Kapitel Acht -

Das Schicksal selbst

"Wo bringst du mich hin?" fragte Harry.

Yehudiah blieb stehen und richtete seine schönen Augen auf Harry. "An einen Ort, an den nur wenige gehen können", sagte er. "Einen Ort, wo das Schicksal selbst weilt."

"Das Schicksal selbst..." wiederholte Harry. "Was werde ich dort tun müssen?"

"Das wirst du dann sehen", sagte Yehudiah. "Sprich nicht, es sei denn, es fragt dich etwas. Man kann nie vorhersagen, wie so ein Treffen ablaufen wird. Dat jute alte Schicksal is' in letzter Zeit ´n büschen launich jewesen", setzte er in so einem perfekten Slang-Tonfall hinzu, dass Harry, völlig perplex, wie angewurzelt stehen blieb. Yehudiah lächelte und Harry hätte schwören können, dass seine warmen, dunklen Augen funkelten. "Glaub nicht, dass Engel keinen Sinn für Humor haben", sagte er.

"Aha." Harry fiel einfach keine intelligentere Antwort ein.

Nun wieder ernst, sagte Yehudiah: "Hab keine Angst. Es kann dir nichts tun, und das würde es auch niemals tun. Es kann seine eigenen Regeln nicht brechen. Das Schicksal ist nicht grausam, Harry, es ist weder gut noch böse. Es ist weit jenseits derartiger Kategorien. Das Wissen der Menschen ist viel zu begrenzt, um das Wesen des Schicksals wirklich zu verstehen. Seine Entscheidungen mögen manchmal grausam erscheinen, aber man kann mit ihnen klar kommen. Nur in Fällen wie deinem lässt es sich dazu herab, sich für Menschen erkennbar zu machen."

"Wie... wie sieht es aus?" fragte Harry.

"Das Schicksal hat keine Gestalt oder einen Körper", sagte Yehudiah ruhig. "Und doch kann es jede Form annehmen, die es nur will. Ich weiß nicht, wie du es wahrnehmen wirst. Es könnte wie der Mensch aussehen, den du verloren hast. Es könnte wie dein schlimmster Feind aussehen. Es könnte die Gestalt eines Tieres oder einer Pflanze annehmen. Es könnte die Pfütze am Boden sein, das Moos an den Wänden oder die Hitze in der Luft. Es könnte das Wissen in deinem Kopf sein oder das Gefühl in deinem Herzen. Aber wie es auch aussehen mag, du wirst es erkennen, wenn du es triffst."

"Ist es... unheimlich?" Harry hatte das gar nicht fragen wollen, aber als die Worte einmal heraus waren, konnte er sie nicht mehr zurück nehmen.

"Es ist zornig", sagte Yehudiah. "Zornig auf diese Frau, die getötet hat, ohne sich darum zu kümmern, was es geplant hatte. Und in seinem Zorn kann es wirklich unheimlich sein. Aber du darfst niemals vergessen, dass es dir nichts antun wird."

Harry beruhigte das nicht unbedingt. Im Gegenteil - wenn das überhaupt möglich war, war er sogar noch beunruhigter als vorher. Vielleicht hätte Yehudiah ihm nichts über den Zorn des Schicksals erzählen sollen... Harry konnte sich sofort hundert Dinge vorstellen, die er lieber tun würde, als einer wütenden Macht gegenüber zu stehen, die er vielleicht noch nicht einmal ansehen konnte.

Harry versuchte, die Gedanken abzuschütteln und holte Yehudiah wieder ein, der ihm einige Meter voraus gewesen war. Für eine Weile gingen sie schweigend, an einer Gruppe von Bäumen vorbei, die unglaublich grün und gesund waren, dann bogen sie nach rechts ab und erreichten den Strand, wo sie weiter gingen. Zu ihrer Rechten war das Meer, zu ihrer Linken Klippen. Das Meer war von diesem unglaublich klaren Blau, das Harry nur aus Petunias Büchern über die Karibik kannte. Er wunderte sich, wie das sein konnte, denn sie mussten hier weit oben im Norden sein. Und nach allem, was er wusste, war die Karibik woanders. Aber dann fiel ihm ein, dass das hier keine normale Insel war. Wahrscheinlich musste sie nicht unbedingt wie irgend eine Insel im Norden aussehen.

