@RavannaVen: Vielen Dank für das Lob! Es freut mich jedesmal, wenn jemand reviewt auch wenn das bei mir leider nicht allzu oft geschieht. Es ist so viel einfacher, weiterzuschreiben wenn man weiss, was der Leser davon denkt.
Trotzdem, hier kommt Kapitel Drei. Nach dem wird es noch ein Kapitel geben, ein etwas kürzeres und dann ist fertig.
=======================
Kinderlachen weckte ihn aus einem tiefen Schlaf. Aragorn hatte das Gefühl, noch nie so tief geschlafen zu haben und er hatte sich der Welt dort draussen schon lange nicht mehr so weit entfernt gefühlt. Gut, das konnte ihm nur Recht sein. Eine behagliche Müdigkeit überdeckte sein ganzes Denken und es war ihm sehr zuwider, sich daraus zu lösen. Dort draussen wartete die Pflicht auf ihn, sein Schicksal, das er wahrscheinlich nie erfüllen würde und viel zu viele Anforderungen. Nein, aufwachen kam nicht in Frage. Eigentlich hätte er bis in alle Ewigkeit in diesem Zustand verweilen können, irgendwo zwischen Wachen und Schlafen, wäre da nicht dieses Lachen gewesen...
Es klang so sorglos und unschuldig. Ganz kurz drängte sich ihm ein längst vergessenes Bild auf. Ein dunkelhaariger Junge, wie er unbesorgt in den höchsten Ästen eines Baumes herumturnte. Daneben, einen Arm sicher um die Hüfte des Jungen geschlungen, stand eine anmutige Gestalt mit langen dunklen Haaren und spitzen Ohren. Anmutig, bis auf das spitzbübische Lächeln, das er und der Junge neben ihm auf den Lippen trugen. Unten, am Stamm des Baumes lief eine zweite Gestalt, die der ersten bis aufs Haar glich. Nur der Ausdruck auf dem edlen Gesicht war eindeutig ein anderer. Groll und Missmut spiegelten sich auf den Zügen des Elben, während sich die zwei Gestalten auf dem Baum das Lachen nur mit Mühe verkneifen konnten. Im Hintergrund erkannte man die Umrisse eines Hauses, ja beinahe eines kleines Schlosses an einem Fluss.
Doch so schnell das Bild gekommen war, verschwand es auch wieder und ein erneuter Schwall von Gelächter riss Aragorn aus der vagen Erinnerung. Langsam aber sicher wurde er neugierig, wem denn dieses ansteckende Lachen überhaupt gehörte. Denn er konnte sich nicht wirklich daran erinnern, wo er war oder wer bei ihm war. Und um das herauszufinden musste er die Augen öffnen, wofür er sich aber noch immer viel zu träge fühlte.
Auf einmal verstummte das Lachen und er hörte statt dessen das Rascheln von Decken direkt neben ihm. Jetzt konnte Aragorn seine Neugierde nicht mehr länger zurückhalten und er schlug zaghaft die Lider auf. Zuerst blendete ihn das Licht und er musste einige Male blinzeln, bevor er überhaupt etwas erkennen konnte.
Ein enormer Wuschelkopf und zwei leuchtend blaue Augen in der Mitte eines Gesichtes beugten sich über ihn.
"Guten Morgen", sagte Frodo fröhlich. "Du hast so lange geschlafen, dass du bereits das zweite Frühstück verpasst hast. Hast du keinen Hunger?"
Aragorn blinzelte verwirrt und schaute sich um. Er war in einem gemütlichen kleinen Häuschen, das mit winzigen Möbelstücken eingerichtet war. Auf der anderen Seite des Zimmers konnte er einen Tisch mit einem Tintenfass und einigen Karten darauf erkennen. Und wenn er zum Fenster hinausschaute, dann sah er nur grüne Hügel, so weit er blickte.
Aragorn blinzelte erneut und versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Wo war er?
