TWIST AND SHOUT
KAPITEL SECHS – ELEANOR RIGBY
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»All
the lonley people
Where do they all come from?
All the lonley people
Where do they all belong?«
„Eleanor Rigby"
The Beatles
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Es war schön hier am See, trotz der eiskalten Dezembernacht. Der stürmische Wind kühlten ihre vom Laufen und Sprechen erhitzen Wangen. Arabella atmete tief ein. Seit ihrer überstürzten Flucht aus Dumbledores Büro stand sie nun hier. Sie brauchte das einfach, um wieder zur Ruhe zur kommen. Sich zu sammeln, die ganze Situation zu verarbeiten.
Das Wasser des Sees warf stürmische Wellen. Arabella mochte die Oberfläche des Sees, wenn sie so aussah. Es schien dann, als ob das Wasser Charakter hätte. Als ob auch es versuchen müsste, mit der Aufruhr in seinem Inneren klarzukommen. So herrlich unperfekt. Es war ungemein tröstlich, wenn man Probleme hatte. Man hatte das beruhigende Gefühl, doch nicht ganz allein dazustehen.
Was die anderen jetzt wohl von ihrem Charakter hielten? Bei Juke enthielt sie sich da lieber jeden Kommentars. Es war die Wahrheit gewesen, die sie gesagt hatte und sie bereute es nicht. Nur...war es richtig gewesen? Es vor allen auszusprechen? Hätte sie nicht doch lieber allein das Gespräch mit Juke suchen sollen? Quasi unter vier Augen?
Allein der letzte Gedanke schien ihr so grotesk, dass sie sich selbst noch in dieser Situation am liebsten vor Lachen auf dem Boden gerollt hätte. Es wäre ein bitteres Lachen gewesen. Aber sie hatte im Moment wirklich andere Probleme. Ein Gespräch mit Juke unter vier Augen – hätte sie den Plan gehegt, sich mit einer Ritterrüstung zu unterhalten, hätte es sicher den gleichen Effekt gehabt. Und sie, Arabella, benahm sich ja gerade so, als hätte sie eine öffentliche Erklärung vor dem gesamten Zauberministerium abgegeben. Dabei waren es nur vier verdammte Personen, einschließlich Juke und ihr selbst gewesen, die Zeugen dieses Vorfalls geworden waren. Soviel würde Jukes Ego doch wohl verkraften können. Auf den Egos ihrer Mitmenschen trampelte diese Person schließlich auch nicht selten herum. Arabella wusste, wovon sie sprach. Hogwarts war ein Abschnitt in ihrem Leben gewesen, an den sie sich noch sehr genau erinnern konnte. Zu genau, um ihn als angenehm zu empfinden.
Kein Grund also, ein schlechtes Gewissen zu haben. Oder doch? Arabella seufzte. Wie gesagt, hasste sie es irgendwelche sinnlosen Dinge ohne Aussicht aus Erfolg zu tun. Sich innerlich selbst mit Fragen, auf die sie sowieso keine Antwort finden würde, zu zerfleischen, gehörte dazu. Sie brauchte dringend etwas, dass sie auf andere Gedanken brachte.
Ein Schatten im fahlen Mondlicht nicht weit von ihr ließ sie erschrocken zusammenfahren. Arabella verfluchte sich innerlich. Sie sollte wirklich vorsichtiger sein mit dem, was sie sich wünschte. Es könnte ja schließlich sein, dass sie es bekommen würde. Wie jetzt zum Beispiel. Unwillkürlich spannte sich Arabella und tastete nach ihrem Zauberstab. Er befand sich griffbereit in ihrer Robe. Arabella umklammerte ihn mit entschlossener Miene. Selbst wenn das nur ein Dumme-Jungen-Streich sein sollte, war es besser, auf der Hut zu sein. Man konnte nie wissen.
Die scheinbar lautlosen Schritte, von denen die Stille der Nacht noch bis vor wenigen Sekunde erfüllt gewesen worden war, verstummten plötzlich. Arabella hielt den Atem an. Ihre „Abwechslung" musste jetzt unmittelbar hinter ihr stehen. Zwei, drei Sekunden hielt sie inne, um sich dann mit einem abrupten Ruck umzudrehen.
»Expelliarmus!«
Das nächste, was Arabella nach dem wohlbekannten Zischen ihres Entwaffnungsfluches vernahm, war ein leicht irres Kichern, gefolgt von genervten und mit schmerzverzerrte Stimme gegrummelten Kommentaren. Eindeutig eine Jungenstimme. Etwas verwirrt beugte sie sich zu ihrem vermeintlichen Angreifer herab. Als sie sah, wen sie da in das verschneite Gebüsch befördert hatte, erlebte sie eine gewaltige Überraschung.
