A/N: So, da bin ich wieder. Gewöhnt euch aber nicht an das Tempo, das kommt nur daher, daß DIESE Geschichte schon fertig ist und ich die Kapitel nur noch überarbeiten muß. ^^ Ich war ehrlich erstaunt darüber, wie schnell ich ein Review erhalten habe. Deshalb vielen Dank an Khair ed Din. Extra für dich beeile ich mich etwas mehr als geplant. :-D
Wahrscheinlich glaubt keiner, daß die Bekanntschaft mit dem Diebstahl schon ausgestanden ist, und ihr habt Recht. Aber ob eine erneute Begegnung tatsächlich eine gute Idee ist? Na, lest selbst …
Disclaimer: Die Viecher gehören wohl Tolkien, und er darf sie auch gerne behalten. ^.~
Rating: PG-13 (man soll nicht töten, egal was, aber ohne wär die Story ja langweilig ^^")
___________________
Früchte der Furcht
Kapitel Zwei
Bereits am späten Nachmittag hatte er den nördlichen Rand Düsterwalds erreicht und beschlossen, den einsamen Weg über die Ebene nicht bei Nacht zu wagen.
Legolas stand auf einem hohen, sehr schmalen Fleet und überschaute das flache, deckungslose Land, welches sich im weichen Dämmerlicht vor ihm erstreckte. Weit unter dem Ast, auf welchem das Fleet ruhte, zog an den breiten Stämmen der uralten Bäume vorbei der große Fluß seine Bahn. Beinahe kurvenlos erstreckte sich das silbrig schimmernde Band bis zum Horizont, wo Legolas in der Ferne als graue Flecken gegen den dunkelnden Himmel gerade noch die höchsten Gipfel des Ered Mithrin ausmachen konnte.
Zu seiner Linken erhob sich, obwohl weiter entfernt, viel deutlicher das hohe Nebelgebirge, hinter dem vor einiger Zeit die Sonne verschwunden war. Auf halbem Wege verriet ihm das fruchtbare, dunkelgrüne Grasland, wo genau sich der breite Anduin wand. Doch dorthin würde er seine Schritte nicht richten.
Seufzend wandte sich Legolas wieder Ered Mithrin zu, dem Grauen Gebirge. Schwere, schwarze Gewitterwolken zogen sich tief über den Gipfeln zusammen; gelegentlich hätte Legolas fast geschworen, den Donner bis hierher zu vernehmen. Er wußte, daß dieses Unwetter für ihn im Moment keine Gefahr bedeutete; die Winde flauten meist lange vor dem Erreichen Düsterwalds ab. Selbst wenn nicht, boten die hohen Bäume und ihr dichter Bestand ausreichend Schutz.
Doch diesmal führte sein Weg nordwärts, womöglich gar in den Sturm hinein, und keine Begleiter würden ihm in den einsamsten Stunden der Nacht Unterhaltung und Ablenkung verschaffen. In schweren Zeiten wie diesen konnte König Thranduil keine großen Kriegergruppen entbehren, und doch verlangte die Aufgabe nach einem hochrangigen Vertreter. Da er seinen Sohn schon früher auf dieselbe Reise geschickt hatte und ihm zutraute, das Ziel heil zu erreichen und die alten Bande neu aufleben zu lassen, hatte er Legolas ausgesandt. Legolas allein, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.
Als in der zunehmenden Dunkelheit die entfernten Gipfel völlig mit den Wolken verschwammen, ließ sich Legolas auf dem rauhen Holz nieder, zog seinen neuen Bogen von der Schulter und lehnte sich ein wenig gelangweilt gegen den kräftigen Stamm.
Stolz begutachtete er seine Handarbeit: Das Holz glattgeschliffen wie ein Flußstein, die Form genau seiner Hand angepaßt, und die Länge stand in perfektem Verhältnis zu seiner Armspanne. Die Sehne war fest und sicher gespannt, und vor drei Tagen hatte die neue Waffe ihre erste Bewährungsprobe im Kampf gegen die Riesenspinnen bereits erfolgreich bestanden. Nicht mal ein halber Tag war für die gröbste Arbeit vergangen. Wäre Legolas nicht als Prinz geboren und zum Krieger bestimmt, hätte er als Handwerker wahrscheinlich auch viel Ruhm erlangt.
Inzwischen senkte sich die Nacht über die Baumkronen Düsterwalds und Legolas entschied, besser gut auszuruhen, um am nächsten Tag so viel Strecke wie möglich zurückzulegen. Noch während er seine Augen schloß, plante er die schnellste Route …
Und dann hörte er es.
Das Geräusch war weder überdurchschnittlich laut noch sonderlich auffallend. Ebenso schnell, wie Legolas den Verursacher als die Nachtjäger, die Riesenspinnen Düsterwalds, erkannte, sagte ihm sein Gehör auch, daß hier von diesen Wesen keine Gefahr drohte. Sie waren zu weit entfernt, und … ja, sie hatten schon eine Beute gefunden. Jäger und Gejagte, das war nun einmal ein Gesetz des Lebens. Gleichgültig versuchte Legolas, seine Ruhe wiederzufinden.
Fünf Minuten später schlug er die Augen wieder auf und erhob sich. Lauschend verharrte er am Rande des Fleet, diesmal zum Waldinneren gewandt. Unrast erfaßte ihn; aus irgend einem Grund konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dort in der Finsternis tatsächlich etwas Ungewöhnliches vorging. Noch immer vernahm er deutlich das hohe Pfeifen der straff gespannten, vom Wind zum Schwingen gebrachten Spinnenfäden, welches ihm die genaue Richtung ihrer Netze verriet. Er erkannte die aufgeregte Bewegung, die stets das Einhüllen der Beute begleitete und hörte die unzähligen klickende Schritte der achtbeinigen Riesen, sowie die surrende Reibung der Fadenkletterer.
Zu viele.