In diesem Augenblick trat Bilbo ins Zimmer, ein Tablett mit Frühstück auf den Händen tragend. Sofort kam die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder zurück.
Wachdienst im Auenland... der Hobbit... die Warge... der beinahe aussichtslose Kampf. Danach die Auseinandersetzung mit Halbarad und Erador, die Reise nach Beutelsend und die Versorgung der Wunden. Doch von da an hatte er keine klaren Erinnerungen mehr.
Aragorn schaute an sich herunter und entdeckte die saubere Bandage an seiner Schulter. Also hatte Bilbo sich gut um ihn gekümmert. Er setzte sich vorsichtig auf und schaute dem Hobbit entgegen. Erst jetzt bemerkte er, dass Frodo ihn noch immer erwartungsvoll anschaute. Er war ihm ja noch eine Antwort schuldig.
"Doch" wollte er sagen, aber es kam nur ein beinahe tonloses Gekrächze heraus. Bilbo erkannte sofort, an was es dem Waldläufer fehlte und reichte ihm eine Tasse mit warmen Tee, welche Aragorn mit zittrigen Händen entgegennahm. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, fühlte er sich bereits viel besser.
"Doch, natürlich habe ich Hunger", antwortete er und lächelte Frodo an. "Ich denke zwar, dass ich aus dem Wachstum heraus bin, aber essen muss ich trotzdem ab und zu."
Frodo schaute ihn aus grossen Augen an und legte dann nachdenklich den Kopf zur Seite.
"Wenn du noch mehr wächst, dann kommst du ja nur noch auf allen Vieren wieder zur Tür heraus!", rief er dann entrüstet und machte Anstalten, seinem Onkel das Essen für den Waldläufer wegzunehmen. Aragorn hob abwehrend die Hände und lachte.
"Nein! Wirklich Frodo, ich verspreche dir, dass ich nicht mehr wachse! Auch ein Mensch wächst nicht ewig weiter, du brauchst dir keine Sorgen über die Art und Weise zu machen, wie ich wieder hier herauskomme."
Frodo schien noch nicht ganz überzeugt, liess aber das Tablett wieder los, so dass Bilbo an Aragorns Lager treten konnte und sich auf die Knie niederliess.
"Oh, da bin ich aber froh, dass du mich ihm Essen bringen lässt", meinte Bilbo lächelnd. "Denn unser Gast scheint es nötig zu haben."
Damit wurde er ernst und wandte sich an den Waldläufer.
"Deine Verletzungen sind weitaus schwerer als ich gedacht habe. Ruhe und gutes Essen ist jetzt das, was du am meisten brauchst und beides hast du hier zur Genüge."
Aragorn wandte seufzend den Kopf zur Seite. Er hatte nie geplant, auch nur hierher zu kommen, geschweige dann, länger zu bleiben. Es gab noch so Vieles, das nach seiner Aufmerksamkeit schrie und um das er sich kümmern musste. Jetzt, da er vollkommen wach war, durfte er es sich gar nicht erlauben, daran zu denken, seine Pflichten und Aufgaben zu vernachlässigen. Weshalb war es ihm nicht erlaubt, sich einmal ruhig niederzulegen ohne sich um irgendetwas sorgen zu müssen? Warum konnte er nicht einfach ein normales Leben führen, so wie die Hobbits? Ruhe und Frieden, die zwei Dinge, für die er am meisten kämpfte, waren ihm verboten.
Als Streicher nicht antwortete, rückte Bilbo etwas näher und legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Deine Leute werden das verstehen, da bin ich mir sicher. Sie werden auch ohne dich für einige Tage auskommen. Und uns störst es nun wirklich nicht, dass du hier wohnst, stimmt's, Frodo?"
Der junge Hobbit nickte eifrig. Es war lange her, seit sie Besuch gehabt hatten und die Anwesenheit dieses Menschen war ihm angenehm. Da würde auch sein etwas raues Äusseres nichts daran ändern. Die sanfte Stimme allein reichte bereits, um alles andere unwichtig zu machen.
