@Heitzenedera: Ich hoffe, die ersten Absätze klären die Frage aus der Review? *g*
Kapitel 4
Verschiedene Welten
Haldir erwachte und ärgerte sich sofort darüber, überhaupt eingeschlafen zu sein. Allerdings hatte er keine Nacht seit seinem Aufbruch aus Lorien mehr wirklich geruht und so hatte wohl sein Körper einen kleinen Tribut der Anstrengungen gefordert.
Vor dem offenen Fenster stieg gerade die Sonne über den Horizont und die Geräusche der erwachenden Stadt klangen zu ihm hinein. Er stand vom Bett auf, zog sich seine Stiefel an und trat ans Fenster. Vor dem Haus herrschte reges Treiben. Einige Dienstboten hasteten, offenbar verspätet, durch das Eisentor und tauschten ein paar Worte mit den Torwächtern.
Der Geruch frisch gebackenen Brotes stieg Haldir in die Nase und in diesem Moment begriff er, dass er sich viel zu wohl in diesem Haus fühlte. Es war ein gemütliches, umtriebiges Heim, in dem jeder seinen Platz hatte. Und das machte es doppelt schwierig, in den Menschen Verbrecher zu sehen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, sich das anzueignen, was ihnen nicht gehörte.
Er musste seine Skrupel beseitigen, die Intimsphäre des Geschwisterpaares verletzen, wovor er mehr als einmal zurückgeschreckt war, auch in der vergangenen Nacht.
Entschlossen machte er das Fenster zu und trat in den Gang. Dort war nichts zu sehen, doch er entschied sich, erst einmal etwas zu essen und dann auf den geeigneten Moment für die Durchsuchung der Zimmer zu warten. Er benötigte neben den Dingen, die er gesehen hatte, handfeste Beweise für das Treiben der Gilde. Diebesgut war schnell fortzuschaffen – Papiere sprachen eine völlig andere Sprache.
In der Küche wurde er von einem plumpen Dienstmädchen fast über den Haufen gerannt, das bei seinem Anblick völlig vergaß, eine andere Richtung einzuschlagen. In dem großen, hellen Raum wurde es plötzlich merklich stiller und Haldir musste sich an den Gedanken gewöhnen, dass diese Menschen wahrscheinlich noch niemals zuvor in ihrem Leben einen Elben gesehen hatten.
„Guten Morgen", sagte er höflich.
Sein Blick fiel durch die Fenster und er erhaschte einen Blick auf grüne Baumwipfel, die sich im Wind bewegten. Ein Lächeln glitt über seine Lippen und das schien den Ausschlag zu geben. Die Köchin, eine rundliche Frau mittleren Alters, die von einigen hässlichen Narben im Gesicht und rund um den Hals veranstaltet wurde, schenkte ihm ein breites, fröhliches Grinsen, das sie sehr hübsch und jugendlich wirken ließ.
„Ach, Ihr seid der neue Wachhund für die Herrin! Ich bin Lita und wann immer Ihr etwas zu essen wünscht, mache ich es für Euch. So ein stattlicher Kerl, wie Ihr es seid, hat sicher einen Mordsappetit."
Haldir konnte nur nicken und wurde dann auf eine Bank neben der Gartentür gedrängt, wo er sich niederlassen musste und die nächste halbe Stunde mit allerlei Köstlichkeiten verwöhnt wurde. Mit der Zeit entspannte er sich und als Maeva zur Küchentür hereinkam, ähnlich aufreizend gekleidet wie an dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, fühlte er sich akzeptiert und gemocht. In Hinsicht auf seinen Stand in der Gemeinschaft der Diebe war das ein Vorteil, sagte er sich.
Maeva begrüße ihn mit einem Lächeln und nahm ein hastiges Frühstück zu sich, bevor sie mit Litas Hilfe einige Körbe mit Lebensmitteln packte.