Das war es, was ihn gestört hatte. Es waren zu viele. Natürlich jagten sie immer im Rudel zu fünft oder sechst, aber was Legolas hier vernahm, deutete auf zwanzig, vielleicht dreißig Nachtjäger hin. Und sie bekämpften nicht einander, was bedeutete, daß die Beute genügend Nahrung für alle und mehr versprach. Für dieses Verhalten gab es so weit abseits der alten Waldstraße und so nahe am offenen Gelände nur eine Erklärung.
Legolas schluckte: Die Beute war ein offensichtlich unvorsichtiger Elb.
Kann ich ihn retten?
Die Frage, welche sich Legolas stellte, war nicht, ob er noch rechtzeitig den Ort des Geschehens erreichen könnte. Die Kokons der Nachtjäger töteten nicht sofort, und ein Elb in guter Kondition müßte noch ein, vielleicht sogar zwei Tage leiden, ehe die Gifte seinen Körper völlig lähmten. Zeit bliebe ihm also genügend. Doch allein gegen eine so große Meute anzutreten, in der Nacht – ihrer natürlichen Umgebung – und nur mit einem provisorischen Bogen bewaffnet …
Wie groß war die Chance, den fremden Elb zu retten? Und wie hoch die Gefahr, selbst geschlagen zu werden? War Legolas' Eingreifen das Risiko wert, daß sein tatsächlicher Auftrag vielleicht niemals erfüllt würde? Durfte er das aufs Spiel setzen? Konnte er das tun?
Sei ehrlich, Legolas, schalt er sich selbst. Kannst du hier rumsitzen und gar nichts tun?
Ein lautloses Beben in seiner Brust lachte ihn aus. Der Elbenprinz hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, ehe die bewußte Entscheidung fiel.
*******
Der Kokon baumelte zwischen zwei Bäumen, gehalten von mehreren fingerdicken, klebrigen Fäden. Aus einiger Entfernung studierte Legolas die etwas eigenwillige Form. Sie erinnerte eher an einen langgestreckten Zylinder als an einen Körper, und das obere Ende lief wie ein stark gestreckter Kegel spitz aus. Entweder, schloß er, enthielt das seidene Gefängnis einen überdurchschnittlich großen Vertreter der Elben, oder es handelte sich um eine ihm unbekannte Spezies. Doch da Legolas die erste Möglichkeit nicht völlig auszuschließen vermochte, entschied er, weiter nach Plan vorzugehen.
Da gab es nur ein winziges Problem: Er hatte keinen Plan.
Bei der unüberlegten Hast, mit welcher er sich in diese 'Rettungsaktion' gestürzt hatte, erschien es ihm wie ein Wunder, daß er nicht bereits auf dem Weg hierher entdeckt und angefallen worden war. Vermutlich hatte er das nur der Unaufmerksamkeit und gieriger Beutewacht der Nachtjäger zu verdanken. Doch während diese extreme Bewachung ihm vorher Deckung verschafft hatte, stellte sie beim nächsten Schritt ein ernsthaftes Hindernis dar.
Inzwischen hatten sich weit über dreißig Spinnentiere versammelt, und der Geruch ihrer Erregung lockte immer noch mehr an. Verborgen hinter dem dichten Laub, getarnt auf der schwarzen Erde, wie Auswüchse an die Stämme geklammert – sie waren einfach überall. Nur eine falsche Bewegung, und Legolas würde innerhalb von Minuten ebenfalls in einem Kokon zwischen den Bäumen baumeln.
Da. Mehrfaches Trippeln erregte Legolas' Aufmerksamkeit. Eine neue Gruppe. Diesmal waren es viele, zwölf oder fünfzehn. Womöglich hatten sie sich unterwegs bereits zusammengeschlossen. Unwillkürlich begann die Haut des Prinzen zu kribbeln, als sowohl sein Geruchssinn als auch seine besondere Wahrnehmung der Umgebung ihm die zunehmende Aufregung der bereits anwesenden Jäger übermittelte. Was …?
Etwas verwirrt versuchte Legolas, die Ursache für ihre Unruhe herauszufinden. Hastig überdachte er noch einmal die Situation, den Schauplatz, die ungefähre Zeit, die Anzahl der Spinnen … Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es mußten über fünfzig sein! Nicht einmal ein Elb konnte so vielen genügend Nahrung liefern – und mehr von ihnen waren schon auf dem Weg hierher.
Nicht nur Legolas wußte das; auch die Jäger erkannten ihre Situation. Bald würden sie beginnen, übereinander herzufallen. Legolas grinste. Das war seine Chance.
Er mußte nicht sehr lange warten. Etwa drei Stunden später hatten sich zwei weitere Gruppen eingefunden, und die ersten Morgenstrahlen begannen, die enge Lichtung zu erhellen. Langsam hatte er den Eindruck, seine Haut würde Bläschen schlagen, als sein scharfes Gehör weitere Ankömmlinge meldete.
Sie schlugen ohne Vorwarnung los.
Erschrocken drückte sich Legolas an den Stamm seines Versteckes, während um ihn her das reine Chaos ausbrach. Woher sie kamen und wen sie anfielen, konnte er nicht ausmachen, doch jeder schien gegen jeden zu kämpfen. Nach dem ersten Schock zückte er einen Pfeil und legte an, um jedes Tier zu töten, welches sich dem Kokon näherte. Doch wie heftig sie auch aufeinander losgingen, kein Jäger kümmerte sich um die Beute. Sie stellte wahrscheinlich den Siegerpreis dar.
Um so besser, dachte Legolas und änderte seinen Plan. Kämpfe unter Nachtjägern währten meist nicht sehr lange, da die Schwächeren lieber aufgaben als zu sterben. Schon bald würde die Gruppe wieder auf ein annehmbares Niveau schrumpfen und das Gefecht eingestellt werden. Dann mußte er bereit sein …
Schließlich verstummte das Schreien und Raspeln, als die Sieger sich beruhigten. Noch waren sie alle auf dem Boden versammelt, und ehe sie sich in ihre Verstecke zurückziehen konnten, spannte Legolas seinen Bogen und schoß ohne zu Zielen fünf brennende Pfeile mitten in die Meute. Das trockene Fell der Jäger ging sofort in Flammen auf. Während die entsetzten Tiere in alle Richtungen auseinanderstoben und lodernde Flammen im Wald verteilten, hastete Prinz Legolas unbemerkt zu dem Ast, an welchem die meisten den Kokon tragenden Fäden befestigt waren, zertrennte sie mit kraftvollen Dolchhieben und sprang mit der ganzen Energie seines Anlaufs an die nun frei schwingende Hülle, von wo er noch in der Aufwärtsbewegung die übrigen Stricke durchhieb.