"Natürlich darf er bleiben", rief er begeistert. "Er weiss bestimmt ganz viele tolle Geschichten über die Welt da draussen. Ich möchte sie alle hören!"
Aragorns Lächeln wurde eine Spur wehmütiger. Ach, diese Abenteuerlust und Neugierde kam ihm so bekannt vor. Hatte er nicht auch seinen ada immer um solche Geschichten angefleht? Und hatte er, aus kindlicher Unschuld heraus, sich nicht auch immer als Held solcher Abenteuer gesehen? Oh, wie anders doch die Wirklichkeit aussah!
"Ich weiss nicht so recht...", fing er an, hielt aber inne, als er Frodos flehenden Blick sah.
‚Weshalb eigentlich nicht?', meldete sich eine kleine, aber eigenwillige Stimme in seinem Kopf. Und Aragorn konnte ihr nur Recht geben. Vielleicht war es nun an der Zeit, dass er auch einmal an sich selbst dachte und ausserdem war Frodos bittender Blick einfach zu viel, um sich ihm zu widersetzen.
So stimmte er zu und hatte die Worte noch nicht einmal ganz aus dem Mund gebracht, als Frodo auch schon mit einem Schrei auf ihn zustürzte und ihn stürmisch umarmte. Aragorns Wunden waren aber gar nicht begeistert von der Behandlung und der Waldläufer stöhnte leise auf, als ein wütender Schmerz durch seine verletzte Schulter zuckte.
Bilbo bemerkte es und seine Augen weiteten sich erschrocken.
"Frodo, lass das sein! Seine Wunden sind noch weit entfernt davon, geheilt zu sein. Du musst vorsichtiger mit ihm umgehen, hast du mich verstanden?"
Aragorn war froh, als sich der kleine Hobbit von ihm löste und wartete mit geschlossenen Augen, bis der Schmerz abklang. Als er aber dann die Augen öffnete, empfand er nur Bedauern gegenüber Frodo. Der Hobbit-Junge hatte das Gesicht verzogen und sah so aus, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde.
"Es... es tut mir... leid! Ich... ich wollte dir nicht... weh tun."
"Es ist nichts passiert", sagte Aragorn mit beruhigender Stimme und zog den jungen Hobbit in eine vorsichtige Umarmung. "Siehst du, so tut es nicht weh."
Frodo sah auf und ein Lächeln erhellte seine Züge. Auch Bilbo lächelte milde.
"So, dann solltest du unseren Gast aber essen lassen."
Frodo liess den Waldläufer nur widerwillig los, verschwand aber dann aus dem Zimmer.
Aragorn machte sich an sein Frühstück, musste aber schon bald einsehen, dass er bereits nach einigen Bissen genug hatte. Trotzdem zwang er sich, noch mehr davon zu essen um seinen Gastgeber nicht zu beleidigen, aber das riesige Hobbit-Frühstück würde er unmöglich bewältigen können. Zudem fühlte er sich bereits wieder müde und etwas fiebrig.
‚Was hat mir ada über Wargenbisse erzählt? Dass sie sich schnell infizieren und mühsam zum Heilen sind.'
Bilbo sah, dass der Waldläufer mittlerweile das Frühstück mehr in seinem Teller herumschob, als dass er es ass und so nahm er ihm den Teller ab. Er begegnete Streichers überraschtem Blick mit einem Lächeln.
"Keine Angst, ich werde dich nicht zwingen, dein Frühstück aufzuessen, ich denke dass du zu alt für das bist."
Aragorn nickte dankbar und liess seinen Blick stattdessen noch einmal im Raum herumwandern. Ein kleines Schwert, für einen Menschen nicht viel grösser als ein Dolch, hing an der entgegengesetzten Wand. Seine Klinge war kunstvoll verziert und mit elbischen Runen beschriftet. Für Aragorn bestand kein Zweifel, um welche Waffe es sich hier handelte.
