Kapitel 6
Verdacht
Der Aufprall presste Haldir kurzzeitig die Luft aus den Lungen, doch als er frische Luft einatmete, die aus der geöffneten Tür des Lagerhauses hineinzog, kehrten seine Lebensgeister mit einem Schlag zurück. Erstaunt erkannte er, dass ein Stapel Stoffe seinen Fall abgebremst hatte und er außer ein paar blauen Flecken und der Verbrennung im Gesicht unversehrt war.
Er rollte sich herum und erblickte Maeva, die ebenfalls auf den Stoffen gelandet war. Doch sie hatte weniger Glück gehabt als er, denn der herabgestürzte Balken lag halb über ihrem reglosen Körper. Sie so zu sehen war wie ein unwillkommener Schlag in die Magengrube für ihn und er beeilte sich, zu ihr zu gelangen und den Balken zur Seite zu schieben.
An ihrer Stirn klaffte eine hässliche Platzwunde, doch auch wenn keine weiteren äußerlichen Verletzungen zu sehen waren, war es zu erwarten, dass der Balken zumindest ein paar Rippen gebrochen hatte.
Hilfreiche Arme streckten sich ihm entgegen und halfen dabei, Maeva von dem Stapel Stoff herunter und aus der Halle zu tragen. Draußen wütete das Unwetter mit unverminderter Stärke, doch es schien nicht die Kraft zu haben, das Feuer zu löschen.
„Weg hier!", rief einer der Männer und Haldir lud sich Maevas schlaffen Körper auf die Schultern. Dann folgte er den Dieben durch das Gewirr der Straßen und Gassen, die sie zum Gildenhaus zurückführten.
Sie verzichteten darauf, den Tunnel zu nehmen, dessen Verlauf sich Haldir eingeprägt hatte, sondern rannten durch den eigentlichen Eingang des Gildenhauses. Die Torwächter sahen sie schon von weitem kommen und rissen das Gatter weit auf. Die erschrockenen Hunde jaulten auf, als die Männer vor Haldir die Haustür aufstießen und laut nach Dolphren und einem Arzt brüllten.
Haldir brachte Maeva in ihr Schlafzimmer, das er unverschlossen vorfand. Es war ein großer, gemütlicher Raum, der ziemlich unordentlich war. Vorsichtig legte er sie auf dem Bett ab und betrachtete ihr blasses Gesicht mit einer seltsamen Mischung von Gefühlen, die er sich nicht erklären konnte.
Dolphren humpelte in den Raum, dicht gefolgt von Kaluu.
„Was ist geschehen?", fragte Dolphren gereizt und beugte sich über seine Schwester. Seine Finger suchten ihren Puls und er atmete ein wenig auf.
„Wir wurden überrascht, als das Lager bereits in Brand stand und konnten uns nur mit knapper Mühe retten. Ein Balken fiel herunter. Es tut mir leid, ich konnte sie nicht davor bewahren."
Dolphren murmelte etwas, das Haldir nicht verstand, aber er erkannte, dass es besser war, sich zurückzuziehen.
***
„Mamas Tür ist abgeschlossen", sagte eine kleine Stimme und Haldir, der auf seinem bett lag und an die Decke starrte, fuhr zusammen. Alys stand in seiner wie stets geöffneten Zimmertür und lächelte verunsichert. Sie trug ein weißes Nachthemd und wirkte verschlafen, in ihren großen Augen schimmerte Angst. „Ihr ist etwas passiert, oder?"
Haldir öffnete den Mund, um etwas zu sagen, fühlte sich aber etwas überfordert. Kinder machten ihn, wenn er sie denn einmal traf, nervös. Sie waren klein, zerbrechlich und eigentlich noch keine fertigen Menschen. Aber Alys bracht es fertig, eine Seite ihm ihn anzurühren, die er an sich selbst noch nicht kannte.
„Komm, setz Dich her", bat her und half Alys auf die Matratze. In einer Wolke weißen Stoffes krabbelte sie ans Kopfende und kuschelte sich in eines der großen Kissen. Haldir setzte sich neben sie. „Ich war heute Abend mit Deiner Mutter unterwegs und sie ist hingefallen. Es wird sicher alles wieder gut."
Alys schüttelte den Kopf.
„Du musst gar nicht lügen, Haldir. Ich weiß, was Mama macht. Sie klaut anderen Leuten Dinge, damit ich eine gute Erziehung bekomme. Sie hat das mal zu Dolphren gesagt und ich habe zugehört." Plötzlich warf sie sich an Haldirs Brust, umschlang ihn mit den dünnen Ärmchen und begann zu weinen. Etwas hilflos nahm er sie in den Arm und streichelte ihre zuckenden Schultern. „Ich will gar nicht, dass ich etwas lerne, wenn Mama dann immer verletzt wird."
Bittere Tränen durchnässte seine Tunika.
„Ich bin mir sicher, dass Maeva nur das Beste für Dich will. Aber wenn Du willst, werde ich mit ihr sprechen."