Yehudiah verlangsamte seinen Schritt. "Es ist nicht weit von hier", sagte er. "Man kann es schon sehen.

Harry sah in die Richtung, in die Yehudiah deutete, und sah gar nichts. Alles, was weiter als zehn Meter entfernt war, verschwand hinter dem Nebel, der über der Küste lag.

"Das ist das, was du sehen sollst", sagte Yehudiah leicht amüsiert. "Niemand, der nicht von mir begleitet wird, kann den Eingang zur Heimat des Schicksals finden. Wenn du alleine hier wärst, dann könntest du direkt davor stehen und doch nichts als die Umrisse der Klippe im Nebel sehen."

"Klar", sagte Harry, der sehr nervös war. "Das Schicksal wird nicht gerne gestört, oder?"

"Nicht ohne einen guten Grund", korrigierte Yehudiah. "Das Schicksal verachtet Leute, die versuchen, es herauszufordern, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen. Fairness existiert nicht für das Schicksal. Nur seine Entscheidungen. Und sie sind weder fair noch unfair."

"Aber rechtens", sagte Harry.

Yehudiah lächelte. "Du beginnst zu verstehen", sagte er. "Und jetzt nimm meine Hand. Wir werden die Schwelle überschreiten."

Harry gehorchte. Yehudiahs Griff war fest, aber sanft. Ohne das Tempo zu verringern ging er weiter, und Harry stolperte neben ihm her. Der Nebelschleier kam näher, aber als sie darauf zugingen, verschwand er plötzlich. Sie gingen hindurch, und Harry blieb wie angewurzelt stehen. Sie waren auf dem Strand gewesen, aber jetzt standen sie auf einmal oben auf der Klippe. Als Harry sich umdrehte, sah er, dass der Nebel wieder da war. Er konnte nicht auf die andere Seite sehen, aber wenn er darüber nachdachte, vielleicht gab es auf der anderen Seite auch nichts zu sehen. Die Klippe war unglaublich hoch. Harry wagte es nicht, über den Rand zu sehen. Er war schon nervös genug, und ein Hauch von Höhenangst würde bestimmt nicht dazu beitragen, dass er sich besser fühlte. Er drehte sich wieder um und sah nun den Eingang zu einer Höhle.

"Da entlang?" fragte er."

Yehudiah nickte.

"Muss ich... kommst du." Die Worte blieben Harry im Hals stecken, aber Yehudiah erriet, was er fragen wollte.

"Ich komme nicht mit dir", sagte er. "Ich werde hier auf dich warten. Hab Vertrauen, Harry. Es wird dir nichts tun."

Harry nickte. Dann holte er tief Luft, drehte sich um und ging in die Höhle.

****

Das erste, was er bemerkte, war der Geruch, oder besser: die Abwesenheit jeglichen Geruchs. Harry bekam für einen Moment Panik, weil es sich so anfühlte, als ob überhaupt keine Luft da wäre. Er holte noch einmal tief Luft, und obwohl seine Lungen ihm signalisierten, dass alles in Ordnung war, atmete er schneller, um sicherzugehen, dass er nicht ersticken würde.

Hinter dem Eingang war ein kurzer Gang, der in die Höhle führte. Als Harry aus dem Gang heraus trat, blieb er vor Überraschung wie angewurzelt stehen. Die Höhle schien so groß zu sein wie eine Kathedrale. Die Decke war so hoch, dass sie kaum zu sehen war. Ein flackerndes Licht, das aus dem Nichts zu kommen schien, erleuchtete die ganze Höhle in einem Licht, das Harry nicht beschreiben konnte. Er konnte noch nicht einmal sagen, ob es warm oder kalt war, dämmrig oder hell, weich oder blendend. Es war jenseits von allem, was er jemals gesehen hatte.