Der Rest des Fluges sollte ihn direkt auf den breitesten Ast des gegenüberliegenden Baumes schleudern.
Doch Legolas hatte seinen Schwung und die unbalancierte Last des Kokons falsch eingeschätzt, und obwohl er den Fehler bald erkannte, konnte er nun nichts mehr daran ändern. Er verfehlte nicht nur den Ast, sondern da sein Raubgut schwerer war als gedacht, blieb es ihm auch unmöglich, seinen Fall einhändig abzubremsen. Nachdem er fast senkrecht durch sämtlich Baumschichten gerauscht war, prallte er mit einem dumpfen Geräusch rücklings auf den feuchten Boden. Links neben seinem Ohr beendete ein empörtes Splittern die Nützlichkeit seines Bogens, und von ringsum stürzten wütende, beutegierige Jäger auf ihn ein.
*******
Als der stechende Schmerz in seiner Brust abklang, atmete Legolas vorsichtig ein. Er schien keine ernsten Verletzungen, offene Wunden oder Brüche, abbekommen zu haben. Glück gehabt. Nicht zu hastig rollte er auf die Seite und hob seinen Kopf leicht an, um über den neben ihm liegenden Kokon hinweg die dichte Linie der Nachtjäger zu mustern, welche ihrerseits ihre neue Beute lechzend anstarrten. Ohne sich umzusehen wußte er, daß sich hinter seinem Rücken das gleiche Bild zeigte. Er war umzingelt.
Nun, ich werde … In stiller Akzeptanz erhob sich der Elbenprinz, sicher nicht kampflos untergehen.
Legolas bildete sich auf seine Kampfkünste nichts Besonderes ein, und übertrieben selbstsicher war er auch nicht. Doch in unzähligen Trainingsstunden und Gesprächen hatten seine Lehrer und sein Vater ihm unentwegt eingetrichtert, wann genau eine Schlacht verloren war: Sobald du aufgibst, überläßt du deinem Gegner den Sieg.
"Nicht freiwillig!" brüllte Legolas die erregten Spinnen wütend an. Er heftete seinen Elbendolch erneut, während er mit der rechten Hand in einer raschen Bewegung ein zusätzliches, kurzes Schwert aus der Lederscheide an seinem Rücken zog. "Ich gebe mich nicht geschlagen, also kommt schon!"
Legolas wartete ihre Reaktion nicht ab; ungeduldig sprang er das nächste Tier an und stach ihm mit zwei mächtigen Hieben durch die Augen direkt ins Hirn. Die acht Beine klappten gefühllos zusammen, ehe die anderen Jäger reagieren konnten. Doch dann brachen sie alle auf einmal los.
Augenblicklich übernahmen jahrelang in Fleisch und Blut eingegangene Instinkte und Reflexe Legolas' Handlungen; er sprang, stieß sich von den engen Baumstämmen ab, um zusätzlichen Schwung zu erhalten und landete in einem Salto auf dem Rücken einer Spinne. Von dort aus war es nicht schwierig, tödlichen Schaden zuzufügen, und bis die anderen ihn entdeckten, befand er sich bereits wieder in der Luft und visierte den nächsten Gegner an.
Wie oft und wie lange er dieses Spielchen wiederholte, wurde ihm kaum bewußt, doch schließlich erfaßten die Jäger seine Strategie und griffen erbarmungslos das von ihm 'besessene' Tier an. Sie hatten sich auch bald vom Boden zurückgezogen und versuchten nun, ihn aus den höheren Ästen mit Fangfäden zu erwischen, und oft entkam Legolas nur mit Mühe und sehr knapp. Inzwischen ging sein Atem recht schwer, auf seiner Stirn bildete sich bereits ein glänzender Film.
Als er erneut frei nach oben sprang, um sich einen kurzen Überblick zu verschaffen, fiel ihm auf, daß der Kampfplatz nun von silbrig glänzenden, schnell trocknenden Fäden überzogen war. Noch während er einen neuen Plan ausarbeitete, änderte er beim nächsten Abstoß die Richtung und verschwand kurz darauf im dichten Wald.
Die Jäger nahmen seine Fährte auf und folgten Legolas in einem weiten Bogen um den Platz, bis sie ihm fast alle in einer Gruppe auf den Fersen waren. Dann sprang er zurück auf die Lichtung direkt neben den noch immer unberührten Kokon. Es dauerte nicht lange, ehe die Jäger ihn erneut umzingelten, doch diesmal war Legolas vorbereitet.
Aufrecht und reglos stand er mitten auf der von dichten Spinnweben überzogenen Fläche, Dolch und Kurzschwert in der Scheide und beide Hände zu Fäusten geballt. Rings um ihn her zwängten sich seine Gegner durch enge Lücken in den Netzen und verharrten für eine letzte Erwägung. Auch über ihm hingen sie gierig in ihren Netzen. Durch Duftstoffe verständigten sie sich, und selbst Legolas fühlte ihre Erregung ansteigen, bis sie ihren Höhepunkt erreichte und der letzte Angriff direkt bevorstand.
Blitzartig fiel Prinz Legolas auf die Knie, öffnete seine beiden Hände und ließ die glimmenden Glutkörnchen fallen, packte den nahen Kokon und stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab, um den rasant um sich greifenden Flammen zu entkommen. Gerade in diesem Moment stürzten die Jäger auf ihn, direkt in die lodernde Hitze, welche ihre vermeintlich gesicherte Beute zurückgelassen hatte.