»Danke, danke, ich wusste ja gar nicht, dass du so froh sein würdest, mich zu sehen.«, motzte ein bebrillter, siebzehnjähriger Junge sarkastisch und sandte anklagende Blick zu ihr hinauf, während er sich den Schnee von der Robe klopfte.
Jim Potter! Arabella hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Wie die Zeit verging! Dieser Junge...nein, eher Typ zu ihren Füßen hatte nicht mehr viel – um nicht zusagen kein bisschen - Ähnlichkeit mit dem kleinen Milchbubi aus der Ersten, als Arabella gerade ihren Abschluss machte. Er war zwar nicht die Sorte Typ, bei den die Frauen reihenweise in Ohnmacht fielen – aber er sah so anders aus. Älter. Nahezu erwachsen. Ob Lily sich genauso verändert hatte?, schoss es ihr durch den Kopf. Schließlich waren die beiden, so viel sie wusste, im gleichen Jahrgang. Sogar im selben Haus, Gryffindor.
Ein weiteres komisches Kichern Jim Potters' drängte sie dazu, ihm einmal etwas genauer ins Gesicht zu sehen. Neben der erwachsenen, im Moment aber eher ramponierten Fassade konnte man ihm - mit der Übung, die sie besaß - noch etwas ansehen. Er war eindeutig besoffen. Oder – bekifft.
»Sag mal, Baby, kann es sein, dass ich heute nicht die Erste war, die dich sozusagen ins Gras beziehungsweise Schnee beißen lassen hat?«
Baby – der Spitzname stammte noch aus Jims Zeiten vor Hogwarts, als Arabella in ihren Schulferien regelmäßig als Babysitter gearbeitet hatte, um ihr Taschengeld aufzubessern. Die vielbeschäftigten Potters hatten im gleichen Londoner Vorort wie sie gewohnt und waren froh gewesen, wenn Arabella sich für einige Stunden am Tag lang um den kleinen Jim gekümmert hatte. Bezahlt hatten sie auch nicht schlecht, soweit sie sich zurückerinnern konnte. Jim pflegte zu sagen, dass dieses frühkindliche Trauma sein ganzes Leben nachhaltig berührt hatte, sodass er gar nicht anders konnte, als so zu sein, wie er eben war: ein Kindskopf mit einem ausgeprägten Ideenreichtum für Sachen aller Art, mit denen man seinen Mitmenschen das Leben höchst unbequem machen konnte. Arabella enthielt sich bei diesem Thema jedes Kommentars. Manchmal war es aber auch ganz nützlich, Jim Potters Babysitterin gewesen zu sein. Einem gewissen Maß an Respekt konnte sie sich dadurch bei der gesamten Bande immer sicher sein.
Heute verzog Jim allerdings nur genervt das Gesicht.
»Blödsinn. Und lass dir mal was Neues einfallen. Siebzehn Jahre das Gleiche nervt unheimlich. Ach ja, übrigens – ich glaube, dein Baby liegt mit einem Psychokollaps in der Nähe vom Krankenflügel, wenn man einschlägigen Quellen trauen kann.«
Arabella zuckte wiederum erschrocken zusammen.
»Lily? Woher...«
»Keine Panik, die anderen wissen wahrscheinlich nicht mal, dass du überhaupt noch existierst. Nichts für ungut. Aber als Pokerface verschwunden war und ich dich gerade auf einmal über die Ländereien rennen sehen habe, ist mir so Einiges klar geworden.«
Nun war jeglicher Anschein von Rausch aus Jim Potters Augen verschwunden. Er fixierte sie klar, nüchtern – und abwartend.
Arabella zermarterte sich das Hirn, was sie jetzt sagen sollte. Was wusste Jim? Wie viel wusste er? Und was durfte er wissen?
»Jim-«
»Spar dir deinen Atem, Arabella.«, fiel Jim Arabella mit ungewöhnlicher Schärfe ins Wort. Schärfe, die sie vielleicht beide erschreckte, »Wenn du so anfängst, ist mir schon klar, dass du mir alles erzählen wirst – außer der Wahrheit, versteht sich.«
»Jim, bitte-«, setzte Arabella erneut – und vergeblich an.
»Ich bitte dich, Arabella!«, unterbrach er sie abermals heftig, »Ich weiß, dass du etwas weißt und ich werde mich nicht eher von der Stelle rühren, bis du es mir gesagt hast!«
Arabella verstand ein weiteres Mal an diesem Tag buchstäblich die Welt nicht mehr. Dieser Umstand trat irgendwie auffällig oft während der Zeit, die sie hier in Hogwarts verbrachte, auf – das solltest du vielleicht mal bedenken, meldete sich eine Stimme in ihrem Inneren mit einem Anflug von Sarkasmus.