Harry machte ein paar zögernde Schritte und blieb erneut stehen. Was sollte er jetzt tun?

Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es kam von der Decke, und Harry zuckte zusammen. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Kleine Steine rollten hinab.

"Hallo?" flüsterte Harry. "Ähm... ich bin Harry Potter."

Ein lautes Krah! erschreckte ihn. Er zuckte wieder zusammen und sah sich um. Eine große Krähe, schwarz wie Ruß, kam heruntergeflattert und landete auf einem großen Stein, der genau in der Mitte der Höhle lag. Sie sah Harry mit ihren leuchtend gelben Augen an und krächzte erneut.

Harry kam näher. Er wollte gerade den Mund öffnen, als ihm Yehudiahs Warnung einfiel, nicht zu sprechen, es sei denn, er wurde etwas gefragt. Aber woher sollte er wissen, ob diese Krähe wirklich die Gestalt war, die sich das Schicksal anzunehmen entschlossen hatte, und nicht irgendein stinknormaler Vogel, der hier nistete?

Harry holte Luft und wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Auf einmal fühlte er die Anwesenheit von etwas Altem, weder gut noch böse, das ihn beobachtete. Zornig. Harry wusste nicht, ob er der Grund für seinen Zorn war oder etwas anderes, aber er fühlte sich ziemlich unbehaglich. Die Luft fühlte sich an, als ob sie elektrisch aufgeladen wäre, und er erwartete halb, dass Blitze zucken oder seine Haare sich aufrichten würden oder so etwas. Wenn dieses hier kein Raum sondern das Meer wäre, überlegte er, dann würde dort höchstwahrscheinlich der schlimmste Hurricane aller Zeiten toben und heulen, mit dreißig Meter hohen Wellen.

Harry fühlte einen starken Drang, sich hinzukauern, das Gesicht in den Händen zu vergraben und so unauffällig wie möglich zu bleiben. Aber das konnte er nicht machen... er war so weit gekommen... er musste an Sirius denken, sich an dem Gedanken festhalten, ihn zurück zu bringen. Er hatte nicht die lange Reise überstanden, nur um herauszufinden, dass er ein zu großer Feigling war, um das zu beenden, was er begonnen hatte. Also blieb er wo er war, stand aufrecht da und richtete die Augen auf die Krähe.

Der Vogel krächzte wieder, und dieses Mal glaubte Harry, Worte in den Geräuschen zu hören. Es war nicht so, dass der Vogel sprach, die Worte schienen aus dem Nachhall zu kommen, der in der Luft hing, nachdem der Vogel einen Laut von sich gegeben hatte.

"Wer bist du, mich zu stören?"

Harry schluckte. "Äh... mein Name ist Harry Potter. Ich wurde hier von Yehudiah, dem Engel der Trauer, hergebracht."

"Bist du hier, um die Dinge in Ordnung zu bringen?"

Harry wand sich. "Ähm... vielleicht. wovon genau sprichst du?"

Die Krähe flatterte aufgeregt, und auf einmal war sie keine Krähe mehr. Wo sie gewesen war saß nun ein gigantischer Adler, der seine Flügel ausbreitete und sie wieder schloss. Der scharfe, gekrümmte Schnabel öffnete sich.

"Ich spreche von der schweren Beleidigung, die ich erfahren habe. Darüber, wie meine Pläne durchkreuzt wurden. Über diese Frau, die so dreist war, den Mann zu töten, der leben sollte."

Sirius! "Ich bin hier, um für diesen Mann zu sprechen", sagte Harry. Auf einmal fühlte er sich zuversichtlicher. "Ja, ich bin hier, um die Dinge in Ordnung zu bringen."

"Wer bist du, für diesen Mann zu bitten?"