Hinter sich vernahm Legolas noch lange ihre wütenden und schmerzverzerrten Schreie, doch er achtete nicht darauf, sondern rannte und sprang auf schnellstem Wege in Richtung Fluß. Er zögerte auch nicht, als er ihn erreichte, tauchte mit dem Kokon tief unter die Oberfläche und ließ sich dort von der Strömung in Sicherheit treiben, während das klare Wasser den verräterischen Gestank der Schlacht von seiner Haut und seiner Kleidung spülte und den Kokon, welchen er noch immer fest umklammerte, langsam aufweichte.
*******
Viel später zog sich der Elbenprinz einhändig an den überhängenden Zweigen der steilen Uferböschung an Land, bis er fast völlig den tiefen Fluten entkommen war. Mit einem starken Ruck zerrte er den nun vollgesogenen Kokon ebenfalls aus dem Wasser, dann lehnte er sich zurück und begann wieder zu atmen. So lange hatte er noch niemals die Luft anhalten müssen … aber zumindest schien er die Jäger abgehängt zu haben.
Nachdem sich sein Herzschlag normalisiert hatte, begann er mit seiner Klinge, die glitschige, schlammartige weiße Substanz des Spinnenkokons vorsichtig aufzutrennen. Zunächst sah er nichts weiter als schwarzen Stoff, unter welchem er einen seltsam harten Grat fühlte, doch er schnitt weiter und verschob eine Untersuchung auf später.
Er hatte vermutet, daß das kegelförmige Ende so etwas wie ein Schwanz, also das untere Ende wäre. Daß die Jäger ihre Beute verkehrt herum aufhingen, kam sehr oft vor, denn für die Genießbarkeit der Nahrung bedeutete es keinen Unterschied. Doch als er nun diese Spitze freilegte, bemerkte Legolas, daß er sich am oberen Ende der Beute befand und das dieses Ende, genaugenommen, gar nicht mehr zu dem Wesen gehörte, dessen blasse Ohrspitze zwischen dem dichten, schleimverklebten schwarzen Haar fast drei Kopflängen weiter unten es zweifelsfrei als Elben kennzeichnete.
Ahnungsvoll betastete er noch einmal den unter den Lumpen verborgenen Grat und erkannte die vertraute Form fast augenblicklich.
Mein Bogen!
Ungeduldig riß er dem noch immer bewußtlosen Elb den rauhen Umhang von den Schultern und zog den Bogen nicht gerade behutsam über den Kopf des Jungen, welchen er in der gleichen Bewegung auf den Rücken drehte. Der jüngere Elb murmelte etwas vor sich hin, schleuderte im Schlaf einen Arm in Legolas' Gesicht und drehte sich gemütlich auf die Seite, dann begann er leise zu schnarchen.
Verblüfft griff sich Legolas an die schmerzende Nase, ehe sich sein Gesicht etwas verzog, sein Arm zurückschnellte und seine Hand mit einem lauten Patschen auf der bleichen Wange des schlafenden Bengels landete. Die Stelle färbte sich sofort rot, noch während der Junge überrascht auffuhr und sichtlich verwirrt sein brennendes Gesicht rieb. Doch bevor Legolas ihn zurechtweisen konnte, schien der Junge den Schmerz zu akzeptieren, zuckte gleichgültig die Schultern und ließ sich mit geschlossenen Augen wieder auf den Boden fallen.
Legolas' ganzer Körper bebte vor Anspannung, als er zunehmend die Geduld verlor. Doch seine Stimme steigerte sich nur allmählich von einem Flüstern zu einem wütenden Ruf: "Duuuuu…!"
"Ja?" Die Lider des Jungen flogen mit einem Mal auf, und er schaute dem Prinzen hellwach in die Augen. "Wozu brüllst du denn so? Was ist?"
Wäre Legolas nicht bis zur Sprachlosigkeit empört gewesen, hätte er vielleicht darüber gelacht. So aber sprach er den ersten klaren Gedanken aus, den er greifen konnte: "Was fällt dir Rotzbengel eigentlich ein, meinen Bogen zu klauen?!"
Der Junge hob herausfordernd den Kopf und schob sein Kinn trotzig nach oben: "Ich wollte ihn eben."
"Was soll denn das für ein Grund sein?"
"Das ist der beste Grund, den's gibt!" konterte der junge Elb. "Wozu sonst klaut einer was, außer, weil man es selber haben will!"
"Du … du …"
"Was?!"
"Inuel!"
"Hä?"
Plötzlich senkte sich eisiges Schweigen über die beiden Streithähne. Legolas hätte sich am liebsten selbst einen Tritt verpaßt, doch er wollte sich nicht noch mehr bloßstellen. Wie konnte er sich nur dazu hinreißen lassen, in so ungezügelten Ärger zu verfallen? Also wirklich. Was würde Vater dazu sagen? Schäm dich, schalt der Elb sich selbst. Doch tief in seiner Seele regte sich eine Zufriedenheit, die er schon lange nicht mehr gefühlt hatte, und kurz darauf verflog seine Wut und er erlangte wieder Kontrolle über seine Gefühle.
"Was … was heißt das?" fragte der Jüngere zögernd. "Das klingt gar nicht nach den Namen, die ich sonst immer kriege."
"Naja, also …" Etwas verlegen wischte sich Legolas ein paar feuchte Haarsträhnen aus der Stirn. Er konnte dem Bengel doch unmöglich sagen … "Gewöhn dich halt dran," erklärte er schroff, während er sich erhob. "Das ist jetzt dein Name." Eilig untersuchte er den Hang nach dem einfachsten Weg aufwärts und nahm ihn.
Der Junge saß noch immer bewegungslos in den Überresten des Kokons. "Meinst du …" sprach er den Rücken des kletternden Elbenprinzen an. "Meinst du, für immer? In echt?"
Auf halber Höher hielt Legolas inne und warf einen mürrischen Blick über seine Schulter. Eine Weile erwog er, nicht zu antworten, doch dann stahl sich ohne sein Zutun ein winziges Grinsen auf seine Lippen und spiegelte sich in seinen klaren, blauen Augen wider.
