Kapitel 1
Auftrag mit Hindernissen
Haldir verlagerte sein Gewicht seufzend von einem Bein auf das andere und fragte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag, warum er Aragorns Auftrag eigentlich angenommen hatte.
Er hatte sich in einem schäbigen Gasthaus ein Zimmer genommen, mehr eine Dachkammer als alles andere. Obwohl er behaupten konnte, ein Gespür für Tiere zu besitzen, waren ihm die Scharen von Insekten, die in Wänden und Boden seiner Unterkunft hausten und mit ihren Getrappel jede erholsame Nacht zunichte machen konnten, unangenehm.
Der Wirt des „Grünen Lindwurms" war ein alter Bekannter von Aragorn und über Haldirs Auftrag eingeweiht. Der Mann würde unauffällig überprüfen, ob sich jemand übermäßig stark für seinen Gast interessierte und ihm im Notfall warnen. Er bewahrte in seinen Privatgemächern auch Haldirs lorische Kleidung auf, die er mit wehem Herzen gegen eine abgetragene Tunika und die dazu passende Hose eingetauscht hatte. Nur an seine Waffen ließ er niemanden und es war ihm herzlich egal, wenn sich jemand fragte, warum ein abgerissener Elb derart kostbare Waffen hatte.
Seien Ausrede würde einleuchtend sein – er hatte sie gestohlen. An seinem Gürtel trug er mehrere kleine Taschen mit Diebeswerkzeug wie Dietriche und Wachs. Obwohl er derartige Dinge nie in seinem Leben eingesetzt hatte, war er optimistisch. Mit ein wenig Geschicklichkeit würde sich jedes Schloss öffnen lassen.
Seit Tagesanbruch hatte er Position vor einem der Häuser bezogen, die Aragorn ihm in seinen detaillierten Karten und Ausführungen beschrieben hatte. Es war ein riesiges, doppelstöckiges Gebäude im Fachwerkstil, dessen bleiverglaste Fenster von einigem Reichtum zeugten. Ein hoher Zaun aus kunstvoll verschnörkeltem Metall, hinter dem zwei Männer und mehrere Hunde Wache standen, sperrte es von der Strasse ab, seitlich wurde es von anderen Bauten beschirmt.
Aragorn hatte geschrieben, es sei ein typisches Gildenhaus und auch wenn der äußere Schein trog, sah Haldir einen regen Verkehr von Gestalten, die im Laufe des Tages durch das bewachte Tor geschleust hatten. Doch es waren lange nicht genug Menschen, um hinter den Mauern eine Diebeshöhle zu vermuten. Offensichtlich gab es einen zweiten, versteckten Eingang.
Ein Gespann rumpelte dicht an Haldir, der an einer Hausecke lehnte, vorbei, und Schlamm spritzte auf seine Hose, der sicher nicht nur aus Dreck bestand. Angewidert zog er sich ein Stück zurück. Die Menschen mussten eines Tages einfach lernen, ihre körperlichen Abfälle nicht einfach aus dem Fenster zu entsorgen. Sonst sah er den Untergang ihrer Kultur in einem riesigen Misthaufen kommen.
Er hasste Städte. Sie stanken, waren überfüllt und zu grau. Er hatte nicht einen einzigen Baum gesehen, obwohl es Gerüchte gab, dass sich im Inneren der Stadt einige prachtvolle Gärten befanden. Haldir seufzte erneut. Sie zu suchen würde ihn zuviel Zeit kosten, Zeit, die er nicht hatte.
***
Es war gegen Abend, als erneut Bewegung am Tor entstand. Die Wächter, die wenig vertrauenserweckend aussahen, lachten schallend und schlugen sich auf die Schenkel. Bei ihnen stand eine junge Frau mit wildem schwarzem Haar. Einen mit Gemüse gefüllten Korb auf die kokett herausgestreckte Hüfte gestützt, erzählte sie mit einem breiten Grinsen eine Geschichte, deren Einzelheiten, die über die Straße zu Haldir hinüberdrangen, jeden zart besaiteten Menschen die Schamröte ins Gesicht treiben würde. Ihre Kleidung wies sie als Straßenmädchen aus und der tiefe Ausschnitt ließ darauf schließen, auf welche Weise sie ihr Geld verdiente.
Mit schwingendem Schritt ging sie durch das Tor und die Straße hinunter. Haldir ertappte sich dabei, ihr nachzusehen und die Kurven ihres Körpers unter dem eng geschnürten Ledermieder zu bewundern, als plötzlich eine Flut von Ereignissen zur selben Zeit über den Platz vor dem Haus hereinbrach. Während sich die Wachen noch vor Lachen ausschütteten, achteten sie nicht darauf, das Tor schnell zu schließen und ehe sie es sich versahen, war ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren, das aus dem Haus auftauchte, zwischen ihnen hindurchgeschlüpft und rannte auf die Strasse.
Die Kleine achtete nicht auf ihre Umgebung, und so bemerkte sie das Fuhrwerk nicht, das mit mörderischer Geschwindigkeit auf sie zurasten.
„Mami!", rief sie und die dunkelhaarige Frau fuhr herum. Ihre Augen weiteten sich erschrocken und der Korb entglitt ihr, als sie die Gefahr erkannte. Sie lief sofort los, doch sie war zu weit entfernt, um das Mädchen noch erreichen zu können.
Haldir erfasste die Situation mit einem Blick und zögerte keinen Moment. Er rannte los. Das Gespann war dem Mädchen bereits sehr nahe und der Blick aus seinen Augenwinkeln beunruhigte ihn, denn im Gesicht des Fahrers sah er die Erkenntnis viel zu langsam erscheinen. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass der Bauer seine Pferde rechtzeitig zum Halten bringen würde. Die letzte Distanz zu dem zerbrechlichen Körper des Kindes legte Haldir mit einem Sprung zurück.
Die Kleine quietschte, erschrocken von dem plötzlichen Stoß, den sie erhielt und der sie aus der Reichweite der donnernden Hufe trug. Sie stürzte vornüber, doch ihr Schwung wurde von dem weichen Schlamm abgefangen und so ging ihr Protest in einem kleinen Gurgeln unter.
Haldir versuchte sie aus dem Gefahrenbereich zu rollen, doch es war zu spät. Er sah einen Huf direkt auf seinen Kopf heruntersausen und obwohl er auszuweichen versuchte, spürte er den heftigen Schlag kalten Metalls noch an seiner Stirn, bevor das Licht für ihn verschwand.