„Kommt mit", sagte sie dann zu Haldir und schnallte sich einen der Körbe auf den Rücken. „Ich zeige Euch die Stadt, wie ihr sie bislang wohl noch nicht gesehen habt."
Bei diesen Worten lächelte sie nicht.
***
Haldir stellte den Korb, den Maeva ihm in die Hand gedrückt hatte, auf den Boden und sah sich erschüttert um.
Er hatte nicht erwartet, innerhalb der ringförmig angelegten Stadtmauern der Hauptstadt des Reiches ein derartiges Elend zu sehen. In dem gesamten Viertel, das sich um das Gildenhaus erstreckte, gab es Hunderte kleine, baufällige Hütten aus Holz, schief genagelt und sicherlich den großen Stürmen nichtgewachsen, die über die Ebenen unterhalb des Gebirges fegten.
Die Straßen waren nicht befestigt und von den Regenfällen vergangener Tage aufgeweicht. Unrat lag überall herum und stank. Das lockte Ratten und anderes Ungeziefer an, das sich nicht von der Anwesenheit der Menschen stören ließ. Angeekelt beobachtet Haldir, wie ein kleines Mädchen in einem Abfallhaufen saß und auf die Bisse der sich gestört fühlenden Nager nur mit müden Bewegungen reagierte, als sie nach etwas zu essen suchte.
„Ganz gleich welcher Herrscher auf dem Thron sitzt, an diesem Bild wird sich nie etwas ändern", sagte Maeva bitter und winkte die beiden bewaffneten Männer, die sie und Haldir begleitet hatten, heran. Die Tücher über den Körben wurden zur Seite gezogen und innerhalb von Sekunden waren sie der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
In Lumpen gekleidete Kinder sausten als erste heran und erhielten Brot und ein wenig Gemüse, danach kamen auch die Erwachsenen und ganz zuletzt die Alten und Kranken. Maeva sorgte dafür, dass jeder einen gerechten Teil bekam und wechselte freundliche Worte mit den Menschen, erkundigte sich nach Beschwerden und der Gesundheit.
Dann holte sie die Frauen ein Stück zur Seite und Haldir beobachtete, wie kleine Beutel aus den tiefen Taschen von Maevas Röcken unauffällig ihren Besitzer wechselten. Auch einige Huren mischten sich unter die Gruppe, verlebt wirkende Frauen jeden Alters, die ihre Körper zur Schau stellten mit einer Aufdringlichkeit, hinter der Verzweiflung zu erkennen war. Obwohl die anderen Frauen sie mit abschätzigen Blicken bedachten, machte Maeva keinen Unterschied bei ihren Zuwendungen, im Gegenteil, sie benahm sich noch ein stückweit herzlicher, als sie es eh schon tat.
Als die Körbe geleert waren, blieben die Menschen noch ein Zeitlang auf der Straße stehen, um miteinander zu reden, doch nach und nach kehrten sie in ihre Häuser und damit in das Elend ihres Lebens zurück.
„Warum habt Ihr den Frauen das Geld gegeben?", erkundigte sich Haldir, als er an Maeva herantrat.
„Weil die Männer das wenige, was sie verdienen, sofort in die nächste Kneipe tragen", gab sie zurück und als sie seiner schockierten Miene ansichtig wurde, erkundigte sie sich: „Gibt es bei den Elben keine Armen?"
„Nein", gab er nach einigem Zögern zu. „Jeder tut das, was ihm bei seiner Geburt bestimmt ist. So wird ein Elb eben Stallmeister oder Bogenschütze oder einfach Künstler, ohne dass er fürchten muss, nicht versorgt zu werden. Der Wald gibt uns alles, was wir brauchen. Die Bäume formen sich durch unseren Zuspruch zu Häusern, in meiner Heimat nennt man sie Talane. Aber am wichtigsten ist wohl, dass jeder Elb den anderen respektiert, so wie er ist."