"In echt", nickte er. "Jetzt komm schon, oder willst du hier nochmal angefallen werden?"
*******
Trotzig sandte die Abendsonne ihre letzten wärmenden Strahlen durch den schmalen Spalt zwischen dem Nebelgebirge und der dunkelgrauen Wolkenschicht, welche sich vom Anduin bis zum östlichen Düsterwald erstreckte. Ein rauher Wind war aufgekommen und die Luft roch nach Regen, als Legolas und sein junger Begleiter den Übergang vom Wald zur Ebene erreichten.
Mißmutig, aber ohne Kommentar hatte Legolas darüber hinweggesehen, daß der Junge am späten Nachmittag respektlos den Saum seines Umhangs gegrapscht und seitdem nicht mehr losgelassen hatte. Gelegentlich hatte er innegehalten, wobei der Junge ihm jedesmal in den Rücken lief, und schließlich hatte der Prinz entdeckt, daß der Jüngere eigentlich schon seit Stunden schlief und ihm nur noch automatisch hinterher trottete. Wie hatte er nur acht Tage lang mit ihm Schritt halten können?
"Inuel, wach auf!" Keine Reaktion. "Inuel?" Nichts als ein winziges Schnarchen antwortete ihm. Unsanft rüttelte Legolas seine Schulter: "Hey, du! Aufwachen!"
Ein Auge öffnete sich und blinzelte ins goldene Licht. "Hm? Ich bin so müde …"
"Ach, tatsächlich?" murmelte Legolas. "Siehst du, da oben?" Er zeigte am nächsten Baum hinauf und schaute dann wieder zu dem Jungen. "Kannst du da rauf klettern, Inuel? Da ist ein Fleet; von mir aus kannst du dort wieder einschlafen."
Inuel blickte träge nach oben, zurück zu Legolas und wieder nach oben. "Und du?"
"Ich muß noch was einsammeln … Kannst du klettern?"
Der Junge grunzte leicht und machte sich schleppend daran, den hohen Stamm zu erklimmen. Geduldig wartete Legolas, bis er sicher sein konnte, daß sein Begleiter das Ziel erreichen würde, dann schlich er leise zurück in den Wald. Schon unterwegs hatte er einige der Kräuter entdeckt, welche er zur Heilung benötigte, doch mit dem torkelnden Jungen mitten im Wald auf Pflanzensuche zu gehen erschien ihm nicht besonders schlau. Jetzt, da er allein war, lief er schnell und geräuschlos wie ein leichter Wind zu der kleinen Lichtung, packte die wichtigsten Pflanzen vorsichtig in seine Gürteltasche und begab sich kurz nach Einbruch der Dunkelheit wieder auf den Weg zum Fleet.
Es dauerte nicht lange, bis er dessen Unterkante erreichte, doch ehe er sich hinaufschwang, riet ihm ein Instinkt, den Kopf lieber unten zu halten. Wie erwartet sauste über ihm ein dicker Zweig pfeifend durch die Nachtluft, dann zog sich Legolas nach oben und ergriff den Stock. Inuel schaute ihn mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an.
Legolas wollte ihn tadeln, er wollte es wirklich. "Du bist noch wach?"
"Prinz …" Verdächtige Feuchtigkeit wallte in den Augen des Jungen auf.
"Wenn du jetzt anfängst zu heulen, muß ich dich vom Fleet schubsen, also überleg dir's lieber zweimal. Hier." Ohne lange nachzudenken, hielt ihm Legolas einen Teil der Kräuter unter die Nase. "Da du ja nun endlich munter bist, kannst du mir auch dabei helfen."
Inuel griff nach dem buschigen Strauß und schnupperte daran. "Was ist das?" fragte er mißtrauisch.
"Heilkräuter", erklärte der Prinz knapp. "Hier, schau: Du knickst die Blätter ab und legst alle auf einen Haufen, dann brichst du die Blüte oben ab und drückst den Saft aus dem Stiel in diese Schale hier." Er plazierte eine flache Holzschale vor Inuels Knien. "Alles klar?"
"Blätter … Blüte … drücken … ja, alles klar. Wofür brauchst du das?"
Legolas zögerte. "Das … es hilft gegen Verbrennungen."
"Aber ich hab keine …" Plötzlich beugte sich Inuel näher zu Legolas und ergriff dessen blasige Hand, ehe der Prinz sie zurück ziehen konnte. "Donnerwetter … wo hast du das denn her?"
"Frag nicht so viel!" wimmelte Legolas ihn ab. "Los, fang an, damit ich mich um deine Medizin kümmern kann."
"Ich bin nicht krank", meinte Inuel, setzte sich aber zurück und begann gehorsam mit dem Zupfen und Knicken. "Ich brauch keine."
Obwohl Legolas es besser wußte, hielt er es für klüger, den Jungen nicht durch Erklärungen über das Gift, welches sich noch immer allmählich in seinem Körper ausbreitete, zu beunruhigen. Unterwegs war Inuels Teint immer blasser geworden, und zuerst hatte Legolas geglaubt, daß nur Müdigkeit diese Reaktion verursachte. Doch da er nicht wußte, wie lange der Junge sich bereits im Kokon befunden hatte, ehe der Prinz durch den Aufruhr davon erfuhr, war es mehr als wahrscheinlich, daß das Gift bereits durch die Haut in seinen Körper eingedrungen war und sich nun langsam zu seinen Nerven vorarbeitete. Die Befreiung mochte den Prozeß bremsen, doch die Gefahr war noch nicht gebannt.
Ungeduldig beobachtete Legolas, wie die Bewegungen des Jungen immer langsamer wurden und schließlich ganz stoppten. Ein wenig unsicher betrachtete Inuel den Blattstapel und die halbvolle Schale. In einer Hand hielt er noch einen kleinen Rest des Büschels, die andere schwebte zögernd über der Schale.
"Was ist?" fragte Legolas scharf.
