Kapitel Vier - Das Ritual und der Traum

"Es tut mir leid, aber mir wäre es lieb, wenn ihr jetzt geht", sagte Harry gegen acht. "Ich würde gerne über das Ritual nachlesen."

"Viel Glück", sagten Fred und George und deuten auf ihre gekreuzten Finger. Dann disapparierten sie.

Bill, Mr und Mrs Weasley wünschten ihm ebenfalls Glück und gingen.

Ginny sah blass aus. "Alles wird gut gehen", murmelte sie.

Remus legte einen Arm um sie. "Wir können nur noch hoffen", sagte er. "Harry muss das alles alleine durchstehen. Wir können ihm nicht helfen."

"Harry", sagte Ron feierlich, "wir werden hier warten, bis du wiederkommst, und wenn es die ganze Nacht dauert."

"Das wird es wahrscheinlich", sagte Hermine. "Denk an Kingsley - er hat zuerst das Ritual durchgeführt und dann hatte er diesen Traum. Aber ehrlich, Harry, wir werden morgen hier sein. Lass uns nicht zu lange warten, in Ordnung?"

"Wünscht mir Glück", flüsterte Harry. Je näher das Ritual rückte, desto schwächer fühlte er sich. Was wenn Yehudiah ihm nicht zuhörte? Was wenn Hermine und Remus unrecht hatten und Sirius' Tod doch rechtens gewesen war? Was wäre, wenn...

Harry brach den Gedanken ab. Er würde nicht nachgeben, nicht jetzt, nicht wenn es auch nur die mindeste Chance gab, dass es funktionieren würde.

"Viel Glück, Harry", sagte Remus und umarmte ihn kurz mit einem Arm. Ginny und Hermine küssten ihn beide auf die Wange und Ron, der sehr blass aussah, gab ihm einen Schlag auf die Schulter.

"Mach's gut, Mann", sagte er heiser. "Vermassel's bloß nicht..."

Harry grinste ihn schwach an und verließ den Raum.

Als er sein eigenes Zimmer betrat war das erste, was er sah, das Buch, das auf seinem Bett lag. Er ging hin, streckte widerstrebend die Hände aus und nahm es. Dann öffnete er es und blätterte die Seiten durch, um Yehudiah zu finden. Namen, die er irgendwo mal gehört und längst wieder vergessen hatte, sprangen ihm ins Auge. Michael... Gabriel... Raphael... Uriel... Hagiel... Cassiel... Azrael... Tzaphkiel... Zadkiel... Metatron... Lailah... Asariel... Camael... Yehudiah!

Harrys Finger und Lippen begannen zu zittern als er sich hinsetzte und anfing, die Passage über Yehudiah zu lesen:

Der Verlust eines Partners, Verwandten oder engen Freundes kann eine sehr schmerzvolle Erfahrung sein. Zunächst fühlen wir einen tiefen Verlust, denn ein Teil unseres Lebens ist Vergangenheit geworden. Haben wir alles gesagt und getan, was wir konnten? Hat die Person gewusst, wie sehr wir sie geliebt haben? Haben wir sie genug geliebt? Wenn jemand "vor seiner Zeit" stirbt, durch einen Unfall oder eine Krankheit, dann scheint das Leben besonders grausam und sinnlos. Der Trauernde kann vielleicht sogar die Existenz Gottes in Frage stellen, als ob der Tod der Beweis für die Sinnlosigkeit des Lebens sei. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es Mysterien im Leben gibt, die wir nicht verstehen. Wenn Gebete oder Gedichte die Wunden der Trauer nicht zu schließen vermögen, können wir vielleicht Trost in den alten Überlieferungen über die Unsterblichkeit der Seele finden. Der Engel Yehudiah kann bis zu 49 Tagen - so lange kann es dauern, bis eine Seele ins andere Reich übertritt - nach dem Tod der Person angerufen und darum gebeten werden, der Seele eine sichere Reise zu garantieren. Yehudiah kann auch den Schmerz lindern, und es gibt Fälle, in denen derjenige, der den Engel rief, schwor, dass er die Person, die er verlor, wiedersah. Das Ritual zur Anrufung Yehudiahs ist das folgende:

