Kapitel 7
Annäherung
In dieser Nacht schloss Haldir seine Tür und schlief traumlos. Dolphrens Verdacht beunruhigte ihn weniger, als er gedacht hatte. Wenn sich der Hausherr auf einen möglichen Verräter konzentrierte, dann sicherlich nicht auf ihn. Er war erst knapp eine Woche im Haus und nicht eingeweiht in die Vorgänge und Diebeszüge. Eigentlich kam ihm der Verrat sehr gelegen. Darüber hinaus wusste er, dass Dolphren ihm soweit traute, ihm von seinen Zukunftsplänen zu erzählen. Dass er Maeva gerettet hatte, kam noch hinzu, um ihn im Haus ein wenig beliebter zu machen.
Am nächsten Morgen wachte er gut erholt auf, obwohl seine Lunge noch ein wenig von dem Rauch gereizt war. Nachdem er in die Küche gegangen und erfahren hatte, dass der Arzt Mava drei Tage Bettruhe verordnet hatte, beschloss er, zum ersten Mal seit seiner Ankunft das Haus allein zu verlassen.
Sein Plan war es, sich zum „Grünen Lindwurm" zu begeben, um beim Wirt den Stand der Dinge zu erfahren. Auf dem Weg schlug er mehrere Haken, um sicherzugehen, dass er nicht verfolgt wurde, und tatsächlich bemerkte er einen Mann, der sich auf seine Ferse heftete. Also bog Haldir in eine Gasse ein und blieb direkt hinter der Ecke stehen. Wenig später bog sein Verfolger um die Ecke und fand sich Sekunden später von Haldir an die Wand gepresst wieder.
„Wer schickt Dich?", erkundigte er sich mit einer überaus freundlichen Stimme, die dem anderen Mann den Angstschweiß ins Gesicht trieb. „Wer immer es ist, sag ihm, dass ich es nicht schätze, überwacht zu werden."
Er ließ den Mann fahren und bereute es einen Moment später, denn dieser hatte plötzlich ein Messer in der Hand und versuchte, es ihm in den Magen zu rammen. Haldir fing die Hand ab und schlug sie einmal mit solcher Wucht gegen die Wand, dass er Knochen knacken hörte und der Mann mit einem gequälten Schrei die Waffe fallen ließ. Dann riss er sich los und war wenig später im Gewühl der Passanten verschwunden.
Haldir sah dem Flüchtenden grimmig nach. Er hatte das dringende Gefühl, dass es nicht Dolphren gewesen war, der ihn hatte verfolgen lassen. Zutiefst nachdenklich, setzte er seinen Weg fort.
Der Wirt der „Lindwurms", Urdas, ein bärig aussehender Mann mit einem sympathischen Lächeln, führte ihn sofort in ein Hinterzimmer.
„Und, habt Ihr Euch gut eingelebt?", erkundigte er sich und kramte aus seiner Schürze ein Pergament hervor, da er Haldir überreichte. „Instruktionen für Euch."
Haldir lag sich das Schriftstück kurz durch, das in Aragorns schwungvoller Handschrift verfasst war. Er wies noch einmal darauf hin, dass er unbedingt schriftliche Beweise für das Treiben der Gilde beschaffen musste und bat darum, über neue Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten zu werden.
Also bat Haldir den Wirt um Papier, Tinte und Feder und verfasste seinerseits ein kurzes Schreiben über die Zustände im Gildenhaus, über das Tunnelsystem, und das unterirdische Tunnelsystem. Er wies auch darauf hin, einen Eingang zu kennen, bat aber darum, mit einer Durchsuchung der Grotte zu warten, bis er Genaueres über die Geschäfte der Gilde herausgefunden hatte.
Obwohl es ihm nicht klug vorkam, vervollständigte er sein Schreiben mit einer Beschreibung der Zustände in dem Viertel um das Haus und erwähnte am Rande noch Maevas Einsatz für die Armen.
Am Ende faltete er den Brief zusammen und gab ihn Urdas.
„Hat sich jemand nach mir erkundigt?"
„Ja, tatsächlich. Eine hübsche Dirne mit schwarzem Haar hat sich im ganzen Viertel nach Euch erkundigt", sagte der Wirt und räumte die Schreibutensilien fort. „Ich habe dann ein paar Gerüchte über Eure missliche Lage gestreut und als sie mich auf Euch ansprach, gab ich ihr die gewünschte Auskunft."
