Kapitel Sechs - Der Thestral

Am sechsten Tag erreichte Harry ein Dorf, das ihm vage bekannt vorkam. Er wunderte sich, wie das sein konnte, denn er erinnerte sich nicht daran, jemals in irgend einem Dorf in diesem Teil des Landes gewesen zu sein. Er stand für eine Weile auf dem Marktplatz und zermarterte sich das Gehirn.

Plötzlich hörte er das Geräusch eines langsam vorbeifahrenden Zuges, und da wusste er, warum ihm das Dorf bekannt vorkam. Der Zug nach Hogwarts kam auch hier vorbei, und wegen irgend einer besonderen Geschwindigkeitsbegrenzung fuhr er immer sehr langsam. Harry hatte das Dorf bis jetzt zehnmal aus dem Fenster gesehen. Es war nicht überraschend, dass er glaubte, es zu kennen.

Was allerdings überraschend war, war die Tatsache, dass Harry nicht weit von Hogwarts entfernt war. Obwohl Harry ständig nach Norden gegangen war, war ihm nicht einmal der Gedanke gekommen, dass er durch Hogsmeade kommen musste, oder zumindest in der Nähe vorbeikommen. Und er wusste, dass dieses Dorf nicht weit von Hogsmeade entfernt lag.

Er war drauf und dran, jemanden zu fragen, als ihm einfiel, dass Hogsmeade das einzige Dorf in Großbritannien war, in dem kein einziger Muggel lebte, deshalb war es sehr unwahrscheinlich, dass diese Muggel hier wussten, wo das Dorf lag - oder dass es überhaupt existierte. Also ließ Harry es bleiben, einfach zu jemandem hinüberzugehen und danach zu fragen. Er wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Er überprüfte sein Geld. Er hatte ungefähr fünfzehn Pfund in der einen Tasche und sechs Galleonen, fünfzehn Sickel und ein paar Knuts in der anderen. Genug, um hier etwas zum Frühstücken zu bekommen.

Harry ging in ein Café und bestellte eine Tasse Kaffee und Eier und Speck. Die Kellnerin musterte ihn misstrauisch und bestand darauf, zuerst zu kassieren. Harry lächelte höflich, aber er gab ihr keinen einzigen Penny Trinkgeld.

Nachdem er fertig war, stand er auf und lief durch das Dorf, weiter nach Norden, immer dem sonderbaren Wissen in ihm folgend, das ihm genau sagte, wann er links oder rechts abbiegen musste oder eine Pause machen konnte. Das Wissen, das Yehudiah ihm während des Traumes vermittelt hatte. Und doch wusste Harry jetzt, was Kingsley gemeint hatte, als er davon gesprochen hatte, Dinge zu vergessen. Harry hätte auch keinen Bericht seiner Reise geben können. Jedes Mal wenn er versuchte, sich an die vorangegangenen Stunden zu erinnern, verschwand alles einfach aus seinem Gedächtnis. Er wusste nur, dass er weitergehen musste. Was hinter ihm lag, was nicht wichtig.

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Harry schätzte, dass es etwa sechs Uhr abends war, als er feststellte, dass er irgendwie durch Hogsmeade gekommen sein musste, ohne es zu merken. Aber das war unmöglich... Harry liebte Hogsmeade, er hätte es gemerkt, wäre er hindurchgekommen. Dennoch war es klar - er stand zweifellos am Rande des Verbotenen Waldes. Er konnte sogar den See durch die Bäume schimmern sehen. Seltsamerweise fühlte Harry kein Verlangen danach, nach Hogwarts hinüberzugehen und Hagrid oder Dumbledore zu besuchen. Er nahm an, dass auch das Yehudiahs Werk war. Er würde nur lange verweilen, wenn er jetzt hinüber zu den Ländereien ging. Also blieb er auf dem Pfad, der ihn direkt in den Wald führte.

Harry sah nach oben. Die Sonne ging bereits unter und die Bäume warfen lange Schatten auf den Boden. Harry ging die ganze Zeit nur im Schatten. Ab und zu hörte er Laute von den Tieren, und einmal glaubte er, einen flüchtigen Blick auf ein Einhorn zu erhaschen, dass in einiger Entfernung vorbei galoppierte. Aber er ging immer weiter ohne auch nur einmal zurückzublicken oder zu überlegen, wo der Pfad ihn wohl hinführen mochte. Er wusste immer noch ganz genau, wo er langgehen musste, ohne zu wissen, woher er das wusste.

