Es gibt zu Recht viele Interpretationen zu einem Einzigen; nämlich deshalb, weil es aus verschiedenen Perspektiven gesehen werden muss. Aus einem Blickwinkel allein, vermögen wir das Ganze nicht zu erfassen.
Manfred Poisel
~ Kerker, Hogwarts ~
Erzählt von Hermione Granger
Normalerweise stelle ich Dumbledores Entscheidungen nicht in Frage. Immerhin ist er der mächtigste Magier, und, wie wir schon oft gesehen haben, er weiß vieles, bevor man es ihm erzählt. Aber als er mich vor einer Stunde in sein Büro gerufen hat, um mich um Unterstützung zu bitten, begann ich erstmals an seinem Verstand zu zweifeln. Ich meine, er hat sicher Recht, dass ich für diese Aufgabe geeignet bin, immerhin interessiere ich mich sehr für Bücher und verstehe auch viel von Zaubertränken... was Professor Snape bestimmt bestreiten würde... aber das? Da hat er sich etwas ausgedacht, wo ich schon jetzt Probleme erahne...
Kurz gesagt, er hat mich mit seinem überzeugendsten Blick über den Rand seiner Halbmondbrille gemustert und mir folgenden Vorschlag unterbreitet: Professor Snape muss für Voldemort einen Trank brauen, von dem wir noch nichts Näheres wissen, weil das Rezept unvollständig ist. Der Tränkemeister befürchtet aber aufgrund der bekannten Inhaltsstoffe, dass die Substanz sehr mächtig und gefährlich sei. Dumbledore bittet mich also, Snape bei der Nachforschung zu unterstützen. Es ist wichtig, dass wir rechtzeitig Bescheid wissen, was Voldemort planen könnte.
So weit, so gut. Aber gemeinsam mit Professor Snape? Nicht, dass ich ihn nicht schätzen würde, er ist ein Spezialist auf seinem Gebiet. Aber ich weiß genau was er von mir hält... dummes Mädchen, Alleswisserin, Streberin..., - die Liste der ‚netten' Bezeichnungen, die er im Laufe der vergangenen Jahre für mich gefunden hat, lässt sich noch länger fortsetzen...
Ich habe Professor Dumbledore ziemlich schockiert angeschaut, doch er lächelte mir ermutigend zu. „Miss Granger, ich denke, Sie sind für diese Aufgabe am besten geeignet. Lassen Sie sich nicht durch Professor Snapes abweisendes Verhalten entmutigen. Er weiß in Wirklichkeit sehr wohl, wie begabt Sie sind."
Tatsächlich? Das hat er aber bisher immer gut verborgen...
Am liebsten würde ich ablehnen, doch Dumbledore hat Recht: immerhin ist es in unser aller Interesse, so schnell wie möglich herauszufinden, was Voldemort plant. Außerdem reizt mich die Herausforderung.
Und so folge ich gerade dem Direktor durch die langen, düsteren Gänge der Kerkerräume. Er begleitet mich zu Professor Snape, denn, wie Dumbledore es formulierte, es gibt noch ein kleines Problem zu lösen: Der Meister der Zaubertränke weiß noch nichts von der Idee des Direktors...
Und es kam, wie es kommen musste.
„Bist du verrückt, Albus? Ich habe hier Arbeit zu tun, und zwar wichtige!" Schäumend springt Professor Snape aus seinem Schreibtischsessel hoch, seine schwarzen Augen blitzen vor Zorn.
Na bitte, hab ich's nicht gewusst? Jetzt kommt bestimmt‚ ‚Sie ist eine kleine Alleswisserin'...
Wütend gestikulierend rennt er auf und ab. „Ich habe keine Zeit, für eine kleine Alleswisserin Kindermädchen zu spielen!!"
‚Immerhin muss ich sie, Potter und Weasley jede Woche im Unterricht ertragen...'
„Es reicht, dass ich sie und die beiden Unruhestifter Potter und Weasley seit fast 7 Jahren im Unterricht ertragen muss!"
Er ist schon sehr berechenbar...
