Kapitel 8

Schmerzhafter Zweifel

Maeva gab ein Geräusch von sich, das einem Lachen nahe kam. Sie griff sich an die Rippen und wurde etwas blasser. Ihre Hand tastete in der Luft nach einem der Pfosten ihres Himmelbetts.

Alys schlug die Hand vor den Mund.

            „Habe ich was Falsches gesagt, Mama?"

            „Nein, alles in Ordnung. Ich weiß wirklich nicht, wie Du so ein freches Ding worden konntest bei so einer lieben Mutter wie mir."

Alys streckte als Antwort die Zunge heraus und huschte sehr diskret in ihr Zimmer zurück. Die Tür schlug zu und Haldir griff gerade noch rechtzeitig nach vorne, um zu verhindern, dass Maeva zusammenbrach.

Ihr Gesicht hatte endgültig jede Farbe verloren und erst als er sie vorsichtig zum Bett geführt und ihr herausgeholfen hatte, kam sie wieder ein wenig zu Atem und meinte mit Galgenhumor:

            „Wenn auch noch das Lachen wehtut, dann frage ich mich, was in meinem Leben falsch läuft."

            „Ihr wolltet nicht, dass Alys etwas merkt", stellte Haldir fest und ließ sich in Ermangelung einer Sitzgelegenheit auf der Bettkante nieder. Die Intimität der Situation war gebrochen, doch sie verwirrte ihn trotzdem.

Maeva verzog das Gesicht, als sie versuchte, sich etwas aufsetzen. Haldir griff sich ein Kissen uns hob es ihr unter den Rücken. Sofort konnte sie etwas leichter atmen.

            „Alys weiß schon genug davon, wie ich mein Leben führe und macht sich genug Sorgen, obwohl ich alles dafür tue, dass sie von der Brutalität der Strasse abgeschirmt wird. Ihr Kindermädchen war lange Zofe am Hof und wird ihr alles beibringen, was sie braucht, um einmal eine Dam zu werden."

            „Warum wollt Ihr, dass sie eine Dame wird?", erkundigte sich Haldir, obwohl er wusste, dass es ihn nichts anging. Maeva blickte ihn an, als habe er ihr soeben eröffnet, er sei in Wirklichkeit eine Frau.

            „Sehr Euch doch um", sagte sie scharf und machte eine Geste, die wütend und hilflos zugleich wirkte. „Glaubt Ihr, dass das Kind einer Diebin eine Chance hätte, etwas Besseres zu werden als ihre Mutter?"

            „Ich glaube, dass all Eure guten Vorsätze und Pläne nicht darüber hinwegtäuschen können, dass Alys sich im Grunde genommen sehr einsam fühlt und lieber ein Gassenklind wäre mit einer Mutter, die Zeit hat, als eine Dame, die ihre Mutter schon lang an deren ehrgeizige Pläne verloren hat." Maeva ließ den Kopf in das Kissen fallen und schloss die Augen. Haldir wusste, dass er sie tief getroffen hatte mit seinen Worten, mit denen er sich zu Alys Fürsprecher gemacht hatte. „Soll ich gehen?", fragt er leise. Dass er derart seine Kompetenzen überschritten hatte, erschrak ihn ebenso wie sie. In Lorien hatte er stets gewusst, wo sein Platz war, er hatte Befehl befolgt und sonst wenig Gesellschaft gehabt. Sich mit all den Menschen im Gildenhaus auseinandersetzen zu müssen war eine Herausforderung, die zu meistern ihm große Probleme bereitete.

            „Bitte", sagte sie kaum hörbar.

Haldir stand vorsichtig auf, um die Matratze so wenigen Erschütterungen auszusetzen wie möglich und ging zur Tür. Eine Hand auf der Klinke, konnte er es nicht verhindern, den Kopf noch einmal zu drehen und zu ihr zu sehen. Betroffen sah er die Feuchtigkeit, die unter ihren Lidern den Weg über ihre Wangen fand und fühlte sich abscheulich.

***

Die nächsten drei Tage verbrachte Haldir entweder in der Bibliothek, um seine Kenntnisse der menschlichen Schrift zu verbessern oder machte sich im Haushalt nützlich. Die Köchin hatte nun endgültig einen Narren an ihm gefressen und versuchte sogar, ein elbisches Gericht nachzukochen, das Haldir tatsächlich schmeckte.

Maeva bekam er kaum zu Gesicht, auch wenn sie sich den Anordnungen des Arztes widersetzte und viel im Haus. Alys war, wenn er sie sah, sehr ruhig. Sie schien die Stimmung im Haus sehr mitzunehmen und es tat Haldir leid, dass es so war.

Am Abend eines regnerischen Tages warf er sich seinen Mantel um und verließ ungehindert das Haus. Dieses Mal wurde er nicht verfolgt und gelangte ungehindert zum „Grünen Lindwurm". Die Schankstube quoll vor Gästen über, die bei dem scheußlichen Wetter Unterschlupf und etwas Warmes im Magen suchten.

Wäre Haldir noch vor wenigen Wochen vor solch einer Ansammlung von Menschen in einem kleinen Raum zurückgeschreckt, so durchquerte er an diesem Tag die Menge ohne mit der Wimper zu zucken und setzte sich an einen gerade frei gewordenen Stuhl am Tresen – der vorherige Besitzer war betrunken auf dem dreckigen Boden aufgeschlagen.

Urdas hob den Kopf und blickte ihn an.

            „Was kann ich für Euch tun?", erkundigte er sich in geschäftsmäßigem Ton und musterte ihn, als wolle er herausfinden, wie viel Geld er an diesem Tag in die Kasse wandern lassen wollte.

            „Erinnert Ihr Euch an mich? Ich habe meinen Bogen bei Euch gelassen und hab nun das Geld, um ihn auszulösen."

