A/N: Hoffentlich war euch das zweite Kapitel nicht schon zu lang, die anderen sind nämlich auch alle so. ^^" Sorry, aber ich erzähl doch so gern. Ach ja, was zwischen und steht, sind bei mir Erinnerungen, wie ihr sicher auch ohne diesen Kommentar bemerkt hättet … ^^()

Und für Khair ed Din: Über Osuldar erfährst du mehr im vierten Kapitel. Und woher weißt du, daß Inuel eine Bedeutung hat??? ^.~ Du hast Recht: Obwohl ich mir manche Namen nur ausdenke, diesen auch, habe ich später herausgefunden, daß er in der Tat eine recht peinliche Bedeutung hat. Aber was es ist und auch die Erklärung dafür, warum Legolas ihn wählte, offenbare ich erst in meiner zweiten Geschichte. ^^ (An der ich auch schon schreibe, also keine Bange …)

Disclaimer: Ich bin ja Tolkien sooo dankbar, daß er uns Landkarten hinterlassen hat! *^.^*

Rating: PG-13 (braucht dieser Teil eigentlich nicht, naja, ^^" vielleicht in psychischer Hinsicht)

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Früchte der Furcht

Kapitel Drei

Eine träge Schläfrigkeit senkte sich über den schattigen, aber schwülen Düsterwald, nachdem die brennende Sonne ihren Zenit überschritten hatte. Durch die heiße, feuchte Luft drangen die normalen Geräusche des Waldlebens nur noch gedämpft an Legolas' Ohr, fast so als hielte er den Kopf unter Wasser. Deshalb erschien es nicht verwunderlich, daß auch der Elbenprinz von einer gewissen Müdigkeit erfaßt wurde, und die wachsende Unruhe in Inuel beobachtete er mißbilligend.

Der Junge drängte auf Bewegung. Nicht nur geistig war er ungeduldig, auch sein Körper sehnte sich nach Übungen, um die Blutzirkulation anzuregen und die letzten Reste des Spinnengiftes aus seinem System zu waschen. Da dies ein völlig natürliches Verlangen war, hatte Legolas auch Verständnis für das Bedürfnis an sich.

Was ihn störte, war die erschreckend kurze Zeit, welche Inuel zur Genesung benötigt hatte: Erst an diesem Morgen war er klaren Verstandes erwacht, und derart schnell dürften sich selbst Elben nicht von Vergiftungen erholen. Hatte Inuel am Ende doch eine viel kleinere Dosis abbekommen, als Legolas vermutet hatte? Oder verfügte sein Körper aus irgend einem Grund über besonders starke Abwehrkräfte?

"Inuel", warnte der Prinz auf einem langen Atemzug, als der Junge gefährlich nah am Rand des Fleet auf unsicheren Fußballen auf und ab wippte. "Es scheint dir besser zu gehen."

Sein Gefährte drehte mürrisch den Kopf und funkelte Legolas mit widerspenstiger Unrast an. In diesem Moment erkannte der Prinz, daß es bald unmöglich werden würde, den zappeligen Jungen weiter zu zähmen. Außerdem widerspräche eine solche Handlung dem natürlichen Heilungsprozess, und würde Inuel obendrein mehr Anstrengungen kosten, als das Herumspringen am Flußufer. Und mich auch, setzte Legolas still hinzu.

"Möchtest du ein wenig spazieren gehen? Es scheint jetzt …"

Ungeduldig schwang sich der Junge über die Holzkante und verschwand am Stamm abwärts, ehe der Prinz den Satz beendet hatte. Ärgerlich schaute Legolas ihm hinterher und erwog einen Moment lang, einfach sitzen zu bleiben. Doch da Inuel anscheinend über so gut wie keinen Orientierungssinn verfügte (sonst wäre er nicht in dieser Ecke des Waldes gelandet, sondern längst sicher daheim angekommen), entschied der ältere Elb, lieber auf ihn aufzupassen. Etwas gemächlicher folgte er dem Jungen nach unten.

Zu seiner Befriedigung stellte er fest, daß die Hitze in Bodennähe nicht so extrem drückte wie in den oberen Baumschichten. Gemütlich schlenderte Legolas in Richtung Fluß, während Inuel seiner Energie freien Lauf ließ und ihn wie ein Aasvogel rennend umkreiste. Solange er in Sichtweite blieb, ließ der Prinz ihn frei gewähren. Er selbst näherte sich dem rasch fließenden, kühlen Wasser, erfrischte sein Gesicht und füllte die Wasserflasche nach. Dann setzte er sich ins hohe Gras, welches ihn effektiv versteckte, schloß seine Augen und richtete sein Gehör auf die problemlos festzustellende Position Inuels.

Eine Weile änderte sich nichts an den Geräuschen ausgelassenen Herumtollens, doch als die stete Regelmäßigkeit Legolas schon fast in einen leichten Dämmerzustand gelullt hatte, stoppten sie unvermutet und grundlos. Der Prinz konzentrierte sich stärker, vernahm aber nichts als Inuels hechelnden Atem über die leichte Brise und gelegentlich ein leises, wimmerndes Geräusch.

Neugierig streckte sich der Elb und spähte über die Grasspitzen. Keine zwanzig Meter entfernt stand der Junge wie angewurzelt auf seinem Fleck, drehte mit hastigen Bewegungen den Kopf in alle Richtungen und wirkte ein wenig verängstigt. Erst jetzt erkannte Legolas, daß auch das Wimmern von Inuel kam. Was hat er denn nur?

Der Prinz stand in einer schnellen Bewegung auf. "Inuel?" rief er.

Sofort wirbelte der Junge herum. Sein trauriger, verlassener Eindruck wurde fast ohne Übergang durch schiere Erleichterung und Freude ersetzt, und er lief ohne Nachzudenken auf seinen Aufpasser zu. Legolas, der eine weitere stürmische Umarmung befürchtete und mit ziemlicher Sicherheit kommen sah, wich im letzten Moment zur Seite aus, so daß der Junge ungebremst an ihm vorbei stürmte und den steilen Uferhang hinab ins Wasser stolperte.

Legolas lachte.

