Gedanken im Dunkeln

Denn die einen stehn im Dunkeln

Und die andern stehn im Licht.

Und man sieht nur die im Lichte,

die im Dunkeln sieht man nicht.

Berthold Brecht / K. Weill, Dreigroschenoper

20. August 1997, 11 Uhr Abends

~ Kerker, Hogwarts ~

Erzählt von Albus Dumbledore

Die Kerker von Hogwarts sind ein Ort der Stille und der Einsamkeit, kalt und dunkel. Ich betrete leise den finsteren Raum, und flüstere „Incendio". Das Feuer im Kamin beginnt daraufhin zu prasseln, und verbreitet schwaches Licht in Severus' Quartier. Meine Augen wandern durch den großen Raum: Die flackernden Flammen werfen Schatten an die steinernen Wände.

Am Schreibtisch liegen einige sehr alte Bücher über Zaubertränke und eine halb leere Schriftrolle mit Severus' klarer, schwungvoller Schrift. Der letzte Satz ist unvollendet. Spritzer von Tinte deuten auf einen hastigen Abbruch hin, und die achtlos daneben geworfene Schreibfeder bestätigt dies. Sorgfältig schraube ich das Tintenfass zu, und lege die Feder an ihren Platz.

Seufzend nehme ich in einem Lehnstuhl neben dem Kamin Platz. Meine Gedanken schweifen zurück. Es ist noch keine Stunde her, dass ich mit Minerva bei einem Glas Whisky gemütlich in meinem Wohnraum saß, vertieft in eine Schachpartie. Wir besprachen gerade einige Details zu den bevorstehenden Feierlichkeiten anlässlich der 1000-Jahrfeier der Gründung Hogwarts, als plötzlich die Tür zu meinem Quartier aufgerissen wurde und Severus hereinstürmte. Er war bleich. Unter seinen schwarzen Augen waren dunkle Ringe, und er hielt seinen linken Unterarm umklammert.

„Albus, er hat mich gerufen. Ich muss gehen."

Bestürzt sah ich ihm in die Augen. „Das kommt unerwartet... Das letzte Treffen ist noch nicht so lange her. Gib auf dich Acht, Severus!"

Er presste die Lippen zusammen und wandte sich ab. „Ich erstatte gleich nach meiner Rückkehr Bericht."

Mit wehendem Umhang eilte er aus dem Zimmer, die Treppe hinab. Besorgt blickte ich ihm nach.

Minerva war blass. Nervös fragte sie: „Wann wird das zu Ende sein? Er sieht so erschöpft aus! Lange kann er dieser Belastung nicht mehr standhalten! Er nimmt große Risiken auf sich, indem er für den Orden spioniert. Und ständig diese Qualen, die Schmerzen durch den Cruciatus-Fluch, denen der Dunkle Lord ihn aussetzt! Albus, können wir gar nichts tun?"

Leise erwiderte ich: „Ich wünschte, ich könnte ihm helfen. Ständig bringt er für uns sein Leben in Gefahr...und ich fürchte, irgendwann wird Voldemort dahinterkommen. Doch ich weiß keinen Ausweg! Die Informationen, die wir durch ihn erhalten, haben schon Unzähligen das Leben gerettet. Außerdem fürchte ich, dass es für ihn kein Zurück gibt. Das Dunkle Mal auf seinem Arm ist durch einen uralten, dunklen Zauber geschützt. Nicht einmal meine Kräfte reichen aus, um es zu entfernen. Falls er Voldemort verlässt, wird es brennen. Die Schmerzen würden immer ärger, bis er wahnsinnig wird... Es gibt nur einen Ausweg, wir müssen Voldemort vernichten. Doch im Augenblick ist er uns überlegen. Für Severus können wir leider nicht viel tun." Seufzend stand ich auf und holte meinen Umhang. „Du musst mich nun entschuldigen, Minerva. Ich gehe hinunter in die Kerker und warte auf ihn. Wenigstens das kann ich für ihn tun, dass er nicht allein ist, wenn er zurückkommt..."

Ich blicke besorgt zur Uhr auf dem Kaminsims. Eine weitere halbe Stunde ist vergangen, und noch immer kein Zeichen von Severus. Hoffentlich ist nichts passiert. Ich wage gar nicht daran zu denken, was Voldemort mit ihm macht, wenn er erfährt, dass Severus ein Spion ist.