            „Aaah, ja, ich erinnere mich." Urdas zwinkerte ihm zu. „Glück für Euch. Ein so schönes Stück, ich hätte ihn fast weiterverkauft. Es hat sich ein Interessent gemeldet. Er dürfte jede Minute eintreffen, dann könnt Ihr vielleicht über den Verkauf verhandeln."

Urdas eindringlicher Blick verriet Haldir mehr als seine freundlichen Worte. Er würde bleiben müssen und sehen, was der Wirt ihm mitteilen wollte.

Einige Zeit verging, in der Haldir einen halben Krug Wein trank und den Schankraum im Auge behielt.

Als sich eine dunkele Gestalt in einem hochgeschlossenen Kapuzenmantel durch die Tür schob, unauffällige wie jeder andere aus dem Unwetter eintretende Gast, und sofort in die Richtung der Hinterzimmer ging, nickte Urdas ihm zu. Haldir wartete noch einige Moment, dann stand er auf und folgte.

***

Aragorn schlug seine Kapuze zurück und setzte sich an den kleinen Tisch in dem Zimmer, in dem Haldir sich mit Urdas bereits einmal getroffen hatte. Mit sichtlichem Genuss trank er einige Schlucke von dem warmen Gewürzwein, den der Wirt ihnen gebracht hatte, bevor er sich wieder seinen anderen Gästen widmete.

            „Also", sagte er. „Du hast Probleme und wohl größere, als ich erwartet hatte."

            „Was ist der Grund, dass Du mich, einen Elben, für diese Aufgabe ausersehen hast? Weil Du dachtest, ich würde keine Bindung zu den Menschen aufbauen, mit denen ich mein Tage verbringe?"

            „Offen gesagt ja." Aragorn wies nachdrücklich auf dem Stuhl ihm gegenüber und Haldir setzte sich zögerlich. „Du kommst aus einem völlig abgeschlossenen Umfeld. Du kennst außer Lorien nicht viel, nur Elbenheime. Ich habe mich mit Arwen über diesen Punkt unterhalten. Da ich weiß, dass sie starke Probleme hatte, sich mit den Menschen gefühlsmäßig zu arrangieren, dachte ich, es müsste Dir ebenso gehen und würde Dir die nötige Distanz verleihen, die Du für Deine Ermittlung benötigst."

            „Ehrlich gesagt ist es mir unbegreiflich, warum es überhaupt geschehen ist." Haldir füllte den zweiten Becher für sich und stürzte den Becher mit einem Zug hinunter. Der warme Wein hinterließ eine angenehme Spur bis in seinen Magen und beruhigte seine gereizten Nerven ein wenig. „Es gelingt mir nicht, die Bewohner des Hauses als Verbrecher zu sehen, wenn ich ihre Sorgen und Nöte tagtäglich erlebe. Ich bin als Leibwächter für die Hausherrin eingeteilt und weiche ihr kaum von der Seite."

Aragorn schmunzelte in seinen Becher hinein, doch seine Augen blickten weiterhin ernst.

            „Und dass sie jung und hübsch ist, hat nichts damit zu tun?"

            „Woher weißt Du - ?"

            „Geraten." Der König stellte das Gefäß hart ab und seine Brauen zogen sich nachdenklich zusammen. „Haldir, lass mich offen reden. Du bist in den Kreisen der Gilde schneller aufgenommen worden, als ich dachte. Wenn Du jetzt gehen würdest, könnte ich es durchaus verstehen, aber Du würdest es mir nicht einfach machen, meine Position hier in der Stadt zu sichern. Wenn Du bleibst, musst Du Deine Zuneigung in den Griff kriegen. Ich vertraue auf Dich, sonst hätte ich Dich nicht rufen lassen."

Aragorns letzter Satz gab den Ausschlag. Haldir straffte seine Gestalt und erhob sich.

            „Ich werde Dich nicht enttäuschen. Du bekommst Deine Verbrecher."

            „Gut." Aragorn nickte und Haldir erkannte, dass der Freund der vergangenen Tage dem König gewichen war. Er wandte sich zum Gehen, als ihn die Stimme des anderen Mannes noch einmal zurückrief. „Du kennst den Zugang in die Höhle und damit auch in das Gildenhaus. Warte nicht zu lange, bis Du ihn mir mitteilst, ja?"

Haldir sparte sich eine Antwort und kehrte in den Schankraum zurück. Urdas stellte keine Fragen, sondern holte den Bogen und den Köcher und übergab sie an ihren rechtmäßigen Besitzer. Haldir reichte dem Wirt noch eine Silbermünze und trat dann hinaus in die Nacht.

Noch immer stürmte und regnete es, so als hätten sich sämtliche Wolken des Landes über der Hauptstadt versammelt. Der Wind blies sofort seine Kapuze zur Seite und er sparte sich, sie wider aufzusetzen. Die Strassen waren wie leergefegt und nur vereinzelte, dick in Umhänge eingehüllte Personen eilten an Haldir vorbei, ohne ihn zu beachten.

Im Gildenhaus brannte überall Licht, als er eintraf und bevor er überhaupt das Gatter erreicht hatte, erkannte er, dass etwas vorgefallen sein musste.

Die Wächter standen trotz des scheußlichen Wetters vor der Tür, bei ihnen noch einige der Hausangestellte, die normalerweise längst in ihrer eigenen Unterkunft einige Straßen weiter hätten sein müssen. Sie waren bewaffnet und trugen Laternen bei sich.

Als Haldir auf den Hof trat, flog die Haustür auf und Maeva stürmte heraus, ihren Umhang verschließend.

            „Was ist los?", fragte Haldir alarmiert. Maeva blickte ihn an, die Augen voller Angst und Pein.

            „Alys ist fort."