Kapitel Sieben -

Yehudiah

"Du wirst mir wohl kaum sagen, wo du mich hingebracht hast, oder?" sagte Harry zu dem Thestral.

Der Thestral sah ihn an, und es schien Harry fast so, als ob er grinste.

"Ja, schon gut, hab's verstanden", sagte Harry und streichelte seine Nase. "Bin dumm. Ich weiß, dass du nicht sprechen kannst."

Er ließ den Thestral los. "Na, jedenfalls danke, dass du mich hergebracht hast", sagte er. "Ich schätze, du weißt warum. Also geh ich jetzt und seh mich um. Vielleicht stolpere ich ja über was auch immer ich hier finden soll."

Der Thestral wieherte leise.

"Na ja", sagte Harry und sah sich um, "ich schätze, ich wird dich schon wiederfinden. Aber geh nicht einfach zurück nach Schottland und lass mich hier ganz allein, okay?"

Der Thestral berührte Harrys Schulter mit seiner Nase und trabte dann davon.

Harry sah sich um. Sie waren auf einer Wiese gelandet, die von Bäumen umstanden war. Das alles hätte völlig normal ausgesehen, wenn die Farben nicht gewesen wären. Harry konnte nicht genau sagen was es war, was sie so besonders machte - die Bäume waren einfach etwas zu grün und der Himmel zu blau, um normal zu sein. Das Gefühl des Grases unter seinen Füßen war auch nicht so wie sonst. Es war, als ob er nur etwas spürte, wenn er nach unten sah. Wenn er mit erhobenem Kopf lief, hätte er ebenso gut schweben können. Und dann war da der Nebel. Harry konnte nicht weiter als ungefähr fünfzig Fuß sehen, der Rest löste sich einfach hinter einem Nebelschleier auf. Alles in allem fühlte er, dass er sich an einem Ort befand, der nicht jedem zugänglich war. Er überlegte nur, was er jetzt tun sollte.

"Was auch immer", dachte er und ging blindlings in eine Richtung. "Wenn ich hier irgend etwas finden soll, dann werde ich das wahrscheinlich auch."

Er ging weiter und weiter, etwa eine Stunde lang. Die Bäume, die die Lichtung umstanden hatten, stellten sich als ein ganzer Wald heraus, der nicht zu enden schien. Aber schließlich trat Harry aus ihm heraus und fand sich auf einer weiteren Wiese wieder. Wenn er still stand, konnte er die Wellen rollen hören. Er musste in der Nähe des Strandes sein. Harry drehte sich um und wollte in die Richtung der Geräusche des Meeres gehen, aber da hörte er ein leises Läuten hinter sich und blieb wie angewurzelt stehen.

Das Läuten wurde lauter und lauter, wie der Ton riesiger Kirchenglocken, und doch blieb es entfernt. Harry grübelte, was das wohl zu bedeuten hatte. Er hätte schwören können, dass niemand auf dieser Insel wohnte, also wer zum Geier läutete die Kirchenglocken? Er hatte noch nicht einmal eine Kirche gesehen.

Plötzlich hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete, und obwohl die Sonne vor ihm stand, fühlte er Wärme im Rücken. Langsam drehte er sich um.

Ein helles aber weiches Licht schien genau in der Mitte der Wiese. Es umgab eine Gestalt, die Harry bekannt vorkam. Das Licht schien direkt aus ihm heraus zu kommen, und durch das Licht konnte Harry zwei gewaltige Flügel hinter seinen Schultern sehen.

Harry war zweifellos drauf und dran, den Engel Yehudiah kennen zu lernen.

****

Für eine Weile, die wie eine Ewigkeit zu dauern schien, stand Harry einfach nur wie erstarrt da. Er konnte die Augen nicht von dem Engel, der sich nun näherte, abwenden. Er sah genau so aus wie in dem Traum, doch das Gefühl war ein völlig anderes: Harry fühlte sich unglaublich klein und unwichtig, als er so einem mächtigen Wesen gegenüber stand. Und dennoch war er nicht wirklich schüchtern. Er fühlte sich sicher. Ein Gefühl von Wärme und Liebe umfing ihn. Langsam ging er auf den Engel zu.

Yehudiah sah ihm ruhig entgegen und lächelte.

"Endlich lernen wir uns kennen", sagte er schließlich. "Also hast du deinen treuen Gefährten getroffen."

"Den Thestral?" fragte Harry. "Du hast ihn geschickt, um mich hier herzubringen?"