Dann wandte Arabella sich wieder dem eigentlichen Problem zu: Jim. Sie brauchte unbedingt eine Abwimmelstrategie – möglichst sofort und vor allen Dingen möglichst wirksam. Denn von allein würde Jim wohl kaum wieder verschwinden, soviel stand fest. Ganz im Gegenteil. Der seltsam wilden Entschlossenheit seiner Augen nach zu urteilen, würde er nicht einmal davor zurückschrecken, sie k. o. zu schlagen und ihr danach Veritaserum literweise einzuflößen, nur um sein Ziel zu erreichen. Aber warum um alles in der Welt war ihm gerade das so wichtig? Er hatte doch mit Lily ungefähr so viel zu tun wie ein Diamantenkollier mit einem Kühlschrank.
Sie konnte ihm nichts sagen, selbst wenn sie gewollt hätte. Schon allein wegen Lily nicht. Und außerdem hatte sie auch gar nicht das Bedürfnis, das zu tun. Sie brachte Jim einfach nicht mehr das Vertrauen entgegen, das sie dafür benötigt hätte. Ihr „Baby" war ihr in all den Jahren entschieden zu fremd geworden. Wer wusste schon, was er wirklich im Schilde führte?
Ohne sich auf Vorurteile berufen zu wollen – auch sie hatte von dem Ruf gehört, der Jim und seiner Bande von Rumtreibern nahezu kilometerweit vorauseilte. Wahrscheinlich ging es sowieso nur um so weltbewegende Dinge im Sinne einer Wette oder etwa einer Mutprobe, bei der es für Jim galt, sein Gesicht vor seinen Spießgesellen nicht zu verlieren. In diesem Moment fand Arabella Jim einfach nur ungemein lästig. Sie wünschte sich, es würde etwas in der Größenordnung eines plötzlichen Erdrutsches oder so passieren, damit sie diesen bekifften Teenie endlich los war.
Besagter Halbwüchsiger verdrehte übrigens gerade betont genervt die Augen und verschränkte die Arme, was wohl eine abwartende Geste darstellen sollte. Genau in diesem Augenblick zerriss ein peitschender Knall die nächtliche Stille.
***
Seit sie nachdachte, war alles anders geworden.
Aufstehen, essen, arbeiten, schlafen, wieder aufstehen...bisher war sie diesem Kreislauf des Lebens gefolgt, ohne ihn groß zu hinterfragen. Ohne den eigentlichen Sinn dafür zu suchen. Bisher.
Es war ganz allmählich gekommen. Ganz langsam. Die Nachricht des Massakers in der Winkelgasse hatte nur den finalen Ausschlag dazu gegeben. War sozusagen der letzte kleine Stein gewesen, der die Lawine endgültig ins Rollen gebracht hatte.
Zuerst war es nur eine gewisse Angst gewesen. Angst vor dem, das die Erwachsenen als „das Leben" bezeichneten. Angst, bald auch dazuzugehören. Eine Angst, von der wohl jeder Teenager einmal heimgesucht wurde. Nur, dass sie sie nicht mehr losgelassen hatte – bis sie irgendwann Überhand genommen hatte.
Zum Beispiel, als die Namen der Opfer der Todesser bei der Gedenk- und Trauerfeier verlesen worden waren – Leute, die wie sie für dieses „Leben" geschuftet hatten. Und wofür? Damit sie früher oder später von ihren eigenen Artgenossen, die einfach nur Aufmerksamkeit oder die Qual der in ihren Augen Schuldigen wollten, ausgelöscht wurden? Vielen Dank auch.
Auch sie hatte ein Recht auf Aufmerksamkeit. Ein Recht auf Leben. Und sie würde zumindest einen Teil davon bekommen, auch ohne irgendjemanden Qualen bereiten zu müssen.
Quälen – wozu auch?
Aufstehen – wozu noch?
Atmen – wozu überhaupt?
Sie wusste noch genau, wie sie sich bei dieser Trauerfeier gefühlt hatte. Am liebsten hätte sie sich eine gottverdammte Decke über den Kopf gezogen, nur, um das alle nicht mehr anhören zu müssen. Dieses ganze Pseudo-Heile-Welt-Gelabere von wegen „The Show must go on"– wenn überhaupt, dann künftig ohne sie.