Vielleicht hätte es besser gewirkt, hätte der Junge es mitgekriegt, doch er befand sich noch unter Wasser. Selbst, als Legolas seinen Lachanfall überwunden hatte, war Inuel noch nicht wieder aufgetaucht. Der Prinz runzelte die Stirn. Inuel war nicht weggespült worden: Das Wasser war hier so klar, daß Legolas noch bei einem Meter deutlich den Grund erkennen konnte. Er sah auch Inuel in etwa sechzig Zentimeter Tiefe nah beim Ufer rücklings in dem Flußbett liegen, die Augen weit geöffnet und bewegungslos.

Gereizt stapfte Legolas ins Wasser und packte den Jungen am Kragen. "Was spielt du nun wieder?" schimpfte er noch während er ihn ruckartig nach oben zog.

Inuel starrte ihn blicklos an. Gestützt von der Hand des Prinzen hielt er sich mehr oder weniger automatisch auf den Füßen, doch er zeigte Anzeichen eines leichten Schocks, und er hielt noch immer die Luft an. Auch auf Legolas' Rütteln reagierte er nicht. Schließlich holte der Prinz mit der linken Hand aus und versetzte dem Jungen eine leichte Ohrfeige.

"Atme!"

Überrascht sog Inuel Luft in seine Lungen, wandte sich aber sofort zur Seite und hustete das eingeatmete Wasser aus seiner Brust. Verblüfft hielt Legolas seinen Ellbogen, als ihm klar wurde, was hier gerade passiert war. Er half dem Jungen zum Ufer und wartete, bis Inuel sich halbwegs beruhigt hatte.

"Sag, Inuel", begann er zögernd. Fragen nach Unfähigkeit waren eigentlich verpönt, aber … Wenn der Junge ihn tatsächlich begleiten wollte …

"Ich kann nicht schwimmen", gab Inuel freimütig zu. "Eigentlich mag ich Wasser gar nicht. Mir wird schon komisch, wenn ich Flüsse nur von Weitem sehe. Aber wenn mir Wasser über den Kopf steigt … dann kann ich mich gar nicht mehr bewegen. Tut mir leid."

Verständnislos sah Legolas ihn an. "Wie meinst du das, du kannst dich nicht bewegen?"

Inuel zuckte die Schulter. "Genau so. Ich weiß zwar, was los ist, aber ansonsten kann ich nicht mal denken. Mir fällt dann nichts ein, was ich tun könnte. Und selbst wenn ich was wüßte: Ich kann gar nichts fühlen und mich auch kein Stück bewegen. Aber das ist mir erst ein paar …" Seine Stimme verlor sich, und er senkte den Blick.

Eine Weile schwieg Legolas, dann seufzte er: "Sieht so aus, als hätten wir beide ein paar Dämonen, mit denen wir uns rumschlagen müssen, hm?"

Zuerst antwortete der Junge nicht, doch schließlich wandte er sich dem Prinzen lächelnd zu: "Ist ganz schön, nicht mehr alleine zu kämpfen."

"Ja", grinste Legolas und wuschelte Inuel durch die nassen Haare.

Zumindest versuchte er es, verfing sich aber statt dessen in einer filzigen, verklebten und teilweise völlig versteiften Masse.

"Autsch!" rief Inuel empört, als der Prinz seine Finger zu befreien versuchte. "Aua! Was soll … hey … au!"

"Inuel, findest du nicht, du solltest dir mal die Haare waschen?"

Legolas' Stimme klang völlig nüchtern, und dennoch gewann Inuel den Eindruck, er würde sich über den Zustand seiner Haare amüsieren.

"Waschen?" rief er entsetzt. Unwillkürlich gleitete sein Blick zum Fluß. "Du meinst …"

Legolas stieß ihn sanft in Richtung Wasser. "Keine Sorge, ich paß schon auf."

Sichtlich vergnügt gab er Inuel eine Lektion, wie man sich des Flußwassers auch bedienen konnte, ohne den Kopf unterzutauchen, steckte dem Jungen ein Stück Seife zu und beobachtete dessen ernsthafte Bemühungen. Es kam ihm so vor, als hätte sich Inuel noch niemals tatsächlich die Haare gewaschen, höchstens mal dann und wann vom heftigen Regen Ungeziefer ausspülen lassen. Anfangs schienen die Bewegungen des Jungen zögernd und unkontrolliert, doch nach und nach verlor er sich völlig in der Aufgabe und schrubbte und rubbelte, in voller Kleidung auf dem Flußboden sitzend, bis das letzte bißchen Schaum aufgebraucht war.

Beim Ausspülen half ihm der Prinz vorsichtshalber, damit Inuel nicht unter Wasser geriet, dann studierte er am trockenen Ufer aufmerksam das Endresultat. "Nichts zu machen", stellte er fest und zog seinen Dolch aus der Scheide.

Inuel riß besorgt die Augen auf. "Was hast du denn vor?!"

Abwesend fuchtelte Legolas mit der Stichwaffe vor Inuels Gesicht herum. "Deine Haare sind immer noch total verfilzt", erklärte er ruhig. "Die neueren ganz oben nicht so sehr, das war wohl nur vom Kokon. Aber alles andere … Das hat sich seit Jahrhunderten verknotet, fürchte ich. Egal was du tust, sie werden dich behindern. Also schneiden wir sie ab."

"Ab?!" sprang Inuel auf. "Spinnst du! Kein Elb hat kurze Haare!"

"Was ist denn das für ein Argument?" fragte Legolas ehrlich verwirrt. "Du könntest so nicht mal durch den Wald gehen, ohne an Ästen hängen zu bleiben. Du kannst nicht feststellen, wie stark der Wind bläst, und wenn es regnet, bist du mit unnötig viel zusätzlichem Gewicht belastet, weil die Feuchtigkeit sich darin verfängt. Ganz zu schweigen davon." Legolas deutete leicht zum Fluß. "Sie ziehen dich nach unten. Deine Haare sind ein einziges Hindernis. Das sich beseitigen läßt."

Jetzt erhob sich auch Legolas und ging langsam auf den jüngeren zu. Schritt um Schritt wich Inuel zurück, wurde aber von dem steilen Hang an einer erfolgreichen Flucht gehindert. Er wich zur Seite aus und die beiden umkreisten einander in einem schon fast lächerlichen Spiel.

"Bleib mir bloß vom Leib", warnte Inuel.