Nach ungefähr einer halben Stunde erreichte Harry eine Wiese. Er blieb wie angewurzelt stehen. Das war die Wiese, wo er Yehudiah im Traum getroffen hatte. Das war eigentlich keine große Überraschung, da Harry die Wiese während des Traumes schon als diejenige identifiziert hatte, wo Hagrid sie manchmal für seinen Unterricht hin mitnahm. Aber das hatte er völlig vergessen. Jetzt wo er darüber nachdachte, fand Harry es völlig vernünftig, dass seine Reise ihn auf die Ländereien von Hogwarts führen würde. Es musste einen Grund gegeben haben, warum Yehudiah diesen Ort für ihr erstes Treffen gewählt hatte.

Harry hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als er ein Rascheln in den Blättern hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah ein schwarzes Pferd zwischen den Bäumen hervorkommen. Es war sehr dünn und hatte zwei große, fledermausartige Flügel: Ein Thestral. Er wieherte leise und trabte zu ihm herüber.

"'lo", sagte Harry leise und sah in seine dunklen Augen. Der Thestral erwiderte seinen Blick ruhig, und Harry fiel plötzlich ein, dass da auch ein Thestral in seinem Traum gewesen war. Das war sicher kein Zufall.

"Hat der Engel dich geschickt?" fragte Harry. Der Thestral wieherte wieder und stupste Harry mit der Nase an.

"Warst du in meinem Traum?" fragte Harry weiter und streichelte ihn. Der Thestral schüttelte seine Mähne und stupste Harry erneut an.

"Was willst du denn?" fragte Harry etwas dümmlich. "Bist du gekommen, um mir den Weg zu zeigen?"

Denn Harry hatte gerade erkannt, dass er nicht weiter gehen konnte. Das seltsame Wissen in ihm hatte ihn bis hierher geführt, aber das war es. Und wenn er Yehudiah nicht hier treffen sollte, brauchte er jemanden, der ihm den Rest des Weges zeigte.

Der Thestral blieb an Harrys Seite und sah ihn weiter an.

"Soll ich die Reise auf deinem Rücken fortsetzen?" fragte Harry.

Der Thestral wieherte laut.

"Na dann", seufzte Harry. Er wusste nur noch zu gut wie ungemütlich es war, auf dem Rücken eines Thestrals zu reiten. Aber er hatte keine andere Wahl. "Okay, aufgepasst, jetzt komme ich", murmelte er in dem halbherzigen Versuch, einen Scherz zu machen. Dann ergriff er eine Strähne von der Mähne des Thestrals und schwang sich auf seinen Rücken. Der Thestral stand wie festgefroren da, bis Harry sich so bequem wie möglich hingesetzt hatte, dann begann er zu traben, zu galoppieren, und dann schließlich breitete er die Flügel aus und hob ab in den Himmel. Harry umklammerte den Hals des Thestrals. Nach einer Weile hatte er sich an die rhythmischen Bewegungen des Pferdes gewöhnt, und er entspannte sich ein bisschen. Sie flogen jetzt ziemlich hoch; Harry konnte den Verbotenen Wald tief unten erkennen. Zu seiner Rechten sah er Hogwarts, aber immer noch fühlte er kein Verlangen, dorthin zu gehen. Einen Moment später waren Schloss und Wald aus seinem Blickfeld verschwunden, und Harry sah die schottische Landschaft, die sich unter ihm ausbreitete. Zuerst sah er nach unten und genoss die Aussicht, aber es wurde immer dunkler, und schon bald konnte er die Städte nicht mehr von den Wäldern und Seen unterscheiden, also lehnte er sich nach vorne, schlang die Arme um den Hals des Thestrals und legte seinen Kopf auf seine Mähne. Er schloss die Augen. Plötzlich fühlte er sich sehr müde. Erschöpft. Er sehnte sich nach seinem Bett, wollte schlafen und alles für eine Weile vergessen. Aber dann hatte er plötzlich Sirius' Bild vor Augen, so wie Harry sich am besten an ihn erinnerte, mit einem kleinen Lächeln auf seinem ehemals attraktiven Gesicht, die dunklen Augen leuchtend vor Zuneigung und Fürsorge. Das Bild verschwand, aber Harry erlaubte der Szene im Ministerium nicht, überhand zu nehmen. Er wollte nicht, dass der alte Schmerz wieder an die Oberfläche kam. Schließlich war er auf dem Weg, Sirius zurückzubringen. Der Gedanke blieb, und er fühlte sich sofort besser.