Nehmen Sie ein Bad. Geben Sie etwas Salz in das Badewasser; Salz reinigt Körper und Seele. Trocknen Sie sich mit einem weißen Handtuch ab und reiben Sie sich mit etwas Lilienöl ein, dann ziehen Sie einen weißen Bademantel an. Entzünden Sie eine weiße Kerze zu Ihrer Rechten und eine schwarze zu Ihrer Linken. Legen Sie drei weiße Lilien vor sich hin und verbrennen Sie daneben etwas Weihrauch. Denken Sie die ganze Zeit an die Person, die Sie verloren haben. Ergeben Sie sich der Trauer, die Sie fühlen, und lassen Sie alles heraus. Dann nehmen Sie ein Blatt sauberes, weißes Papier und schreiben Sie den Namen der Person, um die Sie trauern, mit einem Federhalter oder einer richtigen Feder darauf. Benutzen Sie schwarze Tinte. Wenn Sie in griechischen Buchstaben schreiben, wird das Yehudiah sehr freuen, und er wird sich Ihnen noch eher zeigen. Verbrennen Sie die Hälfte des Papiers in der Flamme der schwarzen Kerze und die andere Hälfte in der weißen, dann werfen Sie die Asche zu dem Weihrauch. Schließen Sie Ihre Augen und stellen Sie sich die Person, die Sie verloren haben, bildlich vor. Denken Sie so sehr an ihn oder sie, dass Sie glauben, Sie könnten sie neben sich stehen spüren. Dann flüstern Sie dreimal Yehudiahs Namen, sagen ihn dann dreimal in normaler Lautstärke und flüstern ihn dann nochmals dreimal. Wenn Sie jetzt die Augen öffnen, werden Sie eine schöne, strahlende Gestalt dort stehen sehen, wo Sie Ihren verlorenen Freund in Gedanken gesehen haben. Verbeugen Sie sich vor ihm und sagen Sie "Ich heiße dich willkommen, Yehudiah, Engel der Trauer und des Schmerzes." Dann bitten Sie ihn um das, was Sie wollen. Vielleicht antwortet er nicht, aber Sie werden wissen, was er Ihnen zu sagen hat. Wenn Sie keine Fragen mehr haben, verbeugen Sie sich nochmals und sagen Sie, "Ich danke dir, Yehudiah, Engel der Trauer und des Schmerzes." Er wird dann langsam verschwinden. Sie werden sich nun besser fühlen. Lassen Sie die Kerzen herunterbrennen und werfen Sie die Überreste zusammen mit den Lilien und dem Weihrauch am nächsten Morgen bei Dämmerung in ein fließendes Gewässer, am besten in einen Fluss.

Harry ließ das Buch sinken. Das alles erschien ihm mächtig abergläubig. Er bezweifelte, dass jedem Muggel, der das bereits versucht hatte, der Engel auch wirklich erschienen war. Das ganze Buch schien sehr esoterisch zu sein, und dafür hatte Harry noch nie einen Sinn gehabt. Aber es hatte Kingsley geholfen, also müsste es ihm auch helfen können - auch wenn es ein Muggelbuch war.

Harry stand auf und verließ das Zimmer. Er hoffte, dass er seine Freunde nicht im Flur treffen würde, da er das Ritual unbedingt anfangen wollte, und er hatte Glück. Er fand Mrs Weasley allein in der Küche und fragte sie, ob sie all die Dinge, die er brauchte, im Haus hatte. Mrs Weasley nickte, verließ die Küche und kehrte fünf Minuten später mit zwei Kerzen, drei weißen Lilien und einer kleinen Schale Weihrauch zurück.

"Die musste ich von der Kirche in Ottery St. Catchpole rufen", sagte sie und zwinkerte ihm zu. "Ich hoffe, dass kein Muggel sie übers Dorf hat fliegen sehen."

Sie gab ihm die Sachen. Harry war schon auf dem Weg aus der Küche, als er sich noch einmal umdrehte.

"Ähm... Mrs Weasley... die Frage ist mir ein bisschen peinlich... haben Sie zufällig einen weißen Bademantel?"

Mrs Weasley musste lachen. "Ich finde einen, kein Problem, mein Lieber", sagte sie und verschwand wieder. Als sie zurückkam, hatte sie einen weißen Bademantel über dem Arm. "Er ist frisch gewaschen", sagte sie. "Er ist nicht mehr neu, ich glaube, es ist der alte von Bill..."