Gelegentlich warf er einen Blick über seine Schulter, um abzuschätzen, wie nahe er dem Wasser kam. In einem solchen Moment befand sich Legolas plötzlich an seiner Seite, ergriff blitzschnell Inuels Filzpelz und zertrennte es mit nur einem ratschenden Zug der Klinge. Plötzlich befreit von einem Gewicht, das er nicht länger zu tragen hatte, verlor Inuel das Gleichgewicht und landete auf dem Hosenboden. Legolas ließ das filzige Geflecht direkt zwischen Inuels Füße fallen.

"Na, fühlt sich das nicht besser an?" fragte er ernst.

"Du … du hast …" stotterte Inuel. Entgeistert betrachtete er den abgetrennten Haarhaufen und stocherte ungläubig darin herum. "Also … das glaub ich ja nicht … du hast echt …" Schließlich traf sein zorniger Blick Legolas mit ganzer Härte: "Wie konntest du nur?! Ich hasse dich!"

Damit sprang er auf, kletterte den Hang hoch und lief schluchzend davon. Legolas eilte ihm verwirrt nach.

"Hey!" rief er. "Inuel! Warte doch!" Der Junge hatte bereits die Baumgrenze erreicht und kletterte den Stamm zum Fleet hinauf. "Verlauf dich nicht", fügte der Prinz unnötigerweise hinzu, ehe er zurück ging und den filzigen Haufen betrachtete, der mal Inuels Kopf verunstaltet hatte.

Warum reagierte der Junge so sauer? Haare wachsen schließlich nach, sagte sich Legolas. Vielleicht nicht dieses Jahr, oder die nächsten zwei oder drei Dekaden, aber … Dann fiel ihm ein, wie die anderen Elben den Jungen während dieser Zeit ablehnen würden, und leichte Gewissensbisse regten sich in ihm. War er zu voreilig gewesen? Hatte er zu schnell gehandelt, ohne daß Inuel sich mit dem Gedanken anfreunden konnte? Aber ich hab's ihm doch erklärt, verteidigte er sich vor sich selbst. Er war überzeugt, daß er richtig gehandelt hatte, und doch … Ob er mich jetzt wirklich haßt?

*******

Stunden später hockte Inuel auf dem Fleet und starrte unsicher zum Fluß. Legolas war ihm nicht nachgekommen, und da er selbst zu dem Spaziergang seine ganze Ausrüstung mitgeschleppt hatte, hätte er inzwischen gut auf und davon sein können. In einer Mischung aus Ärger, Sorge und Reue strich sich Inuel durch die jetzt nur noch handlangen Haare und war relativ erstaunt, daß seine Finger am anderen Ende wieder auftauchten. Für gewöhnlich blieb er darin hängen.

Früher zumindest. Inuel seufzte. Eigentlich fühlte es sich gar nicht so schlecht an. Wenn er jetzt den Kopf drehte, hatte er freie Sicht in alle Richtungen, ohne daß seine Haare, wie früher oft, als Scheuklappen fungierten. Er setzte sich auch nicht mehr ständig auf das untere Ende, wenn er sich aus der Hocke zurückfallen ließ, und er schwitzte nicht so stark im Genick. Überhaupt fühlte er sich um einiges leichter. Vielleicht sollte er sich beim Prinzen bedanken …

Wo Legolas nur bleibt?

Konnte er ihn wirklich allein gelassen haben? Irgendwie traute Inuel das seinem Retter nicht zu. Aber andererseits … Ich habe gesagt, ich hasse ihn. Ist er deshalb fortgegangen?

Kurz nach Sonnenuntergang vernahm er endlich das Geräusch, auf das er so lange gewartet hatte: Jemand kletterte den Stamm hinauf, und so leise, wie das vor sich ging, konnte es eigentlich nur Legolas sein. Der blonde Kopf reichte kaum über die Kante, als beide gleichzeitig zu sprechen anfingen.

"Tut mir leid, ich wollte nicht …"

Überrascht hielten sie inne, dann begannen sie erneut.

"Ich hab nicht so gemeint, was ich …" meinte Inuel.

"Vielleicht hätte ich dir mehr Zeit …" gab Legolas zu.

Abwartend stoppten beide und eine gehaltvolle Stille senkte sich über sie, bis Inuel plötzlich zu kichern begann. Legolas kletterte endlich auf das Fleet und schaute Inuel kurz zu, ehe er in das Lachen einstimmte.

"Entschuldige", erklärte Inuel. "Sowas ist mir noch nie passiert."

"Nein? Als Kinder haben mein …" Zögernd hielt er inne, ehe er in nostalgischer Erinnerung fortfuhr: "Freund und ich das geübt." Dann wurde er sich Inuels Schweigens bewußt. "Oh, entschuldige. Du … hattest nicht so viele Freunde, oder?"

"Freunde?" wiederholte Inuel. In seiner Stimme schwang eine gewisse Unsicherheit, als könne er den Begriff nicht genau verstehen.

"Naja, so … wie mich, zum Beispiel?"

"Wie dich?" Inuel grinste ihn schelmisch an. "Also, nein – dann hatte ich garantiert nie einen Freund."

Legolas grinste zurück. "Na dann, sei froh: Weil du nämlich jetzt einen hast. Hier."

Unwillkürlich fing Inuel den leichten Gegenstand auf, welchen der Prinz ihm zuwarf. "Was ist das?"

"Wiedergutmachung." Legolas beobachtete den Jungen aus den Augenwinkeln. "Ich wollte nicht so grob zu dir sein, ehrlich."

"Das ist eine Kette", stellte Inuel erstaunt fest. "Wo hast du die her?" Da der Prinz schwieg, riet er: "Selbst gemacht?" Kleine, perlenartig versteinerte Fruchthüllen, wie sie im Wald in der Nähe von einigen Tierbauten zu finden waren, aufgefädelt auf ein dünnes, geflochtenes, pechschwarzes Band, und in der Mitte baumelte ein kleines geschnitztes Medaillon mit einem winzigen Verschluß.

Legolas nickte. "Aus deinen Haaren. Das kannst du aufmachen."

"Oh! Super! Hast du das etwa alles heute nachmittag gemacht?" Jetzt schämte sich Inuel für die Idee, der Prinz hätte ihn im Stich gelassen. "Was soll ich da rein tun?"