Harry setzte sich wieder gerade hin. Wenn er nach unten sah, konnte er nichts erkennen, nur Dunkelheit. Er tätschelte den Hals des Thestrals. Der Thestral wieherte leise, wurde aber nicht langsamer. Harry begann zu überlegen, ob diese Geschöpfe überhaupt jemals müde wurden. Sie flogen jetzt seit mindestens zwei Stunden, und immer noch hatte Harry keine Ahnung wohin, oder wie weit es sein würde. Nach allem was er wusste, könnten sie noch tagelang so weiterfliegen.

Am Horizont zu Harrys Linken war ein schwaches Licht zu sehen, die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, so dass Harry sagen konnte, dass sie nach Norden flogen. Es wurde kälter und kälter, und der Wind griff ihn aggressiv an. Harry versuchte, sich zusammenzurollen, aber seine Hände fühlten sich wie Eiszapfen an. Er duckte sich und hoffte, dass Kopf und Hals des Thestrals den Wind abblocken würden, wenigstens ein bisschen. Es half kaum. Und immer noch rasten sie durch die Nacht.

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Da war Licht. Harry blinzelte und sah, dass die Sonne aufging. Er wunderte sich, wie das möglich war. Er konnte doch keine zwölf Stunden auf dem Rücken des Thestrals verbracht haben... Obwohl es sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, schätzte Harry, dass es nicht später als Mitternacht sein konnte. Aber die Sonne stieg weiter, was bedeutete, dass es ungefähr sechs Uhr morgens sein musste. Harry schlussfolgerte, dass er eine Weile geschlafen haben musste, obwohl er sich nicht daran erinnerte. Er fror immer noch, aber die Luft hatte sich ein wenig erwärmt.

Harry sah über die Schulter des Thestrals nach unten und fiel fast herunter. Unter ihm war nichts als Wasser. Wohin er auch sah, nur der endlose Ozean.

Harry umklammerte den Hals des Thestrals und rückte sich wieder in seine alte Position zurecht.

"Sag mal, wohin bringst du mich?" flüsterte er. Seine Zähne klapperten. "Ist es noch weit?"

Keine Antwort.

Harry blieb für eine Weile zusammengekauert sitzen. Plötzlich wurde der Thestral langsamer und begann zu sinken.

Ein Hoffnungsschauer durchfuhr Harry. Waren sie an ihrem Ziel angekommen? Er spähte über die Ohren des Thestrals und versuchte zu sehen, was er ansteuerte. Aber er sah nur eine große Wolke. Einen Moment später waren sie in die Wolke eingetaucht, und Harry sah nur grauen Nebel. Feuchtigkeit setzte sich in seinen Haaren und auf seiner Brille ab, und als sie durch die Wolke hindurch waren, war Harry praktisch blind. Er traute sich nicht, eine Hand von der Mähne des Thestrals zu nehmen, um die Gläser zu polieren. Er hoffte einfach, dass das Problem sich von selbst lösen würde. Und er hatte recht, denn die Feuchtigkeit verschwand und trocknete, und er konnte wieder etwas sehen.

Was er sah, ließ seine Kinnlade vor Überraschung herunterfallen. Der Thestral war dabei, auf einer Insel zu landen, die unter ihnen lag. Sie war ziemlich groß und sehr idyllisch. Harry konnte Bäume und Wiesen sehen. Die Insel lag auf einer Art Plateau; steile Klippen führten zu einem schmalen Strand hinunter, der um die ganze Insel herumlief. Während sie tiefer sanken, wurde der Thestral langsamer und schwebte auf dem Wind, bis sie sanft auf einer der Wiesen landeten.

Harry glitt vom Rücken des Thestrals, und seine Beine gaben sofort unter ihm nach. Er brach auf dem grünen Gras zusammen und lag ein paar Minuten ausgestreckt auf dem Rücken da. Die Sonne war aufgegangen und taute seine gefrorenen Glieder auf. Harry schloss die Augen.

Etwas Warmes und Feuchtes berührte seine Wange: Der Thestral stupste ihn mit der Nase an. Harry öffnete die Augen und machte eine gewaltige Anstrengung, um auf die Füße zu kommen. Er spürte, dass er nun vierundzwanzig Stunden schlafen könnte, aber er hatte hier eine Mission zu erfüllen.

Irgendwo auf dieser Insel sollte er einen Weg finden, Sirius zurückzubringen.