Kapitel Fünf - Die Reise beginnt

Aufzuwachen war nicht wie sonst. Normalerweise erwachte Harry mit einem Ruck und war sofort hellwach. An diesem Morgen war es mehr so, als ob er langsam an die Oberfläche eines sehr tiefen Sees gelangte. Er war schläfrig und träge, als er endlich die Augen öffnete. Yehudiahs Gesicht stand immer noch vor seinem inneren Auge, und er glaubte immer noch, die warmen Lichtstrahlen fühlen zu können. Die seltsame Sprache, der sich Yehudiah bedient hatte, klang noch in seinen Ohren, und obwohl Harry kein einziges Wort verstehen konnte, fühlte er plötzlich ein Wissen in sich. Er sollte... was? Wenn er darüber nachdenken wollte, konnte er es nicht, aber er fühlte ganz deutlich, dass, wenn er nur erst anfing, das Wissen, was zu tun war, in dem Moment da sein würde, wenn er es brauchte.

Sehr seltsam.

Harry spähte aus dem Fenster. Es war noch dunkel draußen, und plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er die Überreste des Rituals in einen Fluss werfen sollte - in der Morgendämmerung. Auf einmal hellwach, sprang er aus dem Bett und in seine Kleider, sammelte die Kerzen, die Lilien und die Weihrauchschale auf und schlich die Treppen hinunter und aus dem Haus. Er sah sich um und versuchte, sich zu erinnern, wo der Fluss war. Er wusste, dass es einen gab - aber nicht, ob er nördlich oder südlich des Hauses war. Schließlich kletterte er auf das Stalldach und ließ den Blick umherschweifen, und nach ein paar Sekunden entdeckte er den Fluss hinter dieser kleinen Baumgruppe, die man nicht als Wald bezeichnen konnte, und wenn Harrys Leben davon abhing.

Harry kletterte herunter und machte sich auf den Weg. Nach zwanzig Minuten hatte er das Ufer erreicht und sah hinunter in die Strömung. Dann streckte er die Hände aus und warf alles hinein. Er beobachtete, wie es davon trieb, bis es außer Sicht war. Dann drehte er sich um und ging zurück.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und Harry betrat den Fuchsbau ohne ein Geräusch, schlich die Treppen hinauf und in sein Zimmer und ging wieder zu Bett.

****

Ein paar Stunden später wachte er auf.

Harry stand auf und gähnte. Ihm war leicht schwindelig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es neun Uhr morgens war, und jetzt bemerkte Harry auch, dass er Hunger hatte. Er ging nach unten.

Die anderen saßen bereits am Tisch, aber niemand aß. Als Harry die Küche betrat, wandten sich ihm alle Blicke zu.

"Morgen", sagte Harry und setzte sich zwischen Ron und Bill.

Niemand reagierte, und Harry sah sich am Tisch um. Alle Gesichter waren ihm zugewandt, brennend vor Neugierde.

"Es könnte funktioniert haben", sagte Harry.

Die Spannung schien zu explodieren. Hermine quietschte auf und warf beinahe ihre Kaffeetasse um. Ginny erwischte sie gerade noch, bevor sie zu Boden fallen konnte.

"Oh, Harry, das ist so WUNDERVOLL!" sagte Hermine, und da sie Harry von ihrem Platz aus nicht erreichen konnte, warf sie die Arme um Rons Hals und küsste ihn auf beide Wangen. Rons Gesicht wurde scharlachrot, aber Hermine bemerkte es nicht, denn sie hatte sich bereits zu Remus umgedreht, der rechts von ihr saß, und umarmte auch ihn. Remus strahlte.

"Wie war es?" fragte er. "Ist er dir erschienen oder hast du auch von ihm geträumt?"

"Ich habe geträumt", sagte Harry. Er wollte ihnen noch mehr erzählen, aber zu seiner Überraschung kamen folgende Worte aus seinem Mund, als er diesen öffnete: "Ich kann euch nichts darüber erzählen. Ich muss gleich heute Morgen aufbrechen."

"Aufbrechen?" wiederholte Mrs Weasley.

Harry wollte ihr sagen, dass er keine Ahnung hatte, warum er das gerade gesagt hatte. "Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Weasley, mir wird es gut gehen. Es ist ein Teil der Mission, auf die der Engel mich schickt."

"Mission?" fragten Ginny, Bill und Fred zusammen.