"Das ist egal", erklärte Legolas, ohne auf die erste Frage einzugehen. "Irgendein Glücksbringer oder etwas, das dir viel bedeutet. Was immer hinein paßt. Ist ja nicht allzu groß …"

"Es ist perfekt", widersprach Inuel hitzig. "Ich glaube, ich habe schon was, das ich nehmen kann."

"Ah ja?" Legolas' Neugier erwachte. "Was denn?"

Der Junge zwinkerte ihn verschmitzt an. "Sag ich nicht. Das ist … ein Geheimnis."

"Ach so, verstehe." Ein freundschaftliches Schweigen senkte sich über die beiden Elben.

"Erzählst du es mir irgendwann?" fragte Legolas schließlich.

"Irgendwann? Ja – irgendwann, vielleicht."

*******

"Kommst du, Inuel?"

Am Fußende des hohen Stammes wartete Legolas auf seinen Weggefährten. Seine Frage hatte er nicht geschrien, da er wußte, daß auch ein geflüstertes Wort von Elbenohren dort oben deutlich vernommen wurde.

"Schon unterwegs", erreichte ihn die etwas lautere Antwort.

Unwillkürlich zuckte der Prinz zusammen und sah sich im vordämmrigen, düsteren Gehölz um. Nichts reagierte auf den Ruf. Die Nachtjäger begaben sich jetzt zur Ruhe, und die tagaktiven Lebewesen waren noch nicht erwacht. In der Nacht hatte sich die Feuchtigkeit in Schauern aus der Luft gewaschen und die Temperatur war spürbar gefallen. Doch der sternklare Himmel und die stehende Brise sagten Legolas, daß bald nach Sonnenaufgang die Schwüle des Vortages wiederkehren würde.

Endlich sah er Inuel den Baum herabklettern. Obwohl er eigentlich mehr baumelte und klammerte, da er in der linken Hand einen Knüppel hielt und sich einarmig nur mühsam sichern konnte. Helfe ich ihm? überlegte der ältere Elb. Fasziniert folgte er mit den Augen den unkoordinierten, wedelnden Bewegungen des Jungen, der wieder einmal den Halt verloren hatte und sich nur noch mit seinen Beinen am Stamm hielt. Wenn er so hängen bleibt, wird er abstürzen, analysierte Legolas und schritt langsam zum Stammende. Dort hielt er inne und schaute nach oben. Das wird sicher lustig.

Aber Inuel stürzte nicht ab. Im Gegenteil, er grinste den weit unter ihm wartenden Prinzen fröhlich an. Dann klemmte er den dicken Stock zwischen Kinn und Brust und hielt ihn dort mit angewinkeltem Kopf, während er beide Arme nach unten um den Stamm schlang und seinen Beingriff lockerte. Sofort krümmte sich sein Oberkörper und vollführte eine senkrechte Rückwärtsrolle am Stamm, ehe Inuels Arme fest zupackten und er etwa eine Körperlänge tiefer wieder sicher an der Rinde klebte.

Legolas' Augenbraue sprang so schnell aufwärts wie Inuel abwärts rollte. Er empfand ein drückendes Gefühl der Enttäuschung, wie er es zuvor nur in Träumen gespürt hatte. In seinem Leben waren nur selten sichere Erwartungen nicht eingetroffen, und dies waren meistens schlechte. Doch jetzt fühlte er sich in etwa wie letzte Nacht, als hätte er ein versprochenes Stück Freude aufgeben müssen. Dabei konnte er sich nicht mal genau an den Inhalt des Traumes erinnern …

Und Inuel bestand darauf, Legolas weiter zu enttäuschen: Anstatt von nun an weiter zu klettern, wiederholte er die artistische Übung und befand sich nach vier weiteren Rollen mit dem Prinzen auf gleicher Augenhöhe, von wo aus er sich unzeremoniell auf den Boden plumpsen ließ.

"Warum müssen wir denn unbedingt noch vor Morgengrauen losmarschieren?" wollte er wissen.

"Weil's sicherer ist", antwortete Legolas schroff. "Und was willst du damit?"

"Was, der Knüppel? Na, das ist meine Waffe!"

Beinahe – beinahe – hätte Legolas gelacht. Dann fiel ihm etwas ein: "Wäre dir denn ein Bogen nicht lieber?"

Inuel schaute ihn unsicher an. "Klar mag ich Bögen lieber als Knüppel. Aber … du hast ja nur einen."

"Hmmm … Nicht mehr lange", entschied der Prinz und drückte dem Jungen einen faustdicken, seltsam gekrümmten Ast in die Hand, welcher Inuel fast bis zum Kinn reichte. "Nimm."

Gehorsam nahm der kleinere Elb den neuen Stock in die andere Hand und schaute von einem Holz zum nächsten. "Ja, gut. Und, äh – was soll ich damit?"

"Du trägst ihn natürlich. Ich brauche alle Hände frei, und du mußt ab jetzt lernen, dich nützlich zu machen. Kannst ihn ja gern als Wanderstab benutzen, aber wenn du ihn zerbrichst, zerbreche ich dich." Drohend hob Legolas beide Hände und krümmte die Finger vor Inuels Gesicht auf und zu.

Die Augen des Jungen weiteten sich fast bis Braue und Nasenspitze, und er nickte ernst. "Verstanden. Ich mach ihn nicht kaputt, ehrlich."

Eilig drehte der Prinz Inuel den Rücken zu, damit der Jüngere sein Grinsen und seine sicherlich böse funkelnden Augen nicht bemerkte. Absichtlich senkte er seine Stimme und befahl scharf: "Sehr gut. Dann gehen wir los."

Es kann immer noch lustig werden, dachte er erheitert.

*******

Inuel stolperte müde über einen Stein, hielt aber seine Zunge im Zaum und folgte stur dem weit voranschreitenden Prinzen. Anscheinend hatte Legolas keine Probleme mit dem langen, beschwerlichen Weg und der feuchten, flimmernden Hitze hier in der Nähe des Flusses. Inuel dagegen fiel es schwer, tief einzuatmen, und alle Anweisungen des Prinzen konnten ihm nicht helfen, seine Atmung umzustellen. Ich würde zu gerne um eine Pause bitten, aber … Inuel seufzte.