Dumbledore steht mit verschränkten Armen neben dem kalten Kamin und beobachtet gelassen den Tränkemeister. Als dieser zornrot nach Luft schnappt, fährt der Direktor mit fester Stimme fort: „Severus, dies ist keine Bitte, sondern ein Befehl. In Zeiten wie diesen ist es nötig, solche privaten Animositäten zu vergessen. Das Wohl vieler wiegt wesentlich schwerer. Außerdem drängt die Zeit, und du kannst das nicht alles allein schaffen. Du wirst mit Miss Granger zusammenarbeiten, und zwar ohne jegliche Punkteabzüge. Ich erwarte, dass du sie mit entsprechender Höflichkeit behandelst." Nach einer kurzen Pause fügt er aufmunternd hinzu: „Du wirst sehen, ihr werdet ein gutes Team sein."
Langsam beruhigt sich der Tränkemeister. Der Blick, mit dem er mich mustert, zeigt aber deutlich, was er denkt. Doch offensichtlich fügt er sich Dumbledores Anordnung.
Seine schwarzen Augen verengen sich zu listigen Schlitzen, als er mich fragt: „Nun, Miss Granger, da der Direktor von Ihrer ‚Qualifikation' so überzeugt ist, vielleicht können Sie mir erzählen, was in der Samhainnacht gewonnene Einhorntränen bewirken?"
Das ist kein Unterrichtsstoff. Er will mich also testen. Gut, dass ich erst kürzlich das Buch ‚Zaubertrankzutaten für Fortgeschrittene' gelesen habe! In Ordnung...
Ich antworte mit fester Stimme: „In der Samhainnacht gewonnene Einhorntränen verfügen über große Kraft bei der Herstellung von Tränken, welche mit dunkler Magie arbeiten. Sie wirken, allgemein formuliert, als Neutralisator. Es ist wichtig für die Wirkung der Tränke, dass die Tränen exakt um Mitternacht gewonnen werden, und anschließend gut verschlossen in einem Silbergefäß aufbewahrt werden."
So. Bestimmt macht er sich jetzt über mich lustig.
Erstaunlicherweise bekomme ich keine zynische Antwort, sondern es entsteht eine rege Diskussion über Tränke mit Dunkler Magie. Nur am Rande bemerke ich, wie der Direktor im Kamin ein Feuer entzündet und mittels einer Prise Flohpulver in sein Büro zurückkehrt.
30. Oktober
In den vergangenen Wochen verbrachte ich fast jeden Abend bis spät in die Nacht bei Professor Snape in den Kerkern. Unsere Zusammenarbeit verlief wesentlich besser als erwartet, wir ergänzen uns sehr gut. Er hat offensichtlich meine Anwesenheit akzeptiert, und im Laufe unserer zahlreichen Gespräche gewinne ich langsam den Eindruck, dass er sogar eine gewisse Freude an der gemeinsamen Fachsimpelei hat... was er jedoch niemals zugeben würde, schließlich bin ich die kleine Alleswisserin aus Gryffindor... Auch ich bin mit Begeisterung bei der Sache; endlich jemand, mit dem ich ausgedehnte wissenschaftliche Gespräche führen kann! Es macht Spaß...Himmel, was würden Harry und Ron sagen, wenn sie mich hören könnten!
Ich habe unzählige Bücher durchkämmt, während Professor Snape mit dem Trank begonnen hat, und langsam kommen wir der Lösung näher. Wir haben auch eine Reihe von Tests mit dem halbfertigen Trank gemacht, welche sehr aufschlussreich sind. Je mehr wir erfahren, desto beunruhigender wird die Sache jedoch...
Heute Abend sitzen wir gemeinsam vor dem Kamin, während der Trank in dem großen Silbertopf leise blubbernd auf kleiner Flamme vor sich hin köchelt, und diskutieren einen Auszug aus einem Buch über verbotene Tränke im Mittelalter, welches ich am Nachmittag aus der Bibliothek geholt habe.
Professor Snape hat heute sogar Tee für uns aufgebrüht. Ich nehme gerade einen Schluck, als er plötzlich kreidebleich wird. „Das kann nicht sein!"
„Was ist los?" frage ich aufgeregt. Hastig stelle ich die Teetasse auf den Tisch.
„Dieser Text handelt von der Neutralisation von Schutzzaubern. Lesen Sie!"
Rasch nehme ich das alte Buch aus seiner ausgestreckten Hand entgegen und studiere angestrengt die Textstelle. Er hat Recht! Entsetzt blicke ich ihn an, wir haben offenbar dieselben Schlussfolgerungen gezogen...
Ohne ein weiteres Wort springt er auf und wirft eine Handvoll Flohpulver in den Kamin. Als die Flammen auflodern, ruft er nervös: „Albus! Komm schnell herunter!"
