestens zwanzig Punkte abräumte: Lily Evans.

Zu dieser Ansicht konnte man jedenfalls kommen, wenn man Juke die letzten zwanzig Minuten reden gehört hatte. Nach außen hin gab sich Arabella ruhig, kühl und gelassen wie immer, doch innerlich brodelte es in ihr. Was erlaubte sich diese verschrumpelte Schildkröten-Schrulle eigentlich? Woher nahm die sich verdammt noch mal das Recht, so über Lily zu reden? Als wäre sie das letzte Stück Dreck. Eine nervige Mücke, die man mit einem Faustschlag beseitigen konnte.

Okay, Lily hatte ziemlich viel Scheiße in ihrem sehr kurzen vergangen Leben gebaut. Sie baute jetzt Scheiße und würde auch in Zukunft noch Scheiße bauen. Das war Arabella klar, weil es einfach typisch Lily war. Aber musste man sie deshalb behandeln wie eine Schwerverbrecherin? Ihr die gesamte Zukunft verbauen? Die Frau checkte wohl wirklich nicht ganz, was ihre Forderung, sollte sie sich erfüllen, auslösen würde. Von wegen heilsamer Schock. Von wegen zur Vernunft kommen. Wenn es hier für Lily jetzt zu Ende war, war dann war für sie alles zu Ende. Dann würde man sie hundertpro in circa drei Wochen aus dem nächstbesten Londoner Gully fischen dürfen.

Arabella dachte das alles nicht, weil sie kein Vertrauen in Lily hatte. Oder sie sowieso als hoffnungslosen Fall ansah. Sicher nicht. Lily war ein wunderbarer Mensch und hatte durchaus Fähigkeiten – aber eben auf ihre Weise. So stark und gefühllos Lily sich gerne präsentierte, genauso verletzlich war sie hinter ihrem Pokerface. Selbst Arabella wusste nicht genau, warum, sie wusste nur eins: Irgendwie kam Lily mit dieser Welt nicht klar. Oder die Welt nicht mit ihr.

Trotzdem glaubte Arabella an sie. Ihre vorherigen Gedanken rührten daher, dass das Ganze auch wieder nahezu charakteristisch für ihre Freundin war. Die ganze Situation, die sie eben im Kopf noch einmal durchgespielt hatte, schon einmal geschehen. Nicht direkt in allen Einzelheiten, aber grob war es ungefähr der gleiche Verlauf gewesen. Ein weiteres Mal würde Lily den Sturz nicht verkraften. Einmal auffangen hatte sie hinbekommen, wenn man jetzt von den Folgen einmal absah, aber ein zweites Mal? Nicht gänzlich unmöglich, aber zumindest sehr unwahrscheinlich.

Dumbledore wusste das. Er konnte es sogar teilweise verstehen, was man nicht von jedem behaupten konnte. Siehe der Professorin, die ihrem Namen wirklich alle Ehre machte, indem sie keifende Töne von sich gab wie eine uralte Jukebox nach Stromausfall. Offensichtlich ging das einfach nicht in den verbohrten, stockkonservativen, blöden Schädel dieser Person hinein. Wenn dieses Weib weiterhin solchen Mist verzapfte, würde sich Arabella nicht mehr beherrschen können. Das stand fest, da konnte Dumbledore noch so beschwichtigend auf die alte Schachtel einreden oder ihr selbst, Arabella, beruhigende und bittende Blicke zuwerfen.

Arabella konzentrierte sich weiter auf die Debatte zwischen Juke und Lawyah, die gerade eine Grundsatzdiskussion über die erhöhte Bereitschaft von jugendlichen Magiern zu Drogen und Kriminalität führten, ehe sich Juke sich wieder Dumbledore zuwandte.

»...nicht geduldet werden kann! Wir haben damals, als es zu diesem Eklat kam, also vor genau drei Jahren, einstimmig beschlossen, dass, wenn sich die Sache noch einmal wiederholt, sofortiger und strikte Verweis stattfinden wird. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir jetzt wieder Gnade vor Recht ergehen lassen? Was würden die Eltern sagen, wenn alles herauskommt? Was würden die Schüler wohl machen? Das ist doch in deren Augen eine pure Anstachelung zur endgültigen Anarchie! Nein, Albus, wir müssen hart bleiben, koste es, was es wolle!«

Arabella hatte das dringende Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Und der Laberflash dieser ihrer Ansicht nach eindeutig Geisteskranken war immer noch nicht beendet.