Die Sonne hatte noch nicht lange am Himmel gestanden, doch Inuel war der Marsch bereits wie eine Ewigkeit vorgekommen. Zum dritten Mal bat er um eine Rast, die ihm vom Prinzen widerwillig gewährt wurde. Deutlich spürte er den Ärger und die Unrast des älteren Elben und sah die zurückhaltende Anspannung in seinen Schultern. Er machte irgendeinen Scherz über die Eile, ohne über die Worte nachzudenken.

Legolas verlor die Geduld und wandte sich barsch zu ihm um: "Bei deinem Tempo hängen wir noch in zwei Wochen hier rum!"

Da er Gefühlsausbrüche des eher verschlossenen Prinzen niemals erwartete, kamen die scharfen Worte überraschend und verletzend. Immerhin hatte ihm der Prinz noch immer nichts über das Reiseziel erzählt, und Inuel war nun einmal nicht so durchtrainiert wie manch anderer. Der Junge machte sich nicht die Mühe, seine eigenen Gefühle im Zaum zu halten.

"Na und? Dann kommen wir eben etwas später zu deinen Freunden oder wo immer du hinwillst! Wozu der Aufstand?"

Abrupt sprang Legolas auf: "Du hast ja wirklich keine Ahnung! Wir befinden uns hier mitten in offenem Gelände, in unbewachtem und wahrscheinlich feindlichem Gebiet, ohne irgendwelche Deckungsmöglichkeiten! Und du willst hier, was – dich ansiedeln?"

Inuel erhob sich ebenfalls und beugte sich in instinktiver Abwehrhaltung leicht vor. "Nein, ich will auch gerne heim, aber was bringt das ganze Gerenne in die falsche Richtung?"

"Dieses – Gerenne – bringt uns vielleicht schnell da rüber in die Hügel." Legolas deutete mit einem Finger über den Fluß, wo durch die flimmernde Luft in weiter Ferne ein paar wellige Erhebungen sichtbar waren. "Wo wir Schutz und Freunde finden. Die können dich auch heim begleiten", fügte Legolas hinzu. Dann dreht er sich weg und murmelte: "Ich hab echt keine Lust, noch mehr Zeit mit dir zu verschwenden."

Aber Inuel hatte es gehört, dieses Murmeln. Er hatte es deutlich gehört und gut verstanden und Wort für Wort in sein Herz gebrannt, und dann hatte er sich geschworen, nie wieder um irgend etwas zu bitten.

Jetzt bekämpfte er seine Erschöpfung mit der Kraft dieses Schwurs, verlängerte seine Schritte und holte einen halben Kilometer auf, ehe er wieder langsamer wurde, um nicht neben dem Prinzen zu gehen.

Legolas hörte die eiligen und dann nachlassenden Schritte hinter seinem Rücken und senkte leicht den Kopf.

Als Inuel die erste Mal so aufholte, hatte er für einen kurzen Moment einen Angriff befürchtet, doch der Junge war entweder angeberisch an ihm vorbei gerauscht, um einen Vorsprung zu gewinnen – worüber Legolas nur lachen konnte, denn ein so unregelmäßiger Gang mußte ihn unweigerlich schnell seiner Kräfte berauben – oder neben ihm hergegangen, um eine unwichtige Geschichte zu erzählen oder belanglose Fragen zu stellen.

Als geübter Krieger hatte Legolas nur genickt oder spärliche Antworten gegeben, und ohne daß es ihm richtig auffiel, wurden auch die Fragen spärlicher. Nach der letzten Rast schließlich hatte Inuel, zu Legolas' Zufriedenheit, alle derartigen Versuche endgültig aufgegeben. Diese Rast war sieben Stunden her.

Während der letzten paar Kilometer hatte der Prinz immer öfter angestrengt lauschen müssen, um weit entfernt die schlurfenden Geräusche seines Begleiters auszumachen. Gelegentlich hatte Inuel mit langen Schritten aufgeholt, aber nie bis zu ihm, und die Zwischenräume dehnten sich aus. Legolas begann, seine Worte zu bereuen. Er hatte gehofft, Inuel hätte den Gedanken nicht gehört, welcher seinen Lippen versehentlich entwischt war, doch anscheinend hatte er den Jungen damit stärker verletzt, als er zugeben mochte.

Aber er konnte sich nicht zu einer Entschuldigung durchringen, eben so wenig wie er aus purer Sturheit auf eine Pause verzichtete, obwohl er selbst und daher der Jüngere unzweifelhaft erst recht eine nötig hätte. In den letzten Stunden hatte er trotzig sein Tempo stetig erhöht und den schwächeren Elben so gezwungen, eine Energie aufzubringen, für welche er eigentlich gar keine Ressourcen hatte. Daß Inuel sich nicht beschwert hatte, hatte ihn lediglich noch weiter aufgebracht.

Abrupt hielt Legolas inne und prüfte diesen Gedanken noch einmal. Schließlich gestand er sich ein, daß es die Wahrheit war, und er stieß ein langes, resigniertes Seufzen aus. Warum bringt mich dieser Junge so in Rage? Ich verliere doch sonst nicht die Kontrolle über meine Gefühle, geschweige denn lasse ich sie sichtbar werden! Was für eine Schande.

Sein Vater, König Thranduil, hatte ihm seit frühester Jugend erklärt, wie man mit Untergebenen umgeht. Unzählige Sitzungen über das richtige Verhalten, die angebrachten Worte, und Nachsicht. Nachsicht vor allem anderen, denn der Großteil der Bevölkerung kannte weder die höfischen Sitten noch die unzähligen Kodizes elbischen Verhaltens aus alter Zeit. Sie waren, in einem Wort, ungebildet.

Ungebildet. Ungebildet, Legolas. Gib es zu, du hast nie ganz verstanden, was dieses Wort bedeutet. Nun, schau dir den Jungen an – ungebildet, in jeder Hinsicht. Also wo bleibt deine Nachsicht? Verstohlen suchte er aus den Augenwinkeln nach Inuel. Ach, hier kommt er schon. Sicher kommt jetzt wieder eine dumme Bemerkung, also reiß dich zusammen und übe Nachsicht.