Diesmal würde sie nicht mehr zögern. Sie würde es durchziehen. Einmal den Mut aufbringen, den ihre einst gleiche Seele jederzeit gehabt hätte. Nun konnte sie sich diesen Wunsch endlich erfüllen. Sie spürte eine seltsame Leere, als sie in ihr Bett kroch.
Obwohl das Mittel bestimmt schon wirkte, nahm sie seine lähmende Wirkung gar nicht wirklich wahr. Viel mehr fühlte sie sich auf eine unbeschreibliche Art und Weise gelöst wie ein Neugeborenes in seinem ersten friedlichen Schlaf.
Als sie gänzlich unter ihrer lang ersehnten Decke verschwand, war ihr, als fiele der Vorhang der Tragikomödie, die einmal ihr Leben dargestellt hatte. Er schloss sich, um sich nie wieder zu heben. Es wurde dunkel.
Die Party war vorbei.
***
Arabella blinzelte überrascht. Sie war viel zu sehr geschockt, um auch nur ansatzweise so etwas wie Angst zu empfinden.
Sollte sie jemals irgendwann einmal wieder nichts zu tun haben, würde sie sich bei einem dieser Muggelinstitute zu Hause in New York informieren, wie hoch die statistische Wahrscheinlichkeit war, so viele Zufälle an einem Tag zu erleben.
Zudem beschäftigte sie noch etwas ganz anderes. Es war auf Hogwarts und seinen Ländereien schlicht und einfach unmöglich zu apparieren. Weder mit diesem ungewohnten Knallgeräusch, noch ohne. Und trotzdem hatte diese vermummte, dunkle Gestalt genau jenes geschafft.
Mittlerweile hatte sie beziehungsweise er sich von Arabella abgewandt und redete eindringlich auf den nicht minder erstaunten Jim ein. Sie sprachen zu leise, als dass Arabella etwas verstanden hätte, doch Jim schien den Mann mit der Kapuze allem Anschein nach zu kennen. Und – was noch wichtiger und ebenso verwunderlich war – einen Heidenrespekt vor ihm zu haben. Denn nach einem kurzem Wortwechsel mit dem Mann hob Jim nur noch einmal leicht die Hand, nickte Arabella zu und verschwand dann in Richtung Schloss. Ohne den geringsten Widerstand. Arabella kam seit den letzten Minuten einfach nicht mehr aus dem Staunen heraus.
Der Kapuzenträger kam langsam auf sie zu. Sie waren allein. So sehr sie sich bemühte, mit der dunklen Robe und der Finsternis der Nacht war es ihr schier unmöglich, sein Gesicht zu identifizieren. Doch seltsamerweise hatte sie immer noch keine Angst. Trotzdem tastete sie ein weiteres Mal an diesem Abend nach ihrem Zauberstab.
Der Mann stand nun so dicht vor ihr, dass sie glaubte, seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht zu spüren. Arabella spannte sich instinktiv. Nur eine Bewegung und sie hätte ihn außer Gefecht gesetzt...
»Ich muss mich dem jungen Potter anschließen – auch ich hätte ehrlich gesagt einen anderen Empfang von dir erwartet.«
Arabella schrak zusammen. Diese Stimme...so fremd und doch so vertraut...
Mit zitternden Fingern griff sie nach der Kapuze des vermeintlich Fremden und zog sie ihm mit einem Ruck vom Gesicht. Sie hatte sich nicht getäuscht. Vor ihr stand niemand anderes, als der einzige Mensch, den sie mit jeder Faser ihres Körpers genauso geliebt hatte, wie er ihr verhasst gewesen war: Lear McKinnon. Wie lange war es jetzt wohl her, dass...?
»Ich sehe, unser Erkennen beruht auf Gegenseitigkeit.«, murmelte Lear mit seiner rauen Stimme. Er klang gerade ungefähr so wie das Schnurren eines zufriedenen Katers.
Dann folgte Stille. Sie standen einfach nur da und sahen sich gegenseitig an. Schweigend, weil sie beide spürten, dass jedes einzelne Wort den Zauber des Moments gebrochen hätte.
Arabella hätte nie geglaubt, wie aufregend es sein konnte, seinen Gegenüber so zu betrachten. Seine Blicke streiften sie wie heiße Lava, jagten ihr eiskalte bis wohligwarme Schauer über den Rücken, während sie nur den Mustern seiner Augen folgte. Selbst in der Dunkelheit schienen diese noch zu strahlen – einfach alles an ihm war eben katzengleich. Anmutig. Graziös.
Irgendwann – nach Stunden, Tagen, einer Ewigkeit – hob Lear die Hand, küsste seine Fingerspitzen und drückte dann seinen Zeigefinger Arabella unglaublich sanft auf die Lippen.