"Natürlich", sagte Yehudiah und lächelte wieder. "Allein hättest du den Weg niemals gefunden. Nur die Thestrals und die Greife kennen diesen Ort."

"Greife?" fragte Harry perplex. "Hier gibt es Greife?"

"Natürlich", sagte Yehudiah amüsiert. "Aber sie offenbaren sich niemals den Menschen. Hast du nie darüber nachgedacht, woher Godric Gryffindor seinen Namen hat?"

"Äh... nein", sagte Harry. "Aber..."

"Ich entschuldige mich", sagte Yehudiah. "Du hast andere Dinge im Kopf, als über den Verbleib der Greife zu reden. Du hast mich gerufen, und ich habe dich erhört. Du hast einen geliebten Menschen verloren."

"Ja... ja, das habe ich." Harry schluckte.

"Du weißt, warum du mich finden konntest?" fragte Yehudiah.

"Weil es einen Weg gibt, ihn zurück zu bringen." Harrys Stimme zitterte. "Sein Tod war nicht rechtens."

Yehudiah nickte. "Du hast gut zugehört", sagte er. "Und du hast richtig gehandelt, indem du mich gerufen hast. Ich bin der einzige, der dir helfen kann. Ich bin der Bote."

"Bote?" Harry verstand nicht ganz.

"Es liegt in meiner Macht, deinen Paten von dem Ort zurück zu holen, wo er jetzt ist", sagte Yehudiah. "Aber ich darf es nicht sofort tun. Da ist noch etwas, was du zuerst tun musst."

"Was es auch ist, ich werde es tun!" Harrys Kehle wurde eng und zugleich fühlte er Zorn und Verzweiflung in sich aufsteigen. Seine Stimme steigerte sich fast zu einem Schrei. "Ich werde alles in der Welt tun, hörst du? ALLES! Lass mich nur nicht warten... Ich halte das nicht mehr aus, weißt du. ICH HALTE DAS EINFACH NICHT MEHR AUS!"

Er rang nach Atem, und plötzlich strömten Tränen seine Wangen hinunter. Alles, was ihn die letzte Woche hatte überstehen lassen, kochte nun in ihm hoch. Er dachte vage daran, dass er sich wie ein stures, trotziges Kind anhören musste, das seinen Willen nicht bekam, aber das veränderte kein bisschen von dem, was er fühlte. Er war erschöpft, müde, von Trauer geschüttelt und gefoltert, und obwohl er nun hier war und vor dem Engel - dem Engel! - stand, der wirklich die Macht hatte, Sirius zurück zu bringen, fühlte er sich kein bisschen besser.

Plötzlich fühlte er Yehudiahs Hand auf seiner Schulter. Die Berührung war warm und zärtlich, und Harry fühlte sich sofort besser. Seine Tränen versiegten, als Bilder von Sirius vor seinen Augen vorbei zogen, Bilder von Sirius nach seiner Rückkehr. Er sah Sirius umringt von den Weasleys, Remus und den anderen, die ihn alle anstrahlten und mit Fragen bombardierten. Er sah, wie Sirius sich zu ihm umdrehte, ihn anlächelte, ihm eine Hand auf die Schulter legte.

"Du wirst diese Szenen, oder ähnliche, in wenigen Stunden erleben", sagte Yehudiah sanft. "Du bist nur noch eine Handbreit von deinem Ziel entfernt. Es gibt nur noch ein Letztes, was du tun musst. Du hattest eine furchtbare Zeit, aber du bist immer noch hier. Ich sehe, dass du einen starken Willen hast, Harry, und ich weiß, du hast die Kraft, den letzten Test zu bestehen. Denk einfach an deinen Paten. Halte den Gedanken fest, dass er zurückkehren wird."

Harry rieb sich die Augen. "Ja", sagte er mit sehr schwacher Stimme. "Er tut mir Leid. Ich hab nur..."

"Du musst nichts erklären", sagte Yehudiah. "Komm einfach mit mir."

Er zog Harry sanft hoch und strich ihm kurz über die Schulter. Harry fühlte eine neue Welle von Energie durch seinen Körper fließen, und er richtete sich auf.

"Ich bin bereit", sagte er.

"Gut. Dann folge mir." Yehudiah ging schnell und seine Füße berührten kaum den Boden. Wo er entlangging, verneigten sich das Gras und die Bäume, genau wie Harry es in seinem Traum gesehen hatte. Nach kurzem Zögern folgte Harry dem Engel und holte ihn schließlich wieder ein.