»Ich sehe wirklich keinen Grund, warum der Verweis nicht ausgeprochen werden sollte. Ich meine...sehen Sie sich doch die Laufbahn dieser Person doch an -«

Juke betonte das Wort „Person" genauso, während sie mit Lily Schülerakte herumwedelte, wie Arabella es eben in Gedanken getan hatte. Arabella zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie hatte Juke noch nie ausstehen können. Und das hatte auch immer auf Gegenseitigkeit beruht. Lass dich nicht provozieren...

»- was soll so jemand wie dieses Mädchen noch hier? Auch noch eine Gryffindor. Wir haben ihr bei Merlin mehr als genug letzte Chancen geben und hat sie auch nur eine davon wahrgenommen? Hatte sie uns oder ihren Adoptiveltern irgendwelche Ansätze von guten Willen oder Lernbereitschaft gezeigt? Nein! Zig Einträge wegen Fernbleiben des Unterrichts, angeblichen Krankheitsfällen, mangelnden Leistungen, Unpünktlichkeit, Aufsässigkeit gegenüber den Lehrern, Handgreiflichkeiten gegenüber ihren eigenen Mitschülern, ausgiebige Drogenkontakte – aber was soll man ehrlich gesagt auch anderes erwarten, bei der Herkunft. Ich habe es ja schon immer gesagt, lange kann das nicht gut gehen. Und hier haben wir sie nun – Lillian Ophelia Vinatez Evans!«

Das war eindeutig zuviel. Wie konnte diese Frau es nur wagen? Dieser ganze versteckte Rassismus gegenüber Muggelgeborenen, gegenüber Lilys uneheliche Geburt und vor allem die Verächtlichkeit, mit der sie Lily vollen Namen, den seit ihrer Eintragung in das magische Buch wahrscheinlich niemand mehr vollständig ausgesprochen hätte, aussprach – das war bodenlos! Arabella explodierte. Ihre Augen schienen Funken zu sprühen, als sie zu sprechen ansetzte.

Lawyah, der sonst eigentlich immer recht teilnahmslos gewirkt hatte, verfolgte gespannt das Geschehen. Dumbledore, der der Feindschaft der beiden Frauen hilflos ausgeliefert zu sein schien, setzte zu einem letzten verzweifelten Versuch an, das Schlimmste zu verhindern:

»Arabella! Joanna! Ich bitte Sie – lassen Sie uns das doch wie vernünftige, erwachsene -«

»Ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich mich vernünftig oder erwachsen benehmen soll, wenn es sonst niemand tut!«, brauste Arabella auf, »Das war gerade wirklich das Allerletzte von Ihnen, Professor! Aber nun ist mir Einiges über die Denkweise bestimmter Personen dieser Schule klargeworden. Und ich hätte immer gedacht, hier würde jeder gleich behandelt werden und sich frei entfalten können, egal was er ist und wo er herkommt. Unabhängig von seiner Vergangenheit. Da habe ich mich wohl gründlich getäuscht. Ich hatte geglaubt, hier würde man auf den Einzelnen eingehen, Verständnis finden, aber es ist doch immer das Gleiche: Alle haben sich so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird und wer aus der Masse heraussticht und sich nicht verbiegen lässt, wird eben als verrückt erklärt oder von der Schule geschmissen! Ist das die von Ihnen vielgepriesene Toleranz, Professor? Sind Sie denn nicht schon einmal auf die Idee gekommen, dass das alles auch ein Hilfeschrei sein könnte? Das man einmal zu verstehen versuchen sollte, ohne gleich Millionen von Strafarbeiten aufzudonnern? Warum glauben Sie, haben wir Leute wie Lord Voldemort? Ja, zucken Sie nur zusammen, ich habe keine Angst vor einem simplen Namen! Warum glauben Sie, ist er so geworden? Weil die Bosheit in seiner Natur liegt? Dass ich nicht lache. Er mag Lord Voldemort sein, aber er war auch einmal so jemand wie sie und ich. Wie Lily. Vielleicht hätte man Einiges verhindern können, wenn man ihn als Kind zu verstehen versucht hätte. Solche Leute sind nicht einfach von Grund auf böse. Lily hat kein angeborenes Talent dazu, sich selbst zu zerstören. Oder glauben Sie, das würde Ihr Spaß machen? Irgendwann zerbrechen diese Leute und später kann die Verbitterung dann zu dem führen, dessen Resultat sie ja kennen. Weil sie es jetzt bekämpfen müssen. Hätten Sie nur früher damit begonnen, anstatt sich wie eine kleinkarierte, vorschriftengeile Paragraphenreiterin aufzuführen! Schönen Tag noch!«