Inuel schrak zusammen, sah aber den Prinzen nicht an. "Äh, ich … ich hab … vergessen, was ich machen soll. Ich weiß es nicht mehr."
Ungläubig studierte Legolas seine Haltung und kam zu dem Schluß, daß Inuel sich ehrlich schämte. Konnte das am Gift liegen? Nein, sicher nicht. Das wirkt nicht so. Mit einem genervten Seufzer schätzte er den Inhalt der Schale ab, ergriff sie mit einem gemurmelten "Schon gut." und hielt den Atem an, als er den Inhalt auf seine linke Handfläche träufelte.
Das heiße Brennen zog sich so stark durch seinen Arm bis hinauf zum Kopf, daß der Prinz vor Schmerz fast die Schale hätte fallen lassen. Zischend sog er Luft tief in seine Lungen, brachte seine zitternde Hand wieder unter Kontrolle und schob die Schale in die nun eiskalt prickelnde Linke. Mit tränenden Augen, aber diesmal ohne Geräusch wiederholte er die Prozedur auf der rechten Handfläche.
Die Minuten schienen sich endlos auszudehnen. Zuerst fühlte es sich an, als würde sein Fleisch verbrennen, danach hatte er den Eindruck, seine Haut würde sich von den Knochen schälen. Erst ganz allmählich stahl sich eine selige Taubheit in seine Hände, und Legolas lehnte sich erschöpft an den Stamm. Das ist doch schlimmer als die Theorie, dachte er. Aber wenigstens kann ich jetzt etwas anfassen, ohne mir jedesmal auf die Zunge zu beißen. Ich warte nur noch einen Moment, bis …
Inuel beobachtete fasziniert, wie Prinz Legolas vor seinen Augen einschlief. Lange, nachdem der Atem des Prinzen einen gleichmäßigen Rhythmus angenommen hatte, zog er unbemerkt dessen funkelnden Dolch aus der Scheide.
*******
Legolas fuhr mit einem Eindruck des Schreckens aus dem Schlaf, welcher sein Erwachen in letzter Zeit recht häufig begleitet hatte: Schon wieder hatte er diesen merkwürdigen Traum gehabt, in welchem er von einem hochgewachsenen, in Schatten gehüllten Wesen mit langem, karmesinrotem Haar gewaltsam auf eine rauhe Steinplatte gedrückt wurde, in irgendeinem lichtlosen Raum. An die Einzelheiten erinnerte er sich kaum, nur Reste von undeutlich gewisperten Worten blieben in seiner Erinnerung haften; dennoch beschlich ihn ein äußerst beklemmendes Gefühl der Hilflosigkeit … Immer änderte sich ein Detail ein klein wenig, aber der Gesamteindruck blieb: Gefangenschaft.
Nun, womöglich lag das an den engen Flächen, auf welchen er während dieser Reise seine Nachtlager aufschlagen mußte. Kein Vergleich zu dem breiten, weichen, königlichen Himmelbett in seinem Gemächern zu Hause. Verschlafen öffnete er ein Auge und betrachtete den nur halb sichtbaren Nachthimmel über der Ebene. Bis jetzt hatte es nicht geregnet, und der Wind hatte sich ein wenig gelegt. Die Wolkenschicht hatte sich etwas aufgelöst und eilte nun in großen Fetzen über das Firmament. Dazwischen sah Legolas zweimal kurz den Mond aufleuchten.
Es war noch viel zu früh zum Losgehen. Tief ausatmend rutschte der Prinz am Stamm hinunter in eine bequemere Lage und drehte sich auf seine linke Seite.
Und erstarrte.
Keine zwei Zentimeter vor seinen Augen schwebte die gefährliche Spitze seines Elbendolches, welchen er unterwegs erst geschärft hatte. Alle Instinkte Legolas' schrien danach, den Kopf zurückzuziehen, die Waffe fort zu schlagen und den Feind auszulöschen. Doch mit schnellen, kurzen Atemzügen und rasenden Gedanken bezwang der Elb seine antrainierten Reflexe und hob stolz den Blick zum Gesicht seines Gegners.
Inuel schlief.
Schweigend betrachtete Legolas die Haltung des Jungen, dann lachte er leise vor sich hin: Inuel hockte am Stamm, dicht neben der Stelle, wo sich vor kurzem noch Legolas angelehnt hatte. Er war nur mit einer Hälfte seines dicken, groben Umhangs bedeckt, die andere Hälfte hing rechts von ihm schlaff auf dem Boden des Fleets. Sein Kopf war unzeremoniell nach vorn gefallen, was vermutlich sein leicht raspelndes Atmen verursachte, und während er mit der linken Hand den schweren Knüppel auf seinem Nacken balancierte, hielt er mit der Rechten den Dolch des Prinzen in einem eisernen Griff, den Ellbogen auf die Knie gestützt.
Geräuschlos setzte Legolas sich auf, entwand seine Waffe aus Inuels verkrampften Fingern und hob das rauhe Holz aus dessen Genick, dann zog er den Jungen vorsichtig in eine liegende Position. Als er dabei seinen Nacken berührte, runzelte er unwillkürlich die Stirn: Die Haut des Elben war äußerst warm. Besorgt berührte er Inuels feuchte Stirn. Ja, kein Zweifel: Der Junge hatte hohes Fieber.
Seltsam, überlegte Legolas. Die Medizin hätte doch eigentlich … Die Medizin!
Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er eingeschlafen war, ehe er sie zubereiten konnte. Wie lange mochte er geruht haben? Fünf, sechs Stunden? Mit Gewißheit konnte er feststellen, daß die halbe Nacht bereits vorüber war. Eilig kramte er die inzwischen fast trockenen Kräuter aus seinem Heilbeutel, spülte mit einer Handvoll Wasser die Reste seiner ersten Medizin aus der Holzschale und zupfte einige der winzigen Knospen ab. Diese legte er in die Schale und zerstampfte sie mit einem kleinen Stößel. Danach zerschnitt er ein paar der von Inuel fein säuberlich gestapelten Blätter und vermischte sie mit dem Knospenpulver.