"Ich kann's euch nicht sagen", sagte Harrys Mund.

"Aber..." fing George an, doch Remus unterbrach ihn.

"Setz ihn nicht unter Druck, George. Wir wollen schließlich nicht dazwischenfunken, oder?"

"Natürlich nicht", sagte Arthur, der die Szene schweigend beobachtet hatte.

"Aber Harry, musst du alleine gehen?" fragte Ron. "Können wir nicht mitkommen?"

Harry wusste die Antwort nicht, aber trotzdem sagte er: "Es tut mir Leid, dieses Mal könnt ihr nicht mit mir kommen. Da muss ich alleine durch."

****

"Und du glaubst wirklich, du kannst das ohne unsere Hilfe machen, mein Lieber?" fragte Mrs Weasley, als sie alle vor dem Haus standen, um sich zu verabschieden.

Harry zuckte die Achseln. "Ich hätte nichts gegen Begleitung, aber ich weiß einfach, dass ich niemanden mitnehmen darf."

Mrs Weasley nickte. "Und du kannst wirklich nicht sagen, wo du hingehst?"

Harry schüttelte den Kopf. "Ich werde es wissen, wenn ich losgehe", sagte er.

Mrs Weasley gab ihm einen Rucksack. "Da drin ist etwas zu essen und zu trinken für dich", sagte sie. "Ich habe auch einen Schlafsack und etwas Muggelgeld eingepackt... obwohl ich bezweifle, dass du in einem Hotel übernachten wirst..." Sie sah ziemlich besorgt aus.

"Danke", sagte Harry. "Und keine Angst. Mir wird's gut gehen."

Er umarmte die Mädchen, Mrs Weasley, Ron und Remus und schüttelte Bill, Arthur, Fred und George die Hand. Dann winkte er zum Abschied und verließ den Hof. Die anderen blieben wo sie waren, bis Harry außer Sichtweite war.

****

Harry lief und lief stundenlang, kam durch Dörfer und kleine Städte. Als es etwa zwei Uhr war, kaufte er sich ein Stück Pizza und eine Dose Cola in einer Bäckerei, setzte sich auf eine Bank und aß. Dann ging er weiter. Seine Füße begannen weh zu tun, aber Harry achtete nicht darauf. Der Rucksack hing schwer über seiner Schulter und er schwitzte. Dennoch ging er weiter. Er hatte das Gefühl, als ob er schneller vorankam als ein normaler Mensch eigentlich sollte, wenn man in Betracht zog, dass er nur zu Fuß gehen konnte. Er war gegen halb drei durch Oxford gekommen, und obwohl er nie gut in Geographie gewesen war, wusste er doch, dass es mindestens fünfzig Meilen von Oxford nach Birmingham waren - und doch kam er gegen sechs Uhr an einem Schild vorbei, auf dem "Birmingham 15 Meilen" stand. Das bedeutete, dass er durchschnittlich zehn Meilen pro Stunde zurücklegte, und das zu Fuß. Harry konnte nicht aufhören, darüber nachzugrübeln. Aber er nahm an, dass das vielleicht auch Yehudiahs Werk war. Vielleicht musste er, wo auch immer er hingehen sollte, in weniger als einer Woche ankommen oder so was.

Harry erreichte Birmingham um halb acht. Er suchte sich eine Bank in einem Park, setzte sich hin und zog die Schuhe aus. Seine Füße waren wund und mit Blasen übersät. Jetzt wo er sich ausruhte, fühlte Harry die Erschöpfung, die ihn wie eine gigantische Welle überrollte.

Er hatte kaum noch die Kraft, den Rucksack zu öffnen und eines von Mrs Weasleys Sandwiches herauszunehmen. Er war nicht sonderlich hungrig, obwohl er den ganzen Tag kaum gegessen hatte. Er aß nur eine Hälfte des Sandwiches, packte die andere wieder ein und holte statt dessen den Schlafsack heraus. Es war nicht kalt, aber Harry schlüpfte trotzdem hinein und versuchte, es sich so gemütlich wie möglich zu machen.

Er hatte kaum die Augen geschlossen, als er auch schon einschlief.

****

"He, du da! Junge!"

Harry nuschelte etwas und öffnete ein Auge. Die Sonne war bereits aufgegangen.

Schläfrig setzte Harry sich gerade hin. Sein Rücken schmerzte wie verrückt und seine Finger waren halb erfroren. Er blinzelte in das Licht und sah einen Muggelpolizisten neben der Bank stehen.