"Stich", sagte er leise und mehr zu sich selber als zu Bilbo. Doch der Hobbit blickte überrascht auf und folgte dem Blick des Waldläufers. Seine Augen verengten sich auf einmal und sein Blick wurde misstrauisch, als er das Tablett mit einer energischen Bewegung auf den Tisch stellte und sich vor Aragorn aufbaute.
"Wer bist du?", fragte er nachdrücklich. "Du bist nicht nur ein einfacher Waldläufer wie du es vorgibst, dafür kennst du mich und meine Geschichte viel zu gut. Ausserdem habe ich immer noch das Gefühl, dich von irgendwo her kennen zu müssen. Nur bin ich mir nicht sicher, ob die frühere Begegnung angenehm oder schlecht gewesen ist, denn sicher ist eins: Du verbirgst etwas und ich will jetzt endlich wissen was das ist."
Bilbos Stimme war kühl geworden und ungewollt stiegen ihm wieder die Bilder von dem vernarbten Oberkörper des Mannes in den Sinn. Streicher war kampferprobt und wenn dieser es wollte, würde er ihn, selbst verletzt, ohne Weiteres töten können... Aber etwas in ihm erinnerte ihn auch daran, wie er mit Frodo und ihm selbst umgesprungen war. Er war immer freundlich gewesen und er konnte nicht Recht daran glauben, dass der Waldläufer wirklich etwas Böses im Sinn hatte. Trotzdem, er wollte jetzt endlich wissen, wen er da eigentlich vor sich hatte.
Streicher hatte sich zurückgelehnt, so dass sein Rücken das Sofa hinter ihm berührte. Sein Blick glitt abschätzend über Bilbo und es dauerte einige Zeit, bis er antwortete.
"Wir haben uns tatsächlich schon einmal getroffen, Bilbo Beutlin, aber es ist sehr lange her. Vor beinahe vierzig Jahren, auf deinem Abenteuer, kamst du an Bruchtal vorbei und wir sind uns dort begegnet."
Bilbo blickte den Waldläufer ungläubig an. Er kannte sich mit Menschen nicht gut aus, aber er war sich sicher, dass der Mann vor ihm noch keine vierzig Jahre alt war. Sein Gesicht war zwar bereits vom Kampf gezeichnet, aber er hätte ihn nicht älter als dreissig geschätzt. Ausser vielleicht die Augen... Diese grausilbernen Augen schienen älter zu sein, sie trugen eine eigentümliche Weisheit und Klarheit in sich, die er vorher nur bei Elben entdeckt hatte. Doch ein Blick zu den abgerundeten Ohren des Waldläufers machte ihm klar, dass es sich hier eindeutig um einen Menschen handelte. Ein Mensch...
Auf einmal fiel es Bilbo wie Schuppen von den Augen. In Imladris hatte es nur einen Menschen gegeben und dass war der kleine Estel gewesen, Elronds Ziehsohn und Erbe Isildurs. Gandalf hatte ihm später alles über den aufgeweckten Jungen erzählt, auf dessen Schultern die Hoffnung der Menschen lag. Aber konnte es wirklich sein, dass dieser ernste und verschwiegene Mann vor ihm tatsächlich der gleiche lebhafte Knabe war, den er in Bruchtal so gern bekommen hatte?
Bilbo musterte Streicher, nein Aragorn wie er sich jetzt an den Geburtsnamen des Mannes erinnerte, mit neuen Augen. Er hatte sich sehr verändert und das Gewicht der Verantwortung drückte schwer auf seinen Schultern. Doch diese silbernen Augen, die ihn von Anfang an in ihren Bann gezogen hatten, waren noch die gleichen. Fast die gleichen. Ein leichtes Flackern wie von tief vergrabenen Zweifeln stand darin.
"Du hast dich sehr verändert, Estel."