Meine Gedanken wandern weiter zurück in die Vergangenheit. Ich kenne Severus jetzt seit fast dreißig Jahren. Als er im Alter von elf Jahren nach Hogwarts kam, war ich hier Lehrer für Verwandlung und Leiter des Hauses Gryffindor. Severus, der einzige Nachkomme einer alten, reinblütigen Zaubererfamilie, war ein sehr begabter Schüler, äußerst strebsam, aber sehr introvertiert - ein Einzelgänger, der nur schwer Anschluss fand. Öfters kam es zum Konflikt zwischen dem Slytherin und den legendären Rumtreiber James Potter, Remus Lupin und Sirius Black. Vor allem mit Black... fast wäre Severus damals durch Sirius' Schuld zu Tode gekommen... Severus schloss sich immer enger an den machtbesessenen, etwas älteren Lucius Malfoy an, eine Entwicklung, welche mich schon damals mit Sorge erfüllte, war doch Malfoys Familie bekannt für die Vorliebe für dunkle Magie, und die Nähe zu Voldemort.

Letztlich schloss sich auch Severus dem Dunklen Lord an, und ich mache mir noch heute Vorwürfe, es nicht bemerkt und verhindert zu haben...doch nach einigen Jahren - ich war damals schon Direktor von Hogwarts - kam Severus nach einem Death Eater-Treffen zu mir. Er hatte seinen Fehler eingesehen. In jener Nacht diskutierten wir lange über seine Möglichkeiten. Wir beschlossen, dass er zu Voldemort zurückkehrte und als Spion tätig würde. Ich bot ihm die Position des Zaubertränkelehrers in Hogwarts an.

Wir verdanken ihm sehr viel, unzählige Leben konnten durch seine Hilfe gerettet werden, und nie zögert er, obwohl er sich selbst durch sein Handeln stets in große Gefahr begibt. Voldemort ist nicht für seine Sanftmütigkeit bekannt, und sobald er unzufrieden ist, straft er mit Cruciatus-Flüchen oder gar dem Todesfluch Avada Kedavra.

Dann kam jene Nacht im Jahre 1981, die die Zaubererwelt verändern sollte: Voldemorts Angriff auf die Bewohner von Godric's Hollow, Lily und James Potter, wo der Dunkle Lord von einem Baby, Harry, besiegt wurde, da er ihn nicht durch einen Fluch töten konnte. Die Zaubererwelt jubelte, alle dachten, die Schreckenszeiten seinen für immer vorüber.

Doch für Severus begann ein neuer Kampf. Das Ministerium für Zauberei veranlasste Massenverhaftungen, tausende Sympathisanten Voldemorts und natürlich fast alle verbliebenen Death Eater wurden ins Gefängnis nach Askaban abtransportiert. Auch Severus wurde verhaftet und einem Gericht vorgeführt. Man wollte auch ihn nach Askaban verbannen und den Dementoren ausliefern. Ich habe für ihn gebürgt, seine Tätigkeit als Spion unter Veritaserum bestätigt, und er kam frei. Langsam fasste er Vertrauen zu mir, und obwohl er sonst niemanden an sich heranlässt, ist eine enge Freundschaft zwischen uns entstanden.

In den folgenden Jahren unterrichtete er weiter in Hogwarts, ein sehr guter Lehrer, aber bei den Schülern durch seine strenge, oft ungerechte Art nicht gerade beliebt - außer bei den Slytherins, deren Hausvorstand er wurde. Auch im Kollegium wurde er zwar aufgrund seines großen Könnens geachtet, aber Freunde fand er keine - nicht, dass er welche gewollt hätte...

Auch Harry Potter hatte von Anfang an mit ihm Probleme, vor allem aufgrund der lange zurückliegenden Feindschaft zwischen Harrys Vater James, einem der Marauders, und Severus, der nicht vergessen konnte, dass James ihm das Leben gerettet hatte. Harry dachte oft, das sei der Grund für Snapes fieses Verhalten ihm gegenüber. Ich wusste, dass das nicht ganz stimmte. Severus wusste von Anfang an, welche Gefahren auf Harry zukommen würden, er hatte schließlich genug Erfahrung mit Voldemort, und versuchte den allseits bewunderten Jungen-der-lebt mit Strenge darauf vorzubereiten.

In Harrys 4. Schuljahr fand das Trimagische Turnier statt, bei welchem Cedric Diggory, ein Hufflepuff-Schüler, getötet und Harry schwer verletzt wurde - von Lord Voldemort, welcher wieder zurückgekommen war. Das Ministerium glaubte dies weder Harry noch Severus, dessen Dunkles Mal – das Zeichen der Death Eaters am linken Unterarm- nach vierzehn Jahren wieder zu brennen begann. Auf uns allein gestellt, gründeten wir den Orden des Phönix, eine Widerstandsorganisation: Sirius Black, Remus Lupin, Alastor Moody, Arabella Figg, Mugundus Fletcher, Harry, Hermione, Ron, Severus und ich bildeten den harten Kern. Im Dienste des Ordens kehrte Severus wieder zurück zu Voldemort, nahm unvorstellbare Schmerzen auf sich, bis Voldemort ihm wieder vertraute, und versorgte uns fortan mit geheimen Informationen.

Das Feuer im Kamin wird schwächer, und Dunkelheit breitet ihren Mantel um mich. Es ist still in den Kerkerräumen von Hogwarts...