Damit drehte sich Arabella auf dem Absatz um und stürmte hinaus, gleichgültig, welche heillose Verwirrung sie dadurch in dem Büro bei allen Beteiligten zurückließ.

***

Willkommen in der Wirklichkeit. Haha. Dass ich nicht lache, dachte Lily sarkastisch.

»Willkommen im Leben wäre um Einiges passender ausgedrückt.«, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung ironisch erwidern. Ihre Stimme hörte sich irgendwie merkwürdig an. Vielleicht, weil dies die ersten Worte waren, die sie nach langer Zeit – sie war inzwischen zu dem Entschluss gekommen, dass trotz alldem lange Zeit die passendeste Bezeichnung für ihre Situation war – sprach. Oder, weil sie eine Ewigkeit schon keine mehr geraucht hatte.

Als hätte dieser Gedanken irgendetwas in ihr geweckt, bekam sie plötzlich ein unbändiges Verlangen nach einer Zigarette. Die Junkie-Seele lässt sich eben nicht verleugnen, spottete eine kleine Stimme in ihrem Kopf, dessen Bedeutung sie nicht ganz hinkriegte. Aber Zynismus konnte allem Anschein nach wohl auch nicht geheilt werden.

Nach einiger Zeit, die in Stille, die aber längst nicht so kostbar wie die vorherige war, verstrich, konnte sie das Nicken ihres Gesprächspartners förmlich hören.

»In der Tat. Vielleicht müssen wir ja unsere Begriffe von Wirklichkeit und Leben neu definieren«, sagte dieser dann ernsthaft. Männlich, soweit Lily durch den Klang der Stimme erahnen konnte. Außerdem war sie heilfroh, dass er nicht mit den typischen Ärzte-Kommentaren der Art „Wenn du schon wieder so schlagfertig sein kannst, scheint es dir ja schon wieder besser zu gehen", angekommen war. Dass sie sich in einem Krankenzimmer befand, hatte sie mittlerweile schon realisiert. Ihr ging es nämlich, simpel ausgedrückt, beschissen. Der Schmerz war zwar nicht mehr so intensiv wie gerade eben, doch sie fühlte sich immer noch, als wäre sie zu einem Puzzle zerhackt und dann verkehrt herum wieder zusammengesetzt worden.

Langsam wurden auch die Umrisse ihrer Umgebung wieder klarer. Lily konnte tatsächlich einen Mann in weißer Robe erkennen, der direkt neben ihrem Bett stand und auf sie hinabschaute. Sie musterte ihn eingehend. Er war noch ziemlich jung, ungefähr Mitte zwanzig und mit seinen strahlend grünen Augen und den blonden Strubbelhaaren Typ Sunnyboy und Frauenschwarm, also ziemlich gutaussehend, soweit sie das beurteilen konnte. Zudem roch er wie die Typen aus der Siebten ziemlich penetrant nach einem bestimmten Deo oder After-Shave, das wohl die Coolness unterstreichen sollte. Normalerweise konnte Lily solche Typen auf den Tod nicht ausstehen. Aber da er eindeutig keine pseudo-arroganten Sprüche verwendete, sie normal behandelt hatte und ja Arzt war, beschloss sie, ihm noch eine Chance zu geben. Und er sah absolut kein bisschen aus wie John Lennon, was Lily im Moment irgendwie ungemein beruhigte.