Alys nickte und hob den Kopf. Sie lächelte wieder etwas.
„Du bist ja doch ganz nett, Haldir."
„Danke schön", sagte er und blickte hinunter auf das kleine Mädchen, das sich vertrauensvoll wieder an ihn kuschelte. Er durfte nicht zulassen, dass sich auch noch dieser Bewohner des Hauses in sein Herz schlich, denn er hatte begriffen, dass er Maeva und Dolphren mochte und sich immer schwerer mit dem Gedanken tat, sie zu verraten.
Eine kleine Weile verging, in denen er seinen Gedanken nachhing. Auf dem Flur erklangen Schritte und Türenschlagen, doch niemand kam, um ihn zu sehen. Irgendwann schlief Alys ein, er merkte es an ihren ruhigen Atemzügen. Er wartete, bis er sicher war, dass sie nicht erwachen würde, dann stand er auf und trug sie vorsichtig in ihr Zimmer zurück.
Sorgfältig legte er sie ins Bett und deckte sie zu. Für einen Moment setzt er sich auf die Bettkanten und sah sich um. Er sah einen kleinen Tisch, auf dem sich Bücher und Lernmaterial stapelten, doch auch genug Spielzeug für ein normales Kind. Dass Alys sich in ihre Situation eingeengt fühlte, musste wirklich daran liegen, dass sie ihre Mutter vermisste.
Er wusste nicht ganz, warum er sich bereiterklärt hatte, für das Kind einzustehen, doch Versprechen mussten gehalten werden.
***
Vor der Tür von Alys Zimmer wartete Dolphren, die Arme verschränkt, an die Wand gelehnt.
„Der Arzt ist grade bei ihr", sagte er. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Sie ist auch schon wieder wach und wenn sie Glück hat, kommt sie mit ein paar gebrochenen Rippen davon."
„Das ist gut", meinte Haldir, dem nicht recht einfiel, was er sagen sollte.
Dolphren druckste etwas herum.
„Nun ja, sie hat mir erzählt, was Ihr getan habt. Ohne Euch wäre die ganze Sache nicht so glimpflich abgelaufen." Er stieß sich von der Wand ab. „Kommt, trinkt etwas mit mir."
Er humpelte mühsam den Flur entlang und die Treppe hinunter. Haldir folgte ihm in das Arbeitszimmer und setzte sich in den Besucherstuhl, während Dolphren einige Lampen entzündete und aus seinem Regal eine Karaffe und zwei Gläser nahm.
Haldir nahm den edlen Wein dankend an und trank einen Schluck. Anerkennend hob er die Augenbrauen.
„Ein guter Tropfen", sagte er. „Wo habt Ihr ihn her?"
„Ich habe ihn nicht gestohlen, wenn es das ist, was Ihr damit meint." Dolphren grinste, aber es lag Bitternis in dieser Regung. „Ich habe in neues Standbein für mich entdeckt. Wir besitzen eine kleine Handelsflotte, die die Küsten bereist. Zwar hatten wir hin und wieder Begegnungen mit Piraten, aber ich bin optimistisch für die Zukunft."
„Ihr wollt also das Haus dichtmachen und ehrlich werden, ist es das, was Ihr mir zu sagen versucht?", erkundigte sich Haldir ungläubig. Dolphren schwieg und stürzte erst einmal ein Glas Wein herunter, bevor er zu einer Antwort anhub.
„Ich bin ein Krüppel mit einem viel zu weichen Herzen und überlasse einen Großteil meiner Unternehmungen und auch die Abrechnungen einer Frau. Was denkt Ihr, was die anderen Diebesfürsten von uns halten? Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie versuchen, sich dieses Haus unter den Nagel zu reißen. Und ich werde dem nicht viel entgegenzusetzen haben mit einem Meer von opportunistischen Dieben und einigen Huren und Bettlern, die uns für unsere guten Werke verteidigen werde."
Dazu fiel Haldir nicht viel ein, doch eine Frag drängte sich ihm unwillkürlich auf, als er an die Geschehnisse der vergangenen Nacht dachte.
„Ist es eigentlich üblich, dass sich eine große Menge von Bewaffneten in den Lagerhäusern verbirgt?"
„Sie haben niemals mehr als drei oder vier Wachen. Ich weiß, was Ihr überlegt, und ich bin zu demselben Schluss gekommen."
„Jemand hat das Unternehmen verraten." Haldir entsann sich an die Bewegung auf dem Dach. „Ich habe eine schwarz gekleidete Figur gesehen und meine, dass sie nicht bei dem Kampf im Lager teilgenommen hat. Ein Überwacher ohne Zweifel."
„Ich mache mir weniger Gedanken darüber, an wen wir verraten wurden." Dolphren presste die Fingerspitzen zusammen und warf Haldir einen sehr nachdenklichen Blick zu. „Viel wichtiger ist es, wer in diesem Haus die undichte Stelle ist."
