Ohne Licht

Ein Abgrund. Steil fällt die Küste vor meinen Füssen ab. Unter mir tobt das Meer, wie es schon lange nicht mehr getobt hatte. Welle bäumen sich zu einer unvorstellbaren Höhe auf, reiten auf dem Wasser und brechen nahe des Festlandes in sich zusammen. Gischt spritzt auf, verfängt sich in meinem Haar, nässt meine weisse Haut. Das schlichte, weisse Kleid klebt an meinen Gliedern als hätte es schon immer zu mir gehört. Der Elbenstoff hat sein Spiel verloren. Kraftlos und ohne Anmut hängt er an mir als wolle er meine Verlorenheit zeigen. Verloren, verloren, verloren. Das Wort widerhallt in meinem Inneren. Quält mich. Quält mich. Bringt mich um!

Ein leiser Schrei kommt über meine blutleeren Lippen. Zu mehr sind meine Stimmbänder nicht mehr fähig. Zu lange habe ich geweint und geschrieen. Jetzt ist alles leer in mir drin. Alle Tränen nach draussen getreten. Mein Gesicht zu einer leblosen Maske geworden. Weiss und kalt wie Marmor.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange ich schon an der Klippe stehe. Es ist noch dunkel gewesen, als ich hier her gekommen bin. Dunkel, wie es hinter dem einst so leuchtenden Blau meiner Augen sichtbar wird. Dunkel, wie es in meiner Seele von einem Moment auf den nächsten geworden ist, in meinem Herzen.

Geflohen bin ich. Geflohen von dort, wo ich an dich erinnert war. Dahin geflohen wo ich dir noch immer nahe bin. Da wo ich noch immer dein leichtes Lachen hören kann, wo ich noch immer deine Wärme fühle, wo ich noch ein allerletztes Gefühl in meinem abgestorbenen Empfinden finde. Da, wo die Liebe zu dir noch in aller Kraft glänzt.

Verloren. Verloren bin ich. Ohne dich. Ohne Licht. Kein Gefühl mehr, kein Schmerz kann mir etwas anhaben. Ich bin nicht mehr. Nur noch ein Schatten meiner Selbst. Eine willenlose Hülle. Wie ein Marionette dessen Fäden niemand mehr hält. Du warst meine Stütze an den dunkeln Tagen meiner schwarzen Seele. Du hast mich geleitet wenn ich den Weg nicht mehr fand. Hast meine Augen geöffnet, wenn ich nicht mehr gesehen haben. Du hast mir das Laufen gelehrt.

Einst war ich eine Königin. Jetzt bin ich nichts mehr. Nicht mehr die Menschenfrau die ich vorgegeben habe zu sein. Nicht mehr das Wesen, dessen Platz ich eingenommen habe. Nichts mehr. Ein schwarzer Fleck am Horizont. Im Rücken das wütende Meer.

Kein rotes Blut fliesst mehr durch meine Adern. Mein Inneres ist leergenagt vom Schmerz. Leer, so leer. Ohne Farbe. Ohne Licht. Ein dunkler Schlund. Verloren. Ohne dich gibt es keine Zeit mehr für mich. Kein Warten, kein Bangen. Keine Freude, keine Trauer. Kein Leben, keinen Tod.

Das Meer schlägt aus. Greift nach mir. Ruft mich. Ich höre es. Ich sehe es. Ich weiss es. Du warst sein Freund. Und du hast mich zu seiner Freundin gemacht. Das einzige, das mir noch bleibt.

"Ich komme, Meer, rufe mich nicht länger. Ich komme."

Ein Flüstern nur. Ein Hauch. Ist das meine Stimme? Einst war sie es. Aber jetzt, jetzt brauch ich sie nicht mehr! Alles ist vorbei. Alles verloren. Dunkel ohne Licht.

Das Meer hat die Fäden ergriffen. Bin keine Puppe ohne Spieler mehr. Das wilde Wasser leitet mich. Führt mich. Bringt mich zu dir. Wie von fremder Kraft getragen segle ich über Felsen. Wo ich zuvor noch stand ist nun ein leeren Fleck. Und ich fliege dem Wasser entgegen. Wie ein Möwe. Weiss und schwerelos.

Licht, ich finde dich!