„Sehr gut", sagte Haldir. Maeva und Dolphren konnten also nun auf mehr vertrauen als allein auf sein Wort.
***
„Wenn Ihr auf den Markt wolltet, hätte ich Euch Geld mitgegeben", sagte Dolphren, als Haldir das Haus betrat. Der blonde Mann stand mit einigen Dienstboten im Flur und war dabei, Anweisungen für den Tag zu erteilen. „Ich nehme an, Ihr benötigt einige persönliche Dinge?"
„Ja, tatsächlich", sagte Haldir und spann seine erfundene Geschichte weiter. „Die ersten paar Tage hier in der Stadt kam ich im „Grünen Lindwurm" unter, doch mein Geld ging schneller aus als erwartet. Ich musste dem Wirt meinen Bogen als Pfand dalassen und würde ihn gerne zurückholen." Eine gute Erklärung, um das Gasthaus noch einmal aufzusuchen. „Ich brauche ein Silberstück."
Dolphren amüsierte sich über Haldirs gespieltes Unbehagen bei der Geschichte.
„Ich werde Euch eine Börse zukommen lassen. Gehen Elben eigentlich gerne einkaufen?"
„Da ich bislang nicht die Möglichkeit dazu hatte, das herauszufinden, kann ich die Frage nicht beantworten", gab Haldir mit einem Augenzwinkern zurück.
Dolphren lachte und die Dienstboten grinsten.
„Meine Schwester hat übrigens nach Euch gefragt. Besser gesagt, sie hat den ganzen Haushalt verrückt gemacht, um herauszufinden, wo Ihr seid. Jetzt schläft sie gerade, aber heute Nachmittag kommt Ihr über ein Verhör nicht herum."
Haldir ahnte, dass der Begriff des „Verhörs" nicht zu weit gegriffen war.
„Kann ich Euch kurz allein sprechen?" Dolphren sah ihn verwundert an, dann nickte er. Die Dienstboten reagierten, ohne dass ihr Herr ihnen einen Wink geben musste. Als die beiden Männer allein warn, erkundigte sich Dolphren:
„Was gibt es denn?"
„Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, aber ich wurde auf dem Weg in die Stadt verfolgt. Falls Ihr den Mann geschickt habt, dann solltet Ihr ihm sagen, dass es nicht nötig war, mich gleich umbringen zu wollen."
Dolphren wurde blass und machte sichtlich geschockt einen Blick zurück.
„Ich gebe zu, Euch einen Mann hinterhergeschickt zu haben, aber er hat Euch im Gewühl verloren. Umbringen, sagtet Ihr? Wie sah er aus?"
„Groß, kräftig, braunes Haar und unordentlicher Bart, blauen Augen und eine Narbe über dem rechten Auge."
„Nein." Dolphren schüttelte den Kopf. „Das ist keiner von meinen Männern. Vielleicht wollte er Euch nur ausrauben."
„Er versuchte mich in dem Moment zu erstechen, als ich fragte, wer ihn geschickt hatte." Haldir sah Dolphren prüfend an, doch er konnte kein Zeichen dafür erkennen, dass der Mann ihn anlog. „Es könnte etwas mit den Vorfällen von gestern zu tun haben. Vielleicht wird irgendjemand nervös, weil ich jetzt für Euch arbeite."
„Sehr gut möglich", murmelte Dolphren. „Entschuldigt mich, ich muss meinen Leuten ein paar neue Anweisungen deswegen erteilen. Wenn etwas Derartiges noch einmal vorkommt, lasst es mich sofort wissen."
Haldir nickte und sah Dolphren hinterher. Er wusste nicht ganz, warum er von dem Geschehnis berichtet hatte, denn eigentlich lag es nicht in seinem Interesse, dass der Verräter allzu schnell gefunden wurde. Das seltsame Gefühl der Verantwortung, das er für die Menschen des Gildenhauses empfand, hatte ihn wieder einmal hingerissen Und er war nicht glücklich damit.