Im Kamin erscheint der Kopf Dumbledores. Wäre die Situation nicht so ernst, hätte ich gelacht: er trägt eine hellblaue Schlafmütze mit aufgestickten weißen Schäfchen, welche sich bewegen und über einen ebenfalls aufgestickten Gartenzaun hüpfen.
Verschlafen fragt er: „Severus, weißt du, wie spät es ist?" Als er den Gesichtsaudruck des Tränkemeisters wahrnimmt, kommt er sofort durch den Kamin herunter. „Was ist passiert?" fragt er besorgt.
Wortlos reicht Snape ihm das Buch. Die Miene des Direktors wird immer besorgter, je mehr er liest. Schließlich fragt er: „Ihr meint, der Trank könnte die Schutzzauber von Hogwarts neutralisieren?"
Nun ist es ausgesprochen...
„Ja. Das befürchten wir." Snape reibt sich müde die geröteten Augen. „Wir wissen inzwischen konkret, dass der Trank eine neutralisierende Wirkung hat, aufgrund der Einhorntränen aus der Samhainnacht. Außerdem haben wir die bisher bekannte Zusammensetzung genau getestet und Miss Granger hat heute Abend die Theorie aufgestellt, dass die Zutaten mit den energetischen Schwingungen, welche bei der Erzeugung eines Schutzschildes entstehen, korrespondieren. Daher haben wir diverse Literatur zum Thema Schutzschilde durchsucht. Dabei bin ich auf diesen Artikel gestoßen... und es ist naheliegend, dass Voldemort es auf die Schutzzauber abgesehen hat, welche die Gründer auf das gesamte Gelände von Hogwarts gelegt haben."
„Das verschlechtert unsere Situation." Dumbledore sieht plötzlich um Jahre gealtert aus. „Wann erfährst du Genaueres, Severus?"
„Ich vermute, übermorgen, zu Samhain. Er veranstaltet wieder eine Zeremonie. Ich habe eine Nachricht erhalten, dass er danach mit mir sprechen will..."
Der Direktor nickt schweigend. Dann gibt er sich einen Ruck und sagt: „Ihr beiden habt Großartiges geleistet. Immerhin haben wir nun einen Vorsprung. Wir werden unsere Leute in Bereitschaft versetzen. Wir müssen rechtzeitig gerüstet sein. Doch zuerst müssen wir dein Gespräch mit Voldemort abwarten, Severus...
Hermione, es ist Zeit für dich, ins Bett zu gehen. Immerhin ist es schon 2 Uhr Früh. Severus, versuch auch zu schlafen. Wir werden unsere Kräfte bald brauchen."
Ich folge dem Direktor zum Kamin, drehe mich jedoch noch kurz zu Professor Snape um. „Guten Abend, Sir."
Was ich nun höre, hätte ich niemals für möglich gehalten.
„Miss Granger, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Nur dadurch war solch ein schneller Fortschritt möglich." Seine Stimme klingt gepresst, ich weiß, wie schwer ihm diese Sätze gefallen sein müssen...
„Danke, Sir. Auch ich möchte mich für die gute Zusammenarbeit bedanken."
Dumbledore zwinkert mir leicht zu, als wir in die Flammen steigen...
A/N:
Vielen Dank für Eure lieben Reviews!
Shelley, meine super Betaleserin: Habe mich wirklich riesig gefreut, als ich Deine Review gelesen habe. Ich war schon sehr neugierig wie Dir die Story inzwischen wohl gefällt, denn darüber haben wir lustigerweise in unseren Mails nie gesprochen. Was Deine Frage zu Draco betrifft: ich kann Dir nur sagen, es kommt einiges auf ihn zu, und auf welcher Seite er wirklich steht, wird sehr lange unklar bleiben... Mehr kann ich dazu nicht sagen ohne zu viel zu verraten. *smile*
Susi: Danke für Dein Lob! Habe mich beim Schreiben bemüht für Spannung zu sorgen und genug Raum für eigene Überlegungen zu lassen, und freu mich zu hören, dass Du es als fesselnd empfindest! Ich versuche, etwa 2 Kapitel pro Woche zu veröffentlichen, ich schreibe schon am Schluss der Story (was interessanterweise viel schwieriger ist als die vorherigen Kapitel...)
Ganz liebe Grüße! Slytherin Witch