Dem Waldläufer war es, als würde ihm der Hals zugeschnürt, als er seinen alten Namen hörte. Schon seit Jahren hatte ihn niemand mehr Estel genannt.
‚Hoffnung', dachte Aragorn bitter bei sich. ‚Wer tauft ein Kind schon Hoffnung in solch düsteren Tagen?'
Wieder meldete sich eine kleine Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass es genau die jetzige düstere Zeit war, die einen Hoffnungsschimmer brauchte um nicht endgültig zu verzweifeln.
Aragorn lachte auf, aber dieses Mal hatte seine Stimme jegliche Wärme verloren und sie klang bitter und kalt.
"Die Zeit geht nicht mit allen so gnädig um wie mit dir. In meinen Adern fliesst zwar das Blut der alten Hochkönige von Númenor, aber es gibt trotzdem einige Erfahrungen, die einen verändern."
Bilbo lief es bei beim Klang der auf einmal gefühllosen Stimme kalt den Rücken hinunter. Der Mann vor ihm schien nicht mehr der Gleiche zu sein, der noch vor wenigen Minuten seinen Neffen im Arm gehalten hatte. Aragorns Gesicht verhärtete sich und er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
"Was ist geschehen?", fragte der Hobbit leise, denn dass etwas nicht stimmte war ihm mittlerweile klar geworden.
"Wie kommst du denn darauf, dass etwas nicht stimmt, Halbling?", fragte Aragorn mit höhnischer Überraschung und wieder zuckte Bilbo fast zusammen, als er hörte, wie tot die Stimme des Waldläufers auf einmal klang. "Weshalb sollte etwas nicht stimmen, solange du genügend zu essen, eine warme Höhle und eine Familie hast? Warum solltest du dich auch mit Problemen beschäftigen, die sich ausserhalb von Beutelsend abspielen? Bis jetzt hat dich das ja auch nie gestört."
Bilbo wich erschrocken einen Schritt zurück, als er Aragorns kaltem Blick begegnete.
"Ich verstehe nicht."
"Oh wie Recht du hast! Du verstehst wirklich nicht. Was weiss ein Hobbit schon von den Gefahren, die wir jeden Tag auf uns nehmen um euch und eure Familien sicher zu halten. Nichts! Du verstehst nichts von den Gräuel des Krieges, von den Schreien sterbender Knaben, die Frodos Alter haben! Nichts von den Klagen der Frauen, wenn sie um ihre Familien weinen! Nichts von dem Gefühl, dass du für eine Truppe von tapferen Männern verantwortlich bist und dass du es bist, der sie in den Tod schickt. Nichts von dem Gefühl, dass du dich die ganze Zeit als würdig erweisen musst nur um zu deinem Schicksal zu gelangen, dass du nie gewollt hast. Ich will die Macht und die Verantwortung nicht, aber was ich will, um das geht es hier nicht..."
Aragorns am Anfang wütende, dann zunehmend tonlose Stimme verstummte und er presste sich die Hand auf die Augen. Bilbo sass wie erstarrt da und blickte den Waldläufer aus grossen Augen an. Auf einmal fing er an zu verstehen. Aragorn hatte nicht wirklich zu ihm geredet, sondern hatte geäussert, was er bereits seit langer Zeit in sich hineinfrass. Und Bilbo konnte ihn verstehen.
Er hatte gesehen, wie Elrond den Jungen stetig dazu ausgebildet hatte, sich einmal über den Ruhm und das Verderben seiner Vorfahren zu erheben und die Menschen von Mittelerde anzuführen. Die Erwartungen an Aragorn waren enorm. Auch war er von Gandalf ab und zu informiert worden, dass der Junge sich grossartig entwickle und all die gestellten Aufgaben gut bewältige. ‚Er wird ein guter König werden.' erinnerte sich Bilbo an Gandalfs genauen Wortlaut. Aber niemand hatte je Aragorn gefragt, was er wollte. Alle sahen in ihm den König, der Gondor und Arnor wieder auferstehen lassen würde . Doch der steinige Weg dahin und das Elend des Krieges hatten einen gehörigen Eindruck auf den Waldläufer gemacht, was aber niemanden zu interessieren schien.