"Morgen", sagte Harry, dem einfach nichts anderes einfiel.

"Hast du hier die Nacht verbracht?" fragte der Polizist.

Harry zermarterte sich das Gehirn, um eine gute Antwort zu finden. Der Polizist hielt ihn, Harry, sicher für einen Ausreißer. Er nahm all seinen Mut zusammen, holte tief Luft und hoffte, dass er ein besserer Schauspieler war, als er immer gedacht hatte.

"Nacht? Wie spät ist es denn?" Harry versuchte, völlig desorientiert zu wirken.

"Es ist halb acht Uhr morgens, junger Mann", sagte der Polizist.

Harry zuckte übertrieben zusammen. "Oh mein Gott! Meine Mutter wird stinksauer sein!"

Er sprang auf die Füße, schnappte seinen Rucksack und stopfte den Schlafsack hinein. Der Polizist beobachtete ihn misstrauisch.

"Was meinst du damit?" fragte er.

"Ich bin mit ein paar Freunden unterwegs gewesen", improvisierte Harry hastig, "und als ich gestern nach Hause wollte, hab ich die U-Bahn verpasst. Also hab ich mich für einen Moment hingesetzt, und na ja, ich muss wohl eingeschlafen sein. Tut mir Leid... habe ich das Gesetz gebrochen?"

"Nicht wirklich", sagte der Polizist, der nun deutlich freundlicher schien als eben noch. Vielleicht erinnerte er sich an seine eigene Jugend, als er ähnliche Dinge getan hatte. Er grinste. "War die Party den Ärger wenigstens wert?"

"Na klar", sagte Harry und grinste zurück. "Tut mir ehrlich Leid... kann ich jetzt gehen? Meine Mom wird sich furchtbare Sorgen machen... ich werde für den Rest meines Lebens Hausarrest haben..."

"Willst du, dass ich dich nach Hause bringe?" bot der Polizist an. "Ich könnte mit deiner Mutter reden, wenn du willst."

"Nein!" sagte Harry hastig. Er sah, dass der Polizist wieder misstrauisch wurde und fügte hastig hinzu: "Ich meine, nein danke. Sie kennen meine Mom nicht. Und wenn sie mich neben einem Polizisten zum Haus kommen sieht, wird sie völlig ausflippen. Egal ob ich was falsch gemacht habe oder nicht, der Schreck wird sie nur noch wütender auf mich machen."

"Ich verstehe", sagte der Polizist. "Bist du ein Einzelkind?"

"Ja."

"Dann weiß ich, wovon du redest." Er grinste. "Viel Glück, Junge. Und jetzt ab mit dir!"

Harry winkte zum Abschied und rannte davon. Da er nicht wusste, ob der Polizist ihn im Auge behielt, rannte er zunächst die Stufen zur U-Bahn- Station hinunter. Dort wartete er zehn Minuten lang, ging dann wieder nach oben und hielt zwei Blocks später an, um zu frühstücken. Dann ging er weiter.

****

Der zweite Tag seiner Reise verlief ziemlich so wie der erste. Er schien immer noch schneller als jeder andere zu gehen, und am Abend erreichte er Liverpool. Aber dieses Mal verbrachte er die Nacht nicht in der Stadt selber. Er ging nach Osten in Richtung Manchester, bis er das Gelände der University of Salford erreichte. Dort suchte er sich einen Platz gerade außerhalb des Universitätsgeländes, der hinter einer Gruppe von Bäumen und Büschen versteckt lag. Harry legte sich hin, rollte sich zusammen und schlief ein.

Als er am nächsten Morgen erwachte, schmerzte sein Rücken sogar noch mehr als am Vortag, und seine Füße taten so weh, dass Harry bezweifelte, auch nur einen Schritt machen zu können. Aber dann dachte er wieder an Sirius, und die Erinnerung an seinen Paten gab ihm Kraft.

"Ich tue das alles für dich", murmelte Harry. "Halte einfach durch, okay?"

Er kam auf die Füße. Die ersten Schritte waren die reinste Folter, aber Harry biss die Zähne zusammen und ging weiter.

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Am Abend des fünften Tages überquerte Harry die schottische Grenze. Er begann darüber nachzudenken, wie weit er wohl noch gehen musste. Aber das Wissen führte ihn immer weiter und weiter in das Land hinein.