»Ich muss gehen...«, hauchte er nahe an ihrem Ohr, »...aber wenn du willst...später wieder hier? Ich werde da sein.«
Damit drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit. Der Schein des Mondes folgte ihm und die Sterne säumten seinen Weg.
Arabella beneidete sie.
***
»Lily?«
Laute. Oder Töne, die wir durch einen dichten Nebelschleier an ihr Ohr drangen. So nah und gleichzeitig Lichtjahre von ihr entfernt.
»Lily? Lily?! LILY!«
Schreie, die den Schleier brutal zerfetzten – ebenso wie ihr Trommelfell oder zumindest fühlte es sich so an. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, begannen auch noch zwei starke Arme schraubstockfest ihre Schultern zu packen und sie mit weit mehr als nur sanfter Gewalt zu schütteln.
Lily zwang sich, die Augen wieder zu öffnen und blickte direkt in die strahlenden Augen von Lear McKinnon. Sein Gesicht war so...nah...
Lily konnte jeden einzelne Farbabstufung seiner graugrünen Augen gestochen scharf beobachten. Roch seinen Duft intensiver als je zuvor...
»Lily! Hör mir zu! Ich weiß, dass es schwer ist – aber du darfst nicht zulassen, dass es Gewalt über dich erlangt!«, sagte Lear eindringlich und sah sie beschwörend an. Graugrün wie das der von Raureif bedeckten Blätter am frühen Morgen. Aber sonst...
Keine Gewalt erlangen lassen? Der war gut. Selten so gelacht, ehrlich.
Die Vergangenheit hatte sie doch schon längst eingeholt. Wenn nicht sogar schon verschlungen oder zumindest wieder eingefangen. Erdrückt mir der Schuld, die auf ihr lastete...
Doch Lily ahnte nicht, wie weit die Vergangenheit schon wieder an Realität gewonnen hatte. Zuerst wurde ihr Gedankenfluss noch von einem lauten Knarren der Tür unterbrochen.
Verantwortlich dafür war eine atemlose Madam Pomfrey, die Lear mit einem Entsetzen ansah, wie es Lily angesichts ihrer sonstigen unerschütterlichen Ruhe nie für möglich gehalten hätte.
»McKinnon – schnell – Eleanor O'Jigg – sie ist – sie hat sich selbst – tot...«, brachte sie keuchend hervor.
Lear taumelte, fing sich aber sofort wieder und rannte mit weitausholenden Schritten aus dem Zimmer. Die Krankenschwester folgte ihm völlig außer Atem.
Und Lily fühlte sich zum zweiten Mal an diesem Tag, als ob man ihr mit aller Macht einen Faustschlag in den Magen verpasst hätte.
***
Lear würde der Letzte sein, der den Friedhof vor seiner endgültigen Versiegelung verlassen würde. Er war der Letzte, der das über und über mit Blumenkränzen geschmückte Grab in seiner vollen Pracht sah. Unverwelkt.
Die Atmosphäre der Trauerfeier war erdrückend gewesen. Selbst jetzt noch schien das leise Weinen zwischen den unzähligen Grabsteinen wiederzuhallen, ebenso wie das stumm anklagende „Warum?", von dem die Beerdigung überschattet gewesen war. Zugegeben berechtigterweise. Niemand konnte sich diesen Vorfall erklären.
Als Lear sich hinunterbeugte, um seinen Blumenstrauß auf einen der spärlichen freien Flecken Graberde zu legen, saugten sich seine Pupillen unwillkürlich an dem zierlichen Marmorgrabstein fest.
Eleanor Angelique O'Jigg
1963 – 1980
Ein großes Fragezeichen dahinter wäre passend gewesen. Es hatte keinen Grund gegeben, wirklich nicht. Jeder aus dem Umfeld des Mädchens hatte das bestätigt.
Jeder? Nun, nicht wirklich.
Die Ecke einer Pergamentrolle, die ansonsten gut versteckt hinter einem besonders mächtigen Kranz hervorlugt, ließ Lear stutzen. Einige Sekunden kämpfte er mit seinem Gewissen, dann zog er das Pergament hervor, entrollte es und begann zu lesen:
»Mein Herz, meine Seele, meine Vertraute,
heute haben wir dich begraben.
Nein, nicht wir.
Sie haben dich begraben.
Ich war nicht dabei.
Zu Anfang der Trauerfeier war ich noch da. Natürlich. Es bestand Anwesenheitspflicht. Allein dieser Umstand hätte mich normalerweise dazu gedrängt, genau das Gegenteil zu tun. Anwesenheitspflicht – auf einer Beerdigung.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass es in Hogsmeade so etwas wie einen „Zaubererfriedhof" gibt. Religion in der magischen Welt?