Der Mann vor ihm schien gebrochen vom Leid des Lebens und des Krieges. Seine Schultern hingen kraftlos herab und die Hand vor den Augen zitterte leicht. Nichts mehr erinnerte den Hobbit an den starken und stolzen Mann, dem er im Wald begegnet war und noch weniger erinnerte er ihn an den kleinen Jungen von Bruchtal.
‚Oh, was habt ihr mit ihm gemacht?'
Eine halbe Ewigkeit verging in der Bilbo sich nicht zu rühren getraute. Seine Augen ruhten noch immer auf dem Waldläufer, der vollkommen in sich zusammengesackt da sass und sich genauso wenig bewegte wie der Hobbit. Tausend Gedanken schossen Bilbo durch den Kopf, angefangen mit Elrond, dem er einmal gehörig die Meinung sagen sollte über die Art und Weise wie er seinen Schützling mit Anforderungen entmutigte und erdrückte.
Irgendeinmal stand er auf und ging zu Aragorn hinüber. Er kniete sich vor den gebeugten Waldläufer hin und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Als der andere nicht reagierte, hob er seine Hand an Aragorns Kinn und zwang ihn so dazu, ihm in die Augen zu blicken. Was er darin sah liess Bilbos Herz erneut qualvoll zusammenziehen. So viel Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und auch Hass standen darin. Hass gegen sein Schicksal, aber am meisten gegen sich selbst. Bilbo seufzte und liess seine Hand fallen.
"Egal was du von mir denkst, glaube mir wenn ich dir sage, dass ich eine Ahnung habe, von dem was du fühlst. Ich weiss was es heisst, in etwas hineinzugeraten, das man eigentlich nicht will. Und ich weiss was es heisst, von allen Seiten überschätzt zu werden. Lass deine Selbstzweifel und deine Wut gegenüber deinem Schicksal nicht so gross werden, dass du daran erstickst."
Aragorn schaute zu Bilbo, dann wieder weg und schluckte einige Male leer. Er schien mit sich selbst und seiner Fassung zu ringen.
"Es tut mir leid, Bilbo", wisperte er schliesslich tonlos. "Du trägst keine Schuld an allem und ich schäme mich abgrundtief für das was ich gesagt habe. Es ist meiner mehr als nur unwürdig, in Selbstmitleid zu versinken."
Als der Hobbit sah, wie Aragorns Gesicht sich allmählich wieder verschloss, lächelte er schmerzlich und schüttelte leicht den Kopf.
"Nein, Aragorn, bitte tu jetzt nicht so, als ob alles deine Schuld wäre. Nichts von all dem ist dein Fehler, das musst du einsehen. Am liebsten möchte ich jetzt sofort nach Bruchtal reisen um Lord Elrond anzuschreien, für all das, was er dir angetan hat. Aber das wäre nicht fair, denn ich bin nicht besser als er. Auch ich habe in dir nicht mehr als nur einen Waldläufer gesehen, der es nicht verdient hat, über seine Gefühle nachzudenken."
Aragorn nahm einen tiefen Atemzug.
"Es ist nicht eure Schuld, wirklich, weder deine, noch die von Elrond. Lass das Thema bitte dabei bewenden."
Mit diesen Worten stand er auf und verliess noch etwas unbeholfen das Zimmer. Bilbo blieb allein zurück und verfluchte sich selber dafür, die falschen Worte gefunden zu haben.
‚Ich habe ihm geradezu vorgeworfen, in Selbstmitleid zu schwelgen, anstatt ihn zu trösten und ihm neuen Mut zu geben, den er im Moment so sehr braucht. Dabei wollte ich ihm doch nur helfen!'
TBC...