Der Junge schlurfte zögernd auf ihn zu, und da Legolas sich nicht vom Fleck bewegte, war Inuel bald an seiner Seite. Er hielt seinen Oberkörper nach vorn gebeugt, um Kraft zu sparen, Schultern und Kopf gesenkt, und seine Augen waren halb geschlossen. Seine Haut war dreckverschmiert, doch zum Schwitzen hatte er nicht mehr genügend Flüssigkeit, und auch seine Lippen bebten trocken und aufgesprungen.

Erst jetzt erinnerte sich Legolas, daß sie nur eine Wasserflasche besaßen, und da Inuel immer Abstand gehalten hatte, hatte der Prinz völlig vergessen, ihm etwas zu trinken zu geben. Außerdem, obwohl sie am Fluß entlang gingen, gab es nur an wenigen Stellen Zugang zum Wasser, und die würde der Junge nicht genutzt haben – seit dem Unfall am Vortag schien seine Furcht sich verschlimmert zu haben, und durch Trinkpausen hätte er sicher den Anschluß völlig verloren. Legolas wollte den Jüngeren für dessen Trotz tadeln, doch Inuel, der sich träge umschaute, kam ihm zuvor.

"Müssen wir hier rüber?" flüsterte er heiser.

"Wie?" fragte Legolas verwirrt, von seinen Gedanken völlig abgebracht.

Inuel streckte einen Arm aus. "Über den Fluß? Zu den Hügeln?"

"Oh." Abschätzend folgte der Prinz der deutenden Hand. Am anderen Ufer, jetzt nicht mehr zu weit entfernt, erhoben sich die Hügel, welche er dem Jungen als Zielort genannt hatte. Wie kommen wir rüber? Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Allerdings stimmte das so nicht; Legolas war einfach davon ausgegangen, daß sie das Wasser mit Floßen überqueren würden, wie bei seinem letzten Besuch. Doch alle Floßstellen schienen verschwunden zu sein, denn inzwischen war er viel weiter flußaufwärts gewandert als je zuvor und hatte noch keine aufgespürt. Sein Blick fiel auf das Flußbett und er entdeckte, daß er direkt an einer flachen Furt gehalten hatte. "Ja, genau", antwortete er eilig. Wie praktisch. Ist mir gar nicht aufgefallen. "Hier müssen wir rüber. Deshalb bin ich stehen geblieben. Ich dachte, ich warte lieber auf dich. Nur für den Fall …"

"Gut", unterbrach ihn Inuel, der nicht mehr als ja mitgekriegt hatte. Je eher sie in den Hügeln waren, um so eher konnte er sich ausruhen. Das war alles, woran er noch denken konnte. Ohne weitere Aufforderung setzte er sich in Bewegung. Oder, besser gesagt, er bewegte die Beine. Daß er nicht vorwärtskam, fiel ihm erst später auf.

Legolas hielt mit der linken Hand Inuels Kragen fest und wartete geduldig, bis der Junge auf den Griff reagierte und sich verdutzt umschaute. Dann streckte er ihm mit der freien Hand die beinahe leere Wasserflasche entgegen. "Trink."

"Hab keinen Durst", widersprach Inuel müde.

Ungläubig schossen Legolas' Augenbrauen bis an den Haaransatz. "Trink", knurrte er drohend.

Der Junge nahm artig die Flasche und trank ein paar Schluck ohne viel Begeisterung, ehe er sie zurückgab und sich wieder zum Fluß drehte. Besorgt prüfte Legolas den – immer noch vorhandenen – Inhalt der Flasche und stellte fest, daß Inuel anscheinend tatsächlich keinen Durst hatte. Ein schlechtes Zeichen, erkannte er. Der junge Elb war zu müde, um irgend etwas zu empfinden; selbst die Angst vor dem Wasser schien nicht mehr zu ihm durchdringen zu können.

Behutsam drückte er Inuel in Richtung Furt, behielt aber seine Hand am Kragen des Jungen, falls durch das Wasser die Panik zurückkehren würde. Nichts dergleichen passierte, als ihre hohen Stiefel in den Fluß traten. Inuel stapfte wie betäubt durch den sandigen, steinübersäten Grund, während Legolas für beide die Augen offen hielt und den Jüngeren sachte um die tieferen Stellen herum manövrierte. Daß dieser sich so willig lenken ließ, beunruhigte ihn zwar, doch er schwieg und hoffte lediglich auf eine baldige Ankunft.

Am anderen Ufer angekommen, ließ er Inuel mit der Anweisung "Warte hier." stehen und suchte flußaufwärts nach einer tieferen Stelle, wo das Wasser sauber floß, ohne den Sand des Bodens aufzuwirbeln. Bald entdeckte er eine stille Bucht, kniete sich ans Ufer und beugte sich weit über den Rand, um mit möglichst klarem Wasser die Flasche aufzufüllen. Da sie den Fluß nun verließen, war er sich nicht sicher, wann sie erneut auf Trinkwasser stoßen würden, ehe sie die Elbensiedlung erreichten.

Während er abwesend der glucksenden Flasche lauschte, fiel Legolas auf, daß die Wasseroberfläche nicht sein Spiegelbild zeigte. Statt dessen erblickte er rote Haare und ließ vor Schreck die Flasche los. Blitzartig griff er nach dem nassen Leder und wandte sich dann wieder der Erscheinung zu in der sicheren Erwartung, daß sie verschwunden wäre.

Sie war noch da.

Legolas hatte schon von Flußfeen und Nixen gehört, aber er hielt sie für lange ausgestorben und hatte sich nie vorgestellt, daß sie so … elbisch aussehen würden. Obwohl, so richtig elbisch wirkte diese Gestalt eigentlich auch nicht mit den viel länger aufwärts gebogenen Ohrspitzen, welche dicht am Kopf lagen, den merkwürdigen, karmesinroten Haaren, die wie Flammen im Wasser züngelten, und dem breiten, offenen, verführerischen Grinsen, welches von den leichten Wellen der Oberfläche noch weiter verzerrt wurde.

Der Elbenprinz lächelte unwillkürlich zurück, zog die nun stille Flasche nach oben und wunderte sich nicht sonderlich, daß nach der Beruhigung der Oberfläche die Person darunter verschwunden war. Schließlich hätte er nie erwartet, überhaupt je ein Wesen ihrer Art zu treffen.