"Der wird reichen." Harry bedankte sich und ging wieder nach oben. Er bereitete alles vor, nahm dann ein weißes Handtuch aus seinem Koffer und ging ins Bad. Er nahm das Bad und befolgte alle Anweisungen. Als er in sein Zimmer zurückkam, zündete er die Kerzen und den Weihrauch an und setzte sich zwischen den Kerzen auf den Boden. Die ganze Zeit hatte er Bilder von Sirius in seinem Kopf, und seine Augen füllten sich wieder mit Tränen. Er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass das vom Rauch und vom Weihrauch kam, aber er wusste, dass es nicht so war. Aber wie hatte es in dem Buch geheißen... Ergeben Sie sich der Trauer und lassen Sie alles heraus...

Harry schrieb den Namen Sirius Black auf ein Blatt Papier (er kannte das griechische Alphabet nicht, aber er hoffte, dass Yehudiah auch das gute alte lateinische lesen konnte). Eine Träne tropfte auf die Schrift und verwischte Sirius' Vornamen, aber Harry war das egal. Er verbrannte das Papier in den beiden Kerzen und warf den Rest zu dem Weihrauch. Dann schloss er die Augen, holte tief Luft und begann zu rezitieren:

"Yehudiah... Yehudiah... Yehudiah..."

Plötzlich regte sich ein sehr seltsames Gefühl in ihm. Er fühlte einen Luftzug, obwohl kein Fenster in seinem Zimmer offen war und die Tür ebenfalls ge- und verschlossen war. Und trotzdem war da ein warmer Wind in seinem Zimmer, der ihn sanft berührte, und auf einmal fühlte Harry sich getröstet.

"Yehudiah... Yehudiah... Yehudiah..."

Er fühlte sich beobachtet, aber es war kein alarmierendes oder ungemütliches Gefühl. Er glaubte, Sirius neben sich stehen zu fühlen und erwartete fast, dass er auf seine übliche, beiläufige Weise eine Hand auf Harrys Schulter legen würde.

"Yehudiah... Yehudiah... Yehudiah."

Harry traute sich nicht, die Augen zu öffnen. Er hatte Angst vor dem, was er sehen könnte... ob nun ein Engel dastand oder Sirius oder niemand... aber irgend jemand war da... er wusste es, er wusste es einfach.

Harry machte die Augen auf und sah -

****

Niemanden. Nicht links von ihm und nicht rechts von ihm. Er musste es sich eingebildet haben, nachdem er diesen Luftzug, der von überall her gekommen sein konnte, gefühlt hatte, und seine Phantasie hatte den Rest erledigt. All diese Eindrücke, das Gefühl, beobachtet zu werden, das Gefühl, dass Sirius ihm wirklich nahe war, dass Yehudiah ihn gehört hatte und drauf und dran gewesen war, sich zu materialisieren (oder wie auch immer man das nannte, wenn ein Engel erschien)... Harry war so enttäuscht, dass er am liebsten geschrieen hätte. Aber seltsamerweise war ihm nicht nach Schreien zumute. Jedes Mal, wenn er versuchte zu denken 'Alles umsonst, er wird nicht zurückkommen', dann konnte er es nicht. Obwohl kein Engel da war, der ihm sagte wohin er gehen musste, fühlte er sich getröstet und entspannt.

Plötzlich bemerkte Harry noch etwas anderes, und sein Herz machte einen Satz. Etwas hatte sich verändert. Da waren drei weiße Lilien neben dem Weihrauch gelegen, genau wie in dem Buch beschrieben. Aber jetzt waren es nur noch zwei. Eine der Blumen war einfach verschwunden. Harry sah sich um, weil er dachte, der Luftzug hätte sie vielleicht quer durch das Zimmer geweht, aber es war keine Spur von ihr zu sehen. Sie war weg.

Harry rieb sich die Augen. Seine Augenlider fühlten sich plötzlich an, als ob sie aus Blei wären. Er war so müde, dass er kaum aufstehen und die Kerzen ausblasen konnte. Der Weihrauch brannte noch, und Harry löschte ihn mit ein paar Tropfen Wasser aus Hedwigs Trinknapf. Dann legte er sich ohne sich auszuziehen aufs Bett und war ein paar Sekunden später schon fest eingeschlafen.