»Du bist also Lily.«

»Wenn du das sagst.«

Der Typ (Lily konnte sich nicht dazu überwinden, ihn als Arzt oder Doktor zu bezeichnen, da sie damit sonst nur alte Opas mit Halbglatze und Gute-Laune-Lächeln in Verbindung brachte) lächelte amüsiert, sei es nun über ihr Antwort oder darüber, dass sie ihn unaufgefordert duzte. Doch schließlich tat er ja dasselbe und als sogenannter Ex-Hippie hatte Lily sich abgewöhnt, irgendjemanden zu siezen - außer vielleicht die Professoren in Hogwarts und manchmal nicht einmal die.

»Du hast recht, Namen haben eigentlich keine Bedeutung. Besonders die, die uns irgendwelche anderen Leute gegeben haben.«

»Darf ich trotzdem wissen, mit wem ich das Vergnügen habe?«

»Vergnügen – nun ja, freu dich lieber nicht zu früh. Du weißt ja nicht, mit wem du es zu tun hast. Okay, du wolltest es wissen...mit mir.«

Lily verdrehte gespielt genervt die Augen. Aber dieser Typ gefiel ihr. Sie fand ihn nicht sexy oder so, aber sie lagen zumindest aus der Sicht des Humors und der Ironie auf einer Wellenlänge. Das war mehr, als man vom Rest der Menschheit behaupten konnte.

Der Typ stellte sich kerzengerade hin und deutete eine förmliche Verbeugung an, die aber eher an die Begrüßung im Karate vor einem Kampf erinnerte.

»Gestatten – Lear Noah Anthony „the Punster" McKinnon.«

»Lillian Ophelia „the Pokerface" Vinatez Evans.«

Lily wusste nicht genau, was sie dazu bewogen hatte, ihm ihren vollen Namen, wie er auf ihrer Geburtsurkunde (sofern so etwas in magischen Welt existierte) stand, zu nennen. Dazu noch mit dem lächerlichen, idiotischen Spitznamen, den ihr die Rumtreiber verpasst hatten. Wahrscheinlich, weil sie sich mit ihm so locker und zwanglos unterhalten konnte wie schon so lange mit keinem anderen mehr.

»Ich glaub, es wäre besser, wenn du mir das bei Gelegenheit mal aufschreiben würdest.«

»Sobald ich wieder weiß, wie das Phänomen Buchstaben aussieht, gerne.«

Die Stimmung veränderte sich erneut. Lily wusste mal wieder nicht, woher sie plötzlich das feine Gespür für Veränderungen der Stimmungen und Gefühle ihrer Mitmenschen, auf denen sie doch normalerweise nur herumtrampelte, nahm, aber es war so. Lear Noah Anthony „the Punster" McKinnon wurde…anders. Alarmierter. Ernster.

»Du weißt es also nicht?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Lily verunsichert. Die Frage verwirrte sie. Was sollte sie wissen? Was müsste sie wissen? Wollte sie es überhaupt?

»Du sagst also, du kannst dich nicht erinnern? An nichts?«

Konnte sie sich nicht erinnern? Hatte sie es schon versucht? Wollte sie es versuchen, wollte sie, dass das Wissen wieder in ihrem Bewusstsein war?

Nein! Nein, ganz bestimmt nicht, du willst es nicht, nein, nein, sicher nicht, nein...

Es war nicht nur allein die dünne Stimme in ihrem Unterbewusstsein, die sie zögern ließ. Irgendetwas...Mächtiges wollte es verhindern. Und gleichzeitig fühlte sie sich mit aller Macht dazu gedrängt, wissen zu müssen.

McKinnon beobachtete sie aufmerksam, doch Lily bemerkte es nicht einmal. Zu tief war der Zwiespalt in ihrem Inneren. Der unerbittliche Kampf, der hinter ihrer Stirn tobte. Sie vergaß beinahe zu Atmen.

Die Schmerzen.

Das Licht.

See.

Der Stein.

Die Wesen.

Das Gebäude.

Die Visionen.

Plötzlich war alles wieder da. Die Erinnerungen waren zurückgekehrt und trafen sie mit einer grausamen Wucht, die sie sich nie hätte vorstellen können. Und das Wunder des Denkens wurde zu einem unvorstellbaren Grauen.

***

Es war nicht dasselbe.