Ich wusste so vieles nicht. Diese Ähnlichkeit mit einem dieser Beerdigungen der Muggel – in diesem Bereich kommen mir die Zauberer wirklich selten einfallslos vor. Ein Priester, eine Trauergemeinde, ein Grab – nur, dass nach der Friedhof nach der Veranstaltung bis zur nächsten Beerdigung versiegelt wird, sodass ihn niemand mehr betreten kann. Auch eines dieser vielen Gesetze, deren Sinn ich nicht nachvollziehen kann.
Blumen. Natürlich gab es auch Blumen. Jeder Teilnehmer der Beerdigung hatte seinen Beitrag dazu leisten müssen. Jeder eine gottverdammte Blume in den Händen. Niemand von denen hätte kommen dürfen. Überhaupt niemand. Nicht einmal ich. Aber ich bin ja auch gegangen. Die anderen sind dort geblieben.
Wie sie überhaupt schon alle aufgekreuzt waren. Zusammengerottet in Gruppen, die Masse, nicht wenige, die sich davor noch schnell mit Süßigkeiten eingedeckt hatten. Die Masse, die später einmal zu denen werden würden, die dich jetzt auf dem Gewissen haben.
Der Priester hat gesprochen. Dumbledore hat gesprochen. Ebenso sinnlos wie alles andere. Was hat Dumbledore schon über dich gewusst? Oder hatte etwa dieser bezahlte Priester auch nur die leiseste Ahnung von deinem Leben? Deinen Gefühlen? Dass ich nicht lache. Eigentlich müsste diese Welt an all ihren Widersinnigkeiten schon zerbrochen sein.
Man ist kein Träumer, wenn man ist, was man ist. Man ist ein Träumer, wenn man sein will, was man nicht ist.
Nur, wie kommt es dann, dass scheinbar alle Träumer, die noch übriggeblieben sind, die Welt verlassen haben? Erst John, jetzt du – und all die anderen vor euch. Ich will nicht allein bleiben!
Mein Herz, meine Seele, meine Vertraute.
Ich glaube, es geht dir besser, jetzt, wo du da bist.
Ich weiß nicht, ob du geglaubt hast - Dummkopf, der ich bin.
Natürlich hast du geglaubt. Jeder Mensch glaubt. Und wenn es nur an sich selbst ist.
Ich weiß, dass es so ist.
Wie fühlt sich das an, keinen Ausweg mehr zu sehen?
Du hörst erst auf, zu leben, wenn du aufhörst, zu glauben.
Ich glaube an gar nichts mehr. Ich will nicht mehr suchen, suchen, suchen – nach einem Ziel, dass ich nicht kenne, dass ich sowieso nie erreichen werde, das vielleicht nicht einmal existiert?!
Wie fühlt sich das an, keinen Sinn mehr zu sehen?
Ich hätte nie geglaubt – allein dieses Wort in diesem Zusammenhang niederzuschreiben, zeigt doch nur einmal mehr das Groteske an der ganzen Schöpfung – dass du fähig wärst, dies alles zu empfinden. Ich habe geglaubt, du bist glücklich hier. Glücklich – kannst du dir das vorstellen?!
Diese Fragen stelle ich nicht dir. Nicht mir. Ich weiß, wie dieses Gefühl, nichts mehr zu fühlen ist. Von der Last der Schuld, die nie vergeben sein wird, erschlagen zu werden. Dass du es auch gewusst hast, hätte ich nie zu vermuten gewagt. Dummkopf, wie gesagt.
Mein Herz, meine Seele, meine Vertraute...
Ich werde dich nicht noch einmal allein lassen.
Ich werde dir folgen –
- in jeder Todesanzeige würden die nächsten Worte jetzt „eines Tages" lauten. Aber ich habe nicht die Absicht, im Sinne eines Klischees zu handeln. Das Einlösen meines Versprechens wird nicht bis zur Notwendigkeit andauern.
Es gibt nichts ohne Traurigkeit, sie ist so tief, dass ich sie nicht ergründen kann, sie ist so tief, dass ihre Tränen mich zu einem Betrachter meiner eigenen Dummheit machen. John.