Eilig rannte er zurück zur Furt und blieb ärgerlich stehen, als er den leeren Fleck sah. Es kam zwar nicht ganz unerwartet, aber er hätte nicht gedacht, daß der Junge wirklich so blöd war: Inuel war allein losgegangen.

*******

"Warte hier", hatte Legolas gesagt und war verschwunden, ehe Inuel auch nur Zeit zum Nicken hatte.

Der Befehl gefiel ihm, also verharrte der Junge starr auf der Stelle und schwebte bald darauf dicht an der Grenze zwischen Wachen und Schlaf. Ein dichter Vorhang der Unwirklichkeit umgab bereits seine Sinne, als er das kaum hörbare und stetig leiser werdende Wispern vernahm, welches durch die gleitende Bewegung würdevoller Elben verursacht wurde. Elben wie Legolas.

Müde hob er den Blick und entdeckte weit voraus, wo der aufwärts führende Weg eine Kurve machte, die hohe Gestalt des Elben und beeilte sich, hinterher zu gehen. Er wunderte sich nicht darüber, daß Legolas ihn nicht angesprochen hatte, ärgerte sich aber ein wenig über seine eigene Erschöpfung. Wahrscheinlich habe ich schon geschlafen, als er an mir vorbeiging! Inuel schlief oft ihm Stehen ein und hätte so auch die ganze Nacht verbracht, hätte das Geräusch ihn nicht aufgeweckt.

Eine Weile verlor er den Prinzen aus dem Blick, als dieser um die Kurve bog, holte aber schnell auf, folgte der Biegung und machte wiederum weit entfernt die von der sinkenden Sonne angestrahlte Silhouette aus, deren glitzernder Umhang sanft in der Abendbrise wehte. Einen Moment schien der Prinz inne zu halten, sich umzudrehen und ihm zuzuwinken, doch darüber war sich Inuel nicht sicher, da die Gestalt vor seinen schmerzenden Augen verschwamm.

Keuchend rannte Inuel auf den Prinzen zu, mit langen, sprunghaften Schritten, um den Abstand zu verringern. Dennoch schien er kaum näher zu kommen, und nachdem er dem schmaler werdenden, ausgetretenen Pfad eine langgezogene, grasige Anhöhe hinauf gefolgt war, erblickte er vom Gipfel aus ein weites, wild bewaldetes Tal. Zu seiner Rechten ging der Hügel nach einer Kuhle in den offenbar höchsten Berg der Gegend über. Von dort aus zog sich ein niedrigerer Gipfelring um das fruchtbare Tal, in dessen dichter Vegetation irgendwo Legolas untergetaucht sein mußte, denn der Junge konnte dessen hochgewachsene Gestalt auf der Wiesenfläche davor nirgends entdecken.

Atemlos preschte Inuel quer durch die Kuhle den Hang hinab und beim ersten sichtbaren Durchgang in den schattigen Wald. Hier gab es keine Wege mehr, aber sein Instinkt trieb ihn achtlos durch das Unterholz, immer eine bestimmte Richtung entlang, als zöge jemand an einem Band, welches direkt an Inuels Herz hing. Und die Kraft dahinter nahm mit jedem Schritt zu.

Zwischen den langen Schattenwegen und dem kurzen, goldenen Leuchten auf Lichtungen verlor Inuel bald jedes Zeitgefühl und stolperte wie im Halbschlaf voran. Er ließ sich von der elbischen Kraft einfach leiten. Unterwegs erinnerte er sich bruchstückhaft an ein ähnliches Erlebnis, als ihn Prinz Legolas vom Fluß zum Fleet geführt hatte. Doch diese Gedanken verblaßten angesichts der Kraft, die hier wirkte.

Und plötzlich riß sie ab.

Erschöpft fiel Inuel auf seine Knie und versuchte lange, tief Luft zu holen. Erst als er wieder mit geschlossenem Mund atmen konnte, hob er den Blick. Sein Kiefer klappte sofort wieder nach unten.

Er befand sich inmitten einer Siedlung. Es mußte die Elbensiedlung sein, zu der Legolas die ganze Zeit gewollt hatte. Doch dieser Ort war völlig zerstört. Und der Prinz war nirgends in Sicht.

Einsam und müde rappelte sich Inuel auf und stolperte taumelnd in die Mitte des freien Platzes. Eine unbestimmte Depression erfaßte seine Gefühle, sein Blick verschwamm erneut unter den aufkommenden Tränen. Er blinzelte sie fort und merkte erst dann, daß er nicht allein war. Ja, Legolas war fortgegangen, aber andere Elben waren aufgetaucht.

Es waren viele, viel mehr als Inuel zählen konnte – also mehr als zehn auf jeden Fall. Sie alle standen würdevoll um ihn herum, mit wehenden Umhängen und traurigen Gesichtern. Aus irgend einem Grund lief ein kalter Schauer über Inuels Rücken, daher tat er vorsichtshalber einen Schritt zurück.

Bleib, hörte er sie sagen. Laufe bitte nicht weg.

Ein älteres Pärchen kam geräuschlos auf ihn zu.

Komm, lud ihn die Frau ein und ergriff sanft seine Hand, laß uns für dich sorgen. Du sollst dich ausruhen.

Komm, bat der Mann und berührte leicht Inuels Stirn, laß uns dich lehren. Du sollst die Wahrheit kennen.

*******

Wieso um alles in der Welt ist er ohne mich los? Fragte sich Legolas zum hundertsten Mal. Trotzkopf! Nichts als Ärger mit dem Kerl!

Er folgte Inuels – zum Glück deutlich erkennbaren – Spuren nun schon seit beinahe zwanzig Minuten. Auf dem Weg, wo er im trockenen Staub klare Abdrücke hinterlassen hatte, war es noch einfach gewesen. Doch auf dem Abhang mußte Legolas vorsichtig vorgehen, und Inuel war anscheinend mit Höchstgeschwindigkeit nach unten gerannt. Der Prinz hoffte, daß der Junge in den Wald gelaufen und bei den Elben gelandet war, aber bei Inuels mangelnder Orientierung konnte er es nicht riskieren, die Fährte zu verlassen.