"Er war mein Pate", sagte Harry sehr leise. "Aber mir war er ein Vater, ein Bruder und ein Freund."

"Es war nicht sein Schicksal, jetzt zu sterben."

Harrys Herz hämmerte sehr schnell. Er wusste, dass die nächsten Minuten über Sirius' Rückkehr entscheiden würden.

"Also kann ich ihn zurück bringen?" fragte er eifrig und vergaß, dass das Schicksal ihm keine Frage gestellt hatte.

Der Adler flatterte. "Dummer kleiner Junge! Du kannst gar nichts bewirken. Wenn du sehen würdest, was hinter dem Schleier liegt, dann würdest du den Verstand verlieren. Dein armer kleiner Kopf könnte sogar wie eine Seifenblase zerplatzen. Du hast keine Macht in dieser Sache. Es braucht mehr als einen Zauberer, um die Toten zu erwecken. Aber das ist das Problem bei den Menschen - sie glauben sie wissen alles, können alles, können mir nach Lust und Laune in die Quere kommen!"

Harry wich zurück. "Es tut mir Leid... Bitte beruhige dich... äh... ich meine... zügle deinen Zorn."

Der Adler richtete seine grausamen Augen direkt auf ihn. "Wer bist du, mir zu sagen, was ich tun soll? Ich könnte dich zu Staub zermalmen!"

"Vergib mir", sagte Harry demütig. "Ich will dich nicht beleidigen. Ich will nur wissen, was ich tun muss, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Oder war für Sirius zu bitten alles, was ich tun konnte?"

Der Adler blieb nun völlig regungslos, und Harry schien es, als ob der Zorn in seinen Augen langsam verschwand.

Als er die Worte wieder hörte, hatte sich auch der Ton verändert.

"Ich sehe wahre Trauer in deinem Herzen. Ich sehe die Last, die deine Seele tragen muss. Was meinen Zorn verursacht, bereitet dir Schmerz. Wir sind auf der gleichen Seite."

Harry schwieg, aber Hoffnung erfüllte ihn von Kopf bis Fuß.

"Ich will, dass mein Zorn versiegt. Die Rechnung muss beglichen werden. Dieser Mann darf nicht jenseits des Schleiers bleiben." Der Adler machte ein paar Schritte zum Rand des Steins. "Nun höre, kleiner Mensch. Du hast richtig gehandelt, als du zu mir gekommen bist und für diesen Mann gebeten hast. Es war nicht sein Schicksal, in dem Kampf in jener Nacht zu sterben. Sein Schicksal ist es, an deiner Seite zu bleiben und dir ein Vater, ein Bruder und ein Freund zu sein. Er wird dein Begleiter sein in den dunklen und gefährlichen Zeiten, die bevorstehen. Geh nun mit dem Engel. Er wird tun, was nötig ist. Der, den du verloren hast, wird zu dir zurückkehren."

Harrys Kehle war so eng, dass er kaum flüstern konnte. "Ich danke dir."

Der Adler warf den Kopf zurück, breitete die Flügel aus und flog in die Schatten, die unter der Decke lagen. Harry wartete nicht darauf, dass er außer Sichtweite geriet. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte durch den Gang zurück zum Eingang.

Yehudiah saß immer noch da, wo Harry ihn verlassen hatte.

"Es hat funktioniert!" Harry rannte zu ihm hinüber und könnte sich erst im allerletzten Moment davon abhalten, den Engel einfach zu umarmen, so wie er es mit Sirius oder Remus nach einem solchen Treffen getan hätte.

Yehudiah lächelte milde. "Ich wusste, dass es das würde", sagte er.

"Es hat gesagt, du würdest tun, was nötig ist..."

"Das ist wahr." Yehudiah stand auf und drehte sich zum Meer. "Komm her, Harry. Wir werden es jetzt tun. Nimm meine Hand. Wir können es nicht von hier aus machen."

Harry trat an die Seite des Engels und nahm seine Hand.