Nach einiger Zeit verbanden sich die Stoffe zu einer dunklen, klebrigen Masse. Vorsichtig träufelte Legolas Wasser darauf, bis das anfängliche Zischen nachließ, danach rührte er erneut. Durch eine natürliche Reaktion wurde die Brühe heiß und begann langsam zu blubbern. Pustend rührte Legolas weiter und bedankte sich insgeheim für die schnelle Heilung seiner Hände bei jenen Ahnen, welche den Elben ihre Gene und ihr Naturwissen hinterlassen hatten.
Der beißende Geruch des Gebräus nahm zu, während es abkühlte, und schließlich befand der Prinz es für fertig. Sein Versuch, Inuel aufzuwecken, scheiterte kläglich; der Junge stöhnte nur leise und murmelte etwas Unverständliches. Beunruhigt beugte sich Legolas näher, um die Worte besser zu verstehen.
"… bin nicht … Osuldar …"
Entgeistert zuckte Legolas zurück, als sich die Erinnerung wie ein Pfeil durch sein Herz bohrte. Woher konnte Inuel …? "Nein", wisperte er vor sich hin. "Das bist du nicht."
Traurig schaute er in das schmerzverzerrte Gesicht des Jungen. Nach kurzem Zögern hob er seinen Oberkörper an und flößte ihm tropfenweise die bittere Medizin ein. Inuel schluckte automatisch, im Schlaf, ohne für ein einziges Wort der Klage aufzuwachen. Nach fast einer Stunde ließ der Prinz ihn wieder auf den Boden des Fleets gleiten, wickelte seinen eigenen Umhang und den des Jungen um dessen zitternden Körper und bereitete sich auf eine lange Wache vor.
"Und ich will verdammt sein, wenn du es wirst."
*******
Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er das Aufwachen als eine beängstigende Erfahrung: Inuel wollte die Augen aufschlagen, um festzustellen, wo er sich befand. All seinen natürlichen Instinkten entgegen rührten sich die Lider keinen Millimeter. Pure körperliche Erschöpfung hinderte ihn an jedweder Bewegung.
Ohne das Training der Krieger hatte sich Inuel stets einzig auf seine Sicht verlassen, und nun konnte er mit seinen übrigen Sinnen nur spärliche Informationen zu seiner Umgebung sammeln: Seine linke Handfläche lag direkt auf geglätteten Holzplanken, und an dem schweren Gewicht, welches ihn niederdrückte, erkannte er, daß er mit mehr als nur seinem Umhang bedeckt war. Nach dem ersten Anflug von Panik nahm er einen leichten, würzigen Geruch wahr, welchen Inuel unwillkürlich mit Wärme und Sicherheit verband. Träge setzte sein Gehirn diese Gegebenheiten zusammen und entschied, daß er sich vorerst nicht in Gefahr befand.
Die feuchte, kühle Morgenluft übertrug ihm jene frühmorgendliche Erregung, welche meist dem nahen Tagesanbruch voranging. Für eine Weile nahm Inuel diese Energie gierig in sich auf und ließ sich von der Lebenskraft der Natur erfrischen, bis er schließlich die zarte Wärme der ersten Sonnenstrahlen auf seiner Wange spürte.
Erneut versuchte er, die Lider zu heben. Zuerst sah er nichts als verschwommene helle, dunkle und goldene Flecken. Ein innerer Sinn sagte ihm, daß das Gold den wichtigsten Faktor darstellte, und Inuel blinzelte ein paar Mal mühsam, um seine Sicht zu schärfen.
Langsam nahmen die Flecken schärfere Formen und deutliche Umrisse an und lösten sich schließlich in das Profil des Prinzen auf. Legolas hatte sein Gesicht halb abgewandt und starrte blicklos in die aufgehende Sonne. So von vorn beleuchtet, schimmerten seine Haare wie goldene Seidenfäden, trotz der Ereignisse der letzten Tage in tadellosem Zustand und gewissenhaft geflochten hinter einem leicht abstehenden, spitzen Ohr entlang bis zur einfachen, holzgeschnitzten Spange gezogen, welche sein Haar in einer praktischen, nichtsdestotrotz aber eleganten Frisur zurückhielt. Sein spitz zulaufendes Kinn hatte er herausfordernd den Grauen Bergen entgegengestreckt, und die abwärts gezogenen Winkel seine schmalen Lippen, jetzt im Grübeln leicht geöffnet, zeugten von einem schmerzlichen Thema. Über dem hohen Wangenknochen spiegelte ein blaßblaues Auge das Sonnenlicht wider. Doch für einen Moment schien ein eiskalter, zorniger Funke sogar noch heller zu strahlen.
Bei diesem Anblick erfaßte Inuel eine Welle der Wut und Trauer, für die er in sich selbst keine passende Ursache fand. Instinktiv streckte er eine Hand nach Legolas aus, doch seine leichte Bewegung alarmierte den Prinzen, ehe er ihn berühren konnte.
Legolas wirbelte herum und prüfte den unverschleierten Blick des Jungen aufmerksam. "Bist du …" begann er mit leicht heiserer Stimme, dann räusperte er sich und fuhr fort: "… jetzt wach?"
Während der letzten zwei Tage hatte Inuel im Fieber gelegen, doch hin und wieder kam er weit genug zu sich, um die Bilder und Erlebnisse und verzerrten Gedanken seines Wahns mit Legolas zu teilen. Meistens murmelte er unverständliche Sätze und verwechselte den Prinzen mit Personen, die er wohl nie richtig kannte und welche ihn in ihrer Grausamkeit dennoch bis in seine Träume zu verfolgen schienen. Seltsamerweise hielt er Legolas nicht ein einziges Mal für einen tatsächlichen Feind, wie etwa die Nachtjäger. Am Vorabend schien er sich beruhigt zu haben, und das Fieber hatte sich endlich etwas gelegt. Mitten in der Nacht wachte er auf, und der Prinz glaubte bereits, es sei überstanden. Doch dann begann der Junge wieder zu phantasieren.