Im hohen Gras und dem festen Boden waren die Abdrücke nun schwerer zu finden, und Legolas wurde immer unruhiger, je tiefer die Sonne sank. Es hielt ihn auf, er wußte es – aber im Wald käme er wieder schneller voran, wenn er den richtigen Punkt fand, an welchem Inuel hinein gegangen war.

Und jäh wurde die Fährtensuche unwichtig, als ein hoher, animalischer, wutentbrannter und schmerzverzerrter Schrei Legolas das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein solches Geräusch konnte doch kein Elb produzieren – oder? Doch der Krieger rannte schon, der von seinem Gehör exakt festgelegten Quelle zielgenau entgegen. Inuel, wußte er mit tödlicher Gewißheit. Das war Inuel.

Gerade fiel die rote Sonne hinter die westlichen Gipfel, als Legolas den Waldrand erreichte. Dort entdeckte er Inuels Fährte sofort: Zweige waren umgeknickt oder abgebrochen, tiefe Fußstapfen in die feuchtere Erde gedrückt und von Zeit zu Zeit entdeckte er auch Blutspuren am dornigen Untergestrüpp. Warum hatte es Inuel so eilig?

Doch er hielt sich jetzt nicht mehr mit Spurensuche auf. So gerade wie möglich lief er dem Ausgangspunkt des Schreis entgegen, welcher vermutlich, wie er bald feststellte, in der Nähe der Siedlung lag. Die Elbensiedlung! Was kann ihm bloß ausgerechnet dort zugestoßen sein?

Und dann hörte er das Wimmern. Es war leise, unterdrückt, doch er hatte von Inuel schon zuvor diesen verlorenen Ton gehört und wußte, daß es von ihm kam. Beinahe gleichzeitig fiel ihm auf, daß er außer diesem Wimmern und Schluchzen nichts vernahm, ja, daß der Wald überhaupt viel zu still war. Totenstill.

Endlich erreichte er den Rand der Siedlung und blieb wie angewurzelt stehen.

Der Ort war tot. Sowohl die Bodenwohnungen als auch die hohen Baumbehausungen waren bis auf die Stützbalken und -platten zerschlagen worden, an einigen Ästen und Planken wehten noch zerfetzte, modrige Stoffetzen im leichten Wind und hier und da lagen übrig gelassene persönliche Habseligkeiten verstreut. Von den kahlen Knochen, die unter den Trümmerhaufen hervorragten, wandte Legolas angewidert den Blick ab, ehe ein flüchtiger Eindruck seine Aufmerksamkeit erregte.

Kinder. Es waren Kinderknochen dabei – das hieß, die Siedlung wurde in Friedenszeiten angegriffen. Blitzartig, eiskalt und äußerst zielsicher waren die Eindringlinge vorgegangen, so daß der Elbenstamm nicht einmal Zeit hatte, die Häuser zu verlassen, geschweige denn den Ort zu evakuieren. Vermutlich kamen sie in der Nacht, schloß Legolas. Darauf folgte der nächste Gedanke: Es waren keine der gewöhnlichen Feinde. Sie haben effektiv Häuser und Bewohner vernichtet, aber dem Wald selbst nichts getan. Keine Orks, keine Trolle. Er sah sich die Trümmerenden an. Axtspuren? Vielleicht waren es Zwerge …

Plötzlich fiel sein Blick auf den freien Platz gleich hinter dem nächsten Trümmerhaufen. Dort lag, zusammengekrümmt und mit den Armen um dem Kopf, Inuel, dessen Wimmern Legolas wegen der schauerlichen Entdeckung für einen Moment ausgeblendet hatte. Jetzt lief er mit wenigen schnellen Schritten an die Seite des schluchzenden Jungen und kniete sich hin.

"Inuel", sprach er ihn mitfühlend an. Anscheinend hat ihn der Anblick hier völlig überwältigt. "Inuel, ich weiß, was hier geschehen ist, ist schrecklich. Aber durch dieses Verhalten kannst du nichts ändern."

Beruhigend legte er ihm eine Hand auf die Schulter und spürte unter seinen Fingern, wie der Junge geschockt den Atem anhielt, während ein starkes Beben durch seinen Körper lief. "Hör auf damit, Inuel! Laß dich nicht so gehen."

Laß dich nicht so gehen. Der Satz hallte in den Gedanken des Prinzen nach. Sei nachsichtig, laß dich nicht so gehen. Verdammt, wie schwer das ist … "Das ist eine Überreaktion, Inuel. Komm schon, reiß dich zusammen."

Behutsam ergriff er das Kinn des Jungen und hob seinen Kopf so, daß er ihn ansehen mußte, wenn er die Augen öffnete. Was Inuel schließlich auch tat, und eine Welle von Terror und Panik bestürmte Legolas mit diesem Blick. Außerdem sah er weit hinten in den verschleierten, grünen Augen eine stille Bitte, die sich suchend nach vorn kämpfte.

Hilf mir, bettelte Inuels schwer mitgenommene Seele. Geh nicht weg, hilf mir, flehte er den Prinzen schweigend an.

"Was …?" begann Legolas unsicher. Was ist passiert? Es muß mehr sein als bloß der Anblick hier. Aber er kann es mir nicht sagen … nicht jetzt. Ich muß Geduld haben. "Inuel …" Was soll ich jetzt machen?

Doch ihm antwortete nichts als immer dieselbe Bitte in dem verängstigten Blick. Schließlich, da er keine passenden Worte fand, setzte sich Prinz Legolas auf den staubigen Boden und zog seinen jungen Begleiter schweigend an sich. Er hielt ihn lange und wiegte ihn leicht hin und her, und Stunden nachdem Inuel sich entspannt hatte und in einen unruhigen Schlaf gefallen war, wachte der Prinz noch immer über ihn und versuchte sich vorzustellen, was seine lebensfrohe Seele derart erschüttert haben mochte.

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A/N: Diese Hügel gibt es tatsächlich auf einer Karte; wer mir nicht glaubt, dem kann ich sie gern mailen. ^^ Und nein, Inuels (offensichtliche) Angst ist nicht die, um welche es in der Story geht. Lange Haare sind übrigens ein Symbol für Elbenschaft; wer sie abschneidet, sagt sich von seinem Volk los und wird als Außenseiter betrachtet.

So, ich freue mich noch immer auf Fragen aller Art! *^.^*

Eure Mel