***
Auf sein Klopfen erklang sofort eine Antwort und so betrat Haldir Maevas Zimmer. Zu seiner Überraschung lag sie nicht im Bett, sondern sah an ihrem mit Papieren überhäuften Schreibtisch. Die Gänsefeder, die sie in der Hand hielt, kratzte über Pergament, als sie schwungvoll ihre Unterschrift unter das Schriftstück setzte und dann aufblickte.
Sie war noch etwas blass und die Platzwunde erinnerte noch daran, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Aber sie schien sich von solchen Lappalien wie Verletzungen nicht davon abhalten zu lassen, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Haldir erkannte, dass er wichtige Dokumente wahrscheinlich in ihrem Zimmer suchen musste.
„Hallo", sagte sie und lächelte ihn an. „Habt Ihr alles gut überstanden?"
„Mir geht es gut, vielleicht habe ich etwas zuviel Rauch geschluckt. Ihr allerdings solltet im Bett sein."
„Wie väterlich", gab sie zurück, schien aber nicht böse über seinen Rat zu sein. Insgesamt wirkte sie entspannter als zuvor. Vorsichtig stützte sie sich mit den Händen auf der Tischplatte ab, als sie aufstand und das Gesicht verzog. „Der Arzt meint, es wären drei Rippen angebrochen, aber ich denke, es sind vier. Reichlich unangenehm."
Sie trat auf ihn zu und er stellte fest, dass sie für eine Menschenfrau erstaunlich groß war. Unter dem locker sitzenden grünen Kleid, das die Verbände verbarg, konnte er die Formen ihres Körpers nur angedeutet erkennen, doch er spürte dieselbe Art von Erregung wie an dem Tag, an dem er sie auf der Strasse gesehen hatte. Sie wirkte auf ihn, Teil seines immer größer werdenden Problems.
„Warum könnt Ihr mich nicht leiden?" Noch einige Worte mehr, die ihn an diesem Tag unbedacht über die Lippen kamen. Er hätte sich am liebsten in die Zunge gebissen, doch dann war es heraus.
Maeva wirkte verdutzt, doch dann kehrte ihr Lächeln zurück. Der Blick ihrer Augen, die dieselbe ungewöhnliche Färbung zwischen Grün und Braun aufwiesen wie die ihrer Tochter, war warm und nicht mehr so abweisend wie sonst.
„Ich kann nicht behaupten, dass es einfach für mich wäre, einen fremden Mann einfach in mein Leben aufzunehmen, weil mein Bruder wieder einmal beschlossen hat, dass ich nicht alleine zurechtkomme. Nach gestern Abend bin ich jedoch zu der Überzeugung gekommen, dass er nicht ganz Unrecht hatte. Eure Idee hat uns allen das Leben gerettet."
Haldir winkte ab, ein wenig verlegen.
„Nicht der Rede wert. Dafür bin ich da."
Maeva ließ ihren Blick über ihn wandern und er erkannte die Faszination, die sie schon den ersten Tag übermannt hatte, als sie an seinem Bett gesessen hatte. Ihm wurde plötzlich warm und sein Kragen zu eng.
„Sind alle Elben so bescheiden?", fragte sie und man sah ihr an, dass sie ein unangenehmes Schweigen verhindern wollte.
„Nur wenn es zweckdienlich ist." Er hob eine Augenbraue, eine Geste, mit der er lorische Soldaten meistens in die Flucht schlug. Maeva legte lediglich amüsiert den Kopf zur Seite.
„Und welchen Zweck verfolgt Ihr, Herr Elb?"
„Ich möchte, dass wir uns gut verstehen." Das war nur ein Teil der Wahrheit. Ein sehr kleiner Teil. Ihr Maiglöckchengeruch stieg ihm in die Nase, der nicht von irgendeinem Parfum stammen konnte, so dezent war er. Irgendwie kam es ihm so vor, als ständen sie viel zu eng beieinander. Kaum eine Handbreit Luft blieb noch zwischen ihnen und weder Maeva noch er schienen willens, das aufzugeben.
Quietschend öffnete sich die Verbindungstür und Alys spähte hinein. Haldir trat automatisch einen Schritt zurück. Die Anspannung verflog abrupt, als das Mädchen sich völlig unschuldig erkundigte:
„Habe ich Euch beim Küssen gestört?"