Legolas hatte dem Jungen gerade mit einem feuchten Tuch den Schweiß aus der Stirn gewischt und überlegte angestrengt, wie er ihn sicher nach Hause schaffen konnte, ohne seine Reise abzubrechen, als unerwartet Inuels Augen aufflogen. Sie schauten ihm klar und direkt ins Gesicht, ohne die glasige Panik der letzten Male.
"Du hast mich erschreckt", lächelte Legolas.
Im ersten Moment schien Inuel ihn nicht zu verstehen, doch dann formten seine ausgetrockneten Lippen heisere, kaum hörbare Worte. Der Prinz beugte sich tiefer.
"Nimm … mich … mit", wisperte der Junge.
Legolas wich zurück und schüttelte leicht den Kopf, während er dem Kranken vielsagend, wie er hoffte, in die Augen sah. "Das geht nicht", erklärte er. "Es ist zu gefährlich." Für uns beide, mit dir.
"Nimm mich mit", wiederholte Inuel tonlos, als hätte er Legolas' Bemerkung gar nicht vernommen. "Laß mich bitte nicht – wieder allein zurück!"
Wieder? dachte der Prinz. In der brechenden Stimme des Jungen erkannte er deutlich den Kraftaufwand, welchen es ihn kostete, und er versuchte, Inuel zu beruhigen: "Ich gehe nicht weg, keine Sorge. Und wenn es dir besser geht, finden wir schon einen Weg, dich heimzubringen und …"
"Nein!" Es war mehr ein Bellen als ein Wort. "Nimm mich mit!" rief der Junge ungeachtet seiner Schwäche. "Ich weiß nicht viel, aber ich kann ja lernen! Und ich kann dir bestimmt helfen! Ich kann …" Er hielt inne, als suche er nach irgendeinem Talent, und atmete schwer wie in einem Kampf gegen sich selbst. "Ich kann …in enge Löcher kriechen … schnell rennen, und klettern … fliegen … und Gedanken lesen, und Dinge bewegen … und ich … ich kenne … die … Zukun…"
Schließlich hatte ihm die Anstrengung das Bewußtsein geraubt, und Legolas ein wenig verunsichert die Kühlung wieder aufgenommen, da das Fieber anscheinend zurückgekehrt war. Schöner Wahrsager, der sich von Spinnen fangen läßt. Er hatte darüber leise gelacht.
Aber inzwischen hatte der Prinz viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und die Behauptung des Jungen, er könne lernen und vielleicht mal nützlich sein, schien ihm plötzlich gar nicht mehr so unlogisch. Alles in ihm sträubte sich gegen einen so tolpatschigen und daher gefährlichen Begleiter, doch auf der anderen Seite – alles in ihm sträubte sich ebenfalls bei dem Gedanken, ihn noch einmal allein durch Düsterwald ziehen zu lassen. Er würde sich niemals auf seinen Auftrag konzentrieren können, wenn er ständig nur grübelte, in welchen Ärger der Kleine inzwischen wieder geraten war.
"Bin wach", antwortete Inuel rauh. "Durst."
"Ah, das ist ein gutes Zeichen … hier." Wie vorher mehrmals mit der Medizin oder etwas Wasser hob Legolas die Schultern des Jungen mühelos an, damit er leichter schlucken konnte. Diesmal ging es allerdings viel schneller, da Inuel aus eigener Kraft trank. Als seine Augen wieder zuzufallen drohten, ließ der Prinz ihn runter und rollte ihn in eine seitliche Lage, dann drückte er Inuel einen Lembas in die Hand.
"Knabber das, wenn du kannst. Das wird dich stärken."
Gehorsam begann der Junge, an der keksartigen Nahrung zu lutschen und entwickelte bald darauf einen gesunden Appetit. Er aß den ganzen Lembas relativ schnell auf und grinste Legolas stolz an. "Fertig." Da Legolas nicht antwortete, entschied sich Inuel, die Frage endlich zu stellen. "Uh … Prinz?"
"Hm?" Legolas schenkte ihm gerade genug Aufmerksamkeit, um auf welche Frage auch immer antworten zu können, ohne sich von wichtigeren Problemen ablenken zu lassen. Inuels Fragen waren nicht so komplex, daß er viel darüber nachdenken müßte.
"Prinz … darf ich mit dir kommen?"
"Klar."
"Ehrlich?"
"Sicher …"
"Oh, super!" Der begeisterte Ausruf schreckte Legolas aus seinen Gedanken, doch nicht rechtzeitig genug, um die stürmische Umarmung abzuwenden. "Toll! Und wo gehen wir hin?"
"Äh …" Leicht verwirrt schob der Prinz Inuel von sich. "Wir?" Und plötzlich fiel ihm ein, was er auf welche Frage geantwortet hatte. "Oh!"
"Du hast gesagt, ich darf!"
"Ja … das habe ich, nicht wahr?" Innerlich mußte Legolas über sich selbst lachen. Wozu nun all die Grübeleien? Anscheinend hatte sein Herz längst entschieden, was es wollte. Mit einer weit ausladenden Geste deutete er über die Ebene und umfaßte das ganze Land bis zum Grauen Gebirge. "Da wollen wir hin."
Während Inuel staunend die vor der Morgensonne scharf umrissenen, fernen Bergspitzen betrachtete, überprüfte Legolas unbemerkt, ob seine Habseligkeiten alle noch an ihrem gewohnten Platz waren.
___________________
A/N: Ich bin nicht sehr erfahren im Beschreiben von Kämpfen, aber ich muß das wohl noch öfter machen. Bitte sagt mir, was ihr anders haben möchtet, ja? Ich lerne sehr gern dazu! ^^ Ach so, und ja: Elben können durch starke Gifte auch sterben, wenn sie nicht behandelt werden. Das ist eine gewaltsame äußere Einwirkung und fällt unter den Begriff "erschlagen werden". (Ich achte auf Details, und ich hoffe, ihr tut das auch alle. Besonders bei diesem Teil; darauf komme ich nämlich später noch zurück. ^.~)
Eure Mel