****

Harry ging über eine Wiese, die ihm vage bekannt vorkam. Nach ein paar Sekunden erkannte er sie als die Wiese im Verbotenen Wald, auf der Hagrid sie manchmal in Pflege Magischer Geschöpfe unterrichtete. Seine Füße bewegten sich schnell über das Gras, berührten es kaum, und Harry spürte Regentropfen zwischen seinen Zehen. Die Sonne ging im Westen unter und malte die schönsten Farben in den Himmel, die Harry je gesehen hatte. Er ging in die Richtung dieses Lichtes, weiter und weiter nach Westen. In einiger Entfernung sah er eine Gestalt, näher kommen. Sie sah wie ein großer, ganz in Weiß gekleideter Mann aus, der von innen heraus in einem warmen, weißen Licht zu leuchten schien, das unglaublich hell aber gleichzeitig so weich war, dass es Harrys Augen nicht blendete. Als er näher kam, bemerkte Harry, dass er nicht ging sondern eine Handbreit über dem Boden schwebte. Das Gras und die Blumen bewegten sich, wenn er vorbei kam; Harry schien es fast, als ob sie sich vor ihm verneigten. Harry stand ganz still und sah, wie die Gestalt näher und näher kam. Er sah jetzt, dass es ein großer und schlanker, aber dennoch starker Mann in weißen Gewändern war. Er hatte ein hübsches Gesicht, das von einem Paar warmer, dunkelblauer Augen dominiert wurde, und langes Haar von einer Farbe, die Harry nicht genau bestimmen konnte. Je nachdem, wie das Licht darauf schien, schien es manchmal blond, manchmal braun zu sein. Das Licht, das ihn umgab, war hinter seinen Schultern am hellsten, und wenn Harry sich darauf konzentrierte, dann glaubte er, die Umrisse von etwas anderem in diesem Licht zu sehen... vielleicht ein Paar Flügel...

Die Gestalt erreichte Harry und blieb stehen. Harry sah ihn an und der Engel erwiderte seinen Blick ruhig. Ohne jeden Zweifel wusste Harry, dass es sich um Yehudiah handelte. Er versuchte sich an die Worte zu erinnern, die er jetzt sagen sollte, aber sein Kopf war völlig leer. Alles was tun konnte war, den Kopf zu neigen, was er auch tat.

Als er wieder aufsah, lächelte Yehudiah. Es war ein sehr freundliches und zärtliches Lächeln, das Harrys Nervosität einfach beiseite wischte. Yehudiah richtete seine schönen Augen auf Harry und begann zu sprechen, oder wenigstens glaubte Harry das. Er sah, wie sich Yehudiahs Lippen bewegten, doch er schien die Worte direkt in seinem Kopf zu hören. Er verstand die Sprache nicht, der sich der Engel bediente, noch hätte er beschreiben können, wie seine Stimme klang. Und doch wusste er, was Yehudiah ihm erzählte. Worte des Trostes, Worte der Hoffnung... und noch etwas anderes. Harry konnte praktisch fühlen, wie eine Art Wissen ihn ausfüllte, das Wissen, wohin er gehen und was er tun sollte, sobald er am nächsten Morgen aufwachte.

Yehudiah hörte auf zu sprechen und wandte den Kopf. Harry folgte seinem Blick und sah ein schwarzes Pferd mit zwei Flügeln aus den Schatten treten: einen Thestral. Er wieherte und trabte zu ihm herüber. Als er Yehudiah passierte, neigte er ebenfalls den Kopf. Dann blieb er neben Harry stehen und berührte seine Schulter mit der Nase. Harry hob automatisch die Hand, um ihn zu streicheln.

Yehudiah lächelte wieder und berührte Harrys Stirn sanft mit der Hand. Harry spürte ein Gefühl von Wärme und Sicherheit, das ihn überwältigte, eine derartige Liebe, dass sein Herz zu zerspringen drohte. Dann schwanden ihm die Sinne und er sank zurück in die warme, dunkle Tiefe des traumlosen Schlafes.