Ihre Tränen, ungeweint bis jetzt, werden mich zu dir führen. Sie haben die Farbe, die du geliebt hast – die Farbe der untergehenden Sonne. Die Farbe des dunklen Rosenstrauches. Riechst du den Duft, meine Seele? Er ist so nah, so intensiv – im Frühling war es, im Frühling, wenn alles erblüht, die Fröhlichkeit den ewigen Kampf mit der Trauer führt. Spürst du seine Dornen, mein Herz? Der Strauch wird mich geleiten. Er tanzt, er strahlt, er duftet - allein sein Aroma scheint das kalte Weiß um mich herum zu füllen. Zu färben.
Die Farbe ihrer Tränen ist rot.
Und sie werden mir den zu dir Weg weisen.«
Stirnrunzelnd ließ Lear das verknitterte Pergament sinken. Für einen Augenblick schien er wie gelähmt, während sein Gehirn nahezu auf Hochtouren arbeiten zu schien. Trotzdem konnte er keinen einzigen klaren Gedanken fassen.
Dann, von einer Sekunde auf die andere, fiel die Regungslosigkeit ein Kokon von ihm ab.
Und diesmal hatte er einen klaren Gedanken, während er rannte –
- Lily!
***
Hagrid ruhte wie eine mächtige Eiche im Schatten seiner Hütte. Für jeden anderen mochte es so aussehen, als ob er nach getaner Arbeit einfach nur die letzten Sonnenstrahlen genießen würde, doch eigentlich hatte sein Dasein einen ganz anderen Sinn. Tiefer, als man sich auch nur vorstellen konnte. Geistesabwesend streichelte er Fang, der müde neben ihm lag und döste.
Dumbledore hatte keine andere Wahl gehabt. Nicht mit dieser Juke an seiner Seite. Nicht nach der Drogengeschichte und jetzt auch noch dem erneuten Selbstmordversuch. Das verstand er, ja. Und Hagrid rechnete ihm es auch hoch an, dass er, Dumbledore, es ihm sofort gesagt hatte, nachdem die Entscheidung gefällt worden war. Hagrid hatte nie verstanden, wozu eine vermeintliche Schonung, die darin bestand, dem Betreffenden allerhand zu verschweigen, gut war. Dumbledore schien wenigstens darin wohl so ähnlich zu denken wie er.
Das Schlimmste, das geschehen hatte können, war eingetroffen. Schlimm genug, dass Dumbledore nun eben gezwungen war, sie fortzuschicken – warum musste es unbedingt Glastonbury sein? Warum musste er um alles in der Welt von tausend anderen sogenannten Reha-Institutionen ausgerechnet Glastonbury wählen? Erst einmal von den schützenden Mauern Hogwarts' entfernt, würden die anderen ein leichtes Spiel mit ihr haben.
Hagrid musste etwas tun. Er konnte ihr nicht helfen, aber wenigstens ein kleines bisschen des Schutzes garantieren, den man ihr von nun an verwehren würde. Das Ritual würde zwar dauern, doch es würde helfen...
Glastonbury. Früher hatte man es anders genannt. Aber dieser Ort hatte schon seit jeher viele verschiedene Namen gehabt. Doch, was war schon ein Name? Würden die Rosen einen anderen Namen tragen, würden sie doch ebenso duften. Die einstige Hochburg der Magie. Die einstige gläserne Insel – die Insel der Apfelbäume.
Lily...
Die Herrin vom See würde also zurückkehren. Und Hagrid ahnte dunkel, dass man sie dort auch dementsprechend empfangen würde.
***
Arabella hätte sich beinahe nicht daran erinnern können, wie schön es war, in jemandes Armen zu liegen. Dieses unbeschreibliche Glücksgefühl. Wohlbehagen. Sie konnte Lears Körper spüren. Seine Wärme. Seine regelmäßigen Atemzüge. Das Schlagen seines Herzens...
Eigentlich hätte sie nach all den Geschehnissen ihrer vergangenen Jahre behaupten müssen, er könne gar keines besitzen. Die Realität schien sie aus ganzem Herzen zu verspotten, wie sie es eben oft und gerne tat...
Heut war ihr egal, für wen dieses Herz schlug. Wenn überhaupt. Ein Platz darin würde dort immer für sie reserviert bleiben – sie hatte es gespürt und spürte es immer noch. Ihr Gefühl trog sie nur selten. Und dieses Mal sicher nicht...
Unwillkürlich musste sie lächeln, als sie Lear liebevoll betrachtete. Selbst im Schlaf sah er noch aus wie ein Kater, einer von der Sorte, die sich gerade hoch zufrieden einen Rest Sahne aus den Barthaaren geleckt hatten...
Arabella fröstelte plötzlich. Obwohl Lear doch eigentlich tief und fest schlief, intensivierte er, kaum dass sich dieser Gedanke hinter ihrer Stirn gebildet hatte, seine Umarmung. Arabella schmiegte sich dankbar an seinen warmen Körper. Mit manchen Problemen war es so einfach. Andere dagegen...
Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Nicht das bohrende Gefühl mit der flammenden Aufschrift SCHULD zulassen, das irgendwo weit weg an ihrem Gewissen nagte.
Der Moment gehört ihnen und wen interessierte schon die Zukunft?
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A/N: Da man ja außer dem Disclaimer, der auch nur besagt, dass ich mich dem geistigen Eigentum mehrerer Personen (genauer im 1. Kapitel) bemächtigt habe, noch nicht wirklich viel von mir gehört hat...ist es mal an der Zeit, euch von meinen Laberqualitäten zu überzeugen, glaub ich ;-)...
Ach ja, wo wir gerade bei Disclaimer waren: Einigen, die ein bestimmtes Buch kennen, wird es vielleicht aufgefallen sein, ich erwähne es aber meiner rechtlichen Lage wegen *ggg* lieber trotzdem: Dieses Kapitel ist ziemlich von dem Buch „Die Sache mit Christoph" von Irina Korschunow (wie kommt man nur auf so einen Namen?) inspiriert...im Klartext, ich hab der Dame ihre guten Ideen schamlos geklaut ;-))...und das Rosen-Zitat, das ich bei Hagrid gerade „verwurstet" hab, stammt (eigentlich *g*) von Shakespeare...
Aber jetzt...aaaalso...
...Danke, danke, danke, dankeschön für alle bisher erhaltenen Reviews...ich liebe sie, aber wer tut das nicht?! Trotzdem wär es ganz lieb von euch, wenn ihr mich weiter damit zuschütten würdet ;-)))...
...Einiges zur Story selbst (mit Beseitigung einiger Unklarheiten bei – teilweise zwar schon uralten, aber naja – Reviews):
...Angelegenheit numero uno: Lily ist ja adoptiert worden, da ihre richtigen Eltern (die es super fanden, dass sie eine Hexe ist) von Voldemort getötet wurden. Bei ihren Adoptiveltern ist die Sachlage – wie man ja aus der Story entnehmen kann – leider komplett anders. Auf die uneheliche Geburt Lilys, die im letzten Kapitel mehrmals erwähnt wurde, gehe ich in den folgenden Kapiteln noch mal näher ein. Bis dahin sind eurer Phantasie keine Grenzen gesetzt *fg*...
...Angelegenheit numero due: Ich weiß, dass Harrys Vater James Potter heißt, aber mir gefällt der Name einfach nicht so und außerdem ist noch niemand auf die Idee gekommen, den Leuten mal „normale" Ruf- bzw. Spitznamen zu geben. Ich glaub nämlich nicht, dass sich die Rumtreiber mit „Prongs" und „Moony" so in der Öffentlichkeit angeredet haben – deshalb also Jim.
...kommen wir nun zu den aktuelleren Dingen...
...ich liebe euch doch auch alle, meine geliebten Reviewäää ;-)))
...ich habe mich dazu entschlossen, wenigstens zwei meiner Fast-OC's ein wenig näher zu „beleuchten", sag ich etz mal...eine davon (also Arabella) hatte aber mehr Glück als die andere (siehe Eleanor...)
...die allgemeine Verwirrung in meiner Story ist zugegeben nach wie vor immer noch groß, aber ich verspreche hoch und heilig, dass sich zum Schluss alles auflösen wird *fg*...ja, ich habe gerade wirklich Schluss geschrieben, das heißt also, ich beabsichtige allen Ernstes, das Teil hier fertig zu schreiben...bin ja mal gespannt, ob ich mit der benötigten Zeit dafür ins „Guiness Buch der Rekorde" komme...^^
Ach ja, wo wir gerade beim Stichwort sind, da wäre ja noch...
...Angelegenheit numero tre: Mein auffällig unauffälliges Update-Verhalten, für das man mich eigentlich prügeln könnte ;-). Nur ein Beispiel: Abstand zwischen Kapitel 4 und 5: ein gutes halbes Jahr. Typischer Fall von Writer's Block und Zeitmangel. Kreatives Loch. Oder so. Aber ich werd mich in Zukunft echt bemühen, so schnell wie möglich in meine Tastatur zu hämmern. Und um mal die „Erpresserstrategie" auszuprobieren: Reviews tragen natürlich Einiges zur Schnelligkeit bei ;-p. Scherz. Mein Humor ist noch schlimmer als der von Punster McKinnon.
Naja, was soll's.
In diesem Sinne: keep on r'n'r. I will keep on writing.
Peace. Out.
Yours Ipeca xxx
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