Jim Potter saß am Fenster des Jungenschlafsaals der Siebtklässer in Gryffindor neben seinem Bett und zog gedankenverloren an einem frischgedrehten Joint. Er glaubte, in der Ferne eine Kirchturmuhr zweimal schlagen zu hören, was vollkommen abwegig war, da sie sich hier in der Zaubererwelt befanden, von denen ungefähr die Hälfte der Bevölkerung noch nicht einmal das Wort Kirche gehört hatte. Aber trotzdem.

Wäre er nicht so in Gedanken versunken gewesen, hätte er beim Anblick des Geschehens im Schlafsaal sicher eingreifen müssen. Das auf das Zeug, das er bereits intus hatte, zu schieben, wäre ihm natürlich nie in den Sinn gekommen.

Alles was recht war, aber das Sirius und Lucy in seinem, Jims, Bett gegenseitig so etwas wie anatomische Körperstudien durchführten oder Remus mit einigen anderen Mädchen aus Ravenclaw Peters Gesicht und dabei die Hälfte der Bettwäsche mit kirschrotem Lippenstift künstlerisch hochwertig verzierten, ging etwas zu weit.

Aber er hatte nachzudenken. Er wusste nicht genau, wie er es formulieren sollte. Es – das Feeling – hier war einfach nicht mehr dasselbe. Die Menschen...veränderten sich. Sie wurden anders. Kälter. Ängstlicher. Härter. Misstrauischer. Verschlossener. Selbst hier unter ihnen hatte sich das Klima irgendwie verändert. Die Unbeschwertheit, die Leichtigkeit, war verschwunden.

Angst war ein mächtiges Mittel. Und der dunkle Lord wusste offensichtlich genau, wie man sich ihrer am besten bediente.

Sie hatten sich alle auf die große Freiheit nach Hogwarts gefreut. Auf den Beginn des Lebens, wie die Rumtreiber zu sagen pflegten. Und jetzt? Scheinbar alles vorbei, bevor es angefangen hatte. Er hatte ihnen das Leben gestohlen.

Pokerface war auch weg. Von ein Tag auf den anderen. Die Rumtreiber hatten einige Tage nach ihrem Verschwinden erfolglos versucht, ihren Aufenthaltsort herauszufinden – zum Einen aus reiner Neugier, zum Anderen, weil ihnen ihr liebstes Verarschungsopfer, mit dem man sich endlose Wortgefechte liefern konnte, wenn sie (selten) dazu in der Stimmung war, auch ein wenig fehlte -, aber es war zwecklos. Offiziell hieß es, sie hätte sich bei einem Spaziergang schwer verletzt, und läge jetzt auf unbestimmte Zeit im Krankenflügel, doch das konnten die Lehrer den anderen erzählen, nicht aber den Rumtreibern. Aus gut unterrichteten Quellen wussten sie, dass das nicht so war.

Es hatte auch irgendetwas mit Voldemort zu tun. So viel Jim wusste, hatte er ihre Eltern umgebracht. Was hinter den Kulissen noch alles geschehen war, hatte keiner erfahren. Voldemort hatte ihr die Kindheit gestohlen.

Und dafür hasste er ihn.

In Jim reifte ein Plan. Warum hatten sie sich, obwohl sie wussten, dass die offizielle Lehrererklärung unter Garantie nicht stimmte, so einfach abwimmeln lassen? Die Sache nicht weiter verfolgt? Komisch. Sonst war das gar nicht ihre Art, so einfach aufzugeben. Aber sie würden Pokerface finden. Schon allein mal wieder aus purer Revolution, dass das Unmögliche eben doch Möglich war. Er musste mit Sirius sprechen.

»Ey, Alter! Gibt's doch nicht, dass du dir das ganze Zeug allein reingierst, Jimmie-Boy!", dröhnte im selben Moment die ziemlich angeheiterte Stimme seines besten Kumpels neben ihm. Mit einem Satz hatte sich Sirius auf ihn gestürzt und Jim den Rest des Joints aus der Hand gerissen.

Von wegen reingieren. Wen man sein Ziehen schon so bezeichnete, wie sollte man dann das von Sirius bezeichnen? Aussaugen? Egal.

Er hatte wirklich Wichtigeres zu tun. Und an ein Gespräch war bei Sirius aktuellem Zustand sowieso nicht zu denken. Dann eben ein anderes Mal.

Morgen war schließlich auch noch ein Tag.

Hoffte er zumindest.

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