„Eine ideale Gesellschaft also?" Ihre Stimme klang zur gleichen Zeit skeptisch und spöttisch. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und bedeutete den Männern, zusammenzupacken. Sie schlugen den Weg zurück ein. Nach einer Weile drehte sich Maeva um und meinte trocken: „Nun ja, so gut kann sie nicht sein, wenn sie Euch herausgeworfen hat."
***
Den Rest des Vormittags verbrachten sie in der Stadt und machten einige Besorgungen, vor allem Lebensmittel, die schnell wieder aus der Hand gegeben wurden. Zum Mittagessen kehrten sie ins Haus zurück, bei dem Haldir beinahe einen Eklat in der Küche verursachte, als er Litas Schweinebraten ablehnte. Reichlich entnervt, war er dankbar, dass Maeva und ihr Bruder, der übermüdet wirkte, sich für den Nachmittag in die Bibliothek zurückzogen. Er kam auf den Gedanken, ihnen zu folgen, doch Kaluu stand die ganze Zeit vor der geschlossenen Tür. So würde ihm also nur noch die Nacht bleiben.
Also zog er sich an den einzigen Ort zurück, der ihm Ruhe und Frieden versprach. Der Garten war nicht groß, aber wie versprochen sehr schön angelegt. Begrenzt von den Mauern andere Häuser, reckten sich einige Linden in den leicht bewölkten Himmel. Eine kleine Rasenfläche mit einer Bank lud zum Verweilen ein und selbst einige kleine Blumen hatten sich aus der kargen Erde hervorgekämpft.
Leisen Stimmen murmelten in seiner Nähe und erst konnte er nicht einordnen, woher sie kamen, doch dann erinnerte er sich an das kleine Fenster in der Bibliothek, das er am Abend zuvor gemerkt hatte. Ihm war nicht klar gewesen, dass es zum Garten zeigte, doch nun, da er das Blitzen von Glas hinter einem wilden Busch bemerkte, freute er sich über die Begebenheit.
Leise näherte er sich dem Fenster, das zwar geschlossen war, seinen Ohren jedoch nichts entgegenzusetzen hatte. An die weinüberrankte Gartenmauer gepresst, lauschte er.
Maevas Stimme klang gepresst.
„Dieser Elb in meinem Nacken macht mit verrückt. Er sieht alles, hört alles und macht mich mit seiner Art verrückt. Der hat keine Ahnung vom wahren Leben! Vom Wald in die Stadt! Du kannst eher etwas mit ihm anfangen als ich! Stell ihn in die Ecke, ist ein schöner Anblick!"
„Jetzt bist Du ungerecht!" Dolphren klang ungeduldig. „Du hast mit jedem neuen Leibwächter anfangs immer ein Problem und das legt sich mit der Zeit. Wenn es eine entsprechend ausgebildete Frau gäbe, dann würde ich sie Dir schicken, aber-."
„Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen!"
„Ja, ich weiß. Aber denk doch an die Kleine. Du kannst nicht immer auch ein Auge auf sie haben. So wie gestern. Haldir hat bewiesen, dass er sich einsetzen kann."
Maeva schwieg eine Zeitlang, und als sie das nächste Mal sprach, schwankte ihre Stimme bedenklich.
„Willst Du mir damit sagen, dass ich nicht auf mein Kind aufpassen kann? Das war ein Unfall und Kinder haben nun mal Unfälle."
„Ja, Kinder, deren Mütter sich den ganzen Tag um andere Menschen kümmern und Nachts Einbrüche verüben und die solche Sehnsucht haben, dass sie einfach so auf die Straße laufen." Dolphrens Stimme klang hart. „Wenn Du schon keine Zeit für sie hast, dann sorge wenigstens für Ihre Sicherheit und vergiss Deine Aversionen gegen Männer."
Er erhielt keine Antwort mehr. Schritte verklangen und eine Tür knallte wenig später hart ins Schloss.
