A/N: Andeutung über Andeutung in diesem Teil! *grins* (hach was bin ich wieder gemein … *^_^*) Okay, erst mal gut lesen und fein mitdenken, dann könnt ihr heute das ungefähre Alter der beiden ausrechnen. Die ganz genauen Zahlen verrate ich erst viiiieel später. *hehe* Was mit ~~ eingegrenzt ist, sind Texte. (Bei mir ist das alles eingerückt, aber das macht die Formatierung leider nicht mit. *seufz* Und ich will ja nicht, daß ihr es mit Gedanken verwechselt. ^^")

Entschuldige, Sally Tse Schiep: Ich hab dir geschrieben, daß ich mich auf den Bogen bezog (was ja schon im Text stand), aber es war schon verdammt spät, also hier eine kleine Korrektur: Der Satz bezieht sich auch darauf, daß Inuel anscheinend kein bißchen über Legolas' seltsame Reaktionen verwundert ist. Aber ob er es wirklich nicht erkennt? Und wenn es so ist, warum? – Verrat ich nicht, na ja, zumindest NOCH nicht. *fiesgrins*

Bitte nicht enttäuscht sein, amlugwen: Du hast die Andeutung im letzten Satz schon richtig verstanden. ^.~ Leider ist Legolas da nicht so schnell wie du, also müssen wir das wohl noch aufschieben, bis ER diesen Gedanken auch zweideutiger auslegt. *kicher* Und wieder mal hast du eine wunderbare Frage aufgeworfen, aber mit der hab ich schon gerechnet, weil auch meine Freundin das wissen wollte: Warum fürchtet sich Legolas nicht in "normalen" Nächten?

Eine Antwort steckt im Text, oder vielleicht auch zwei. Zudem: "Normale" Nächte sind nicht finster, und Elben haben super Nachtsicht. Allein im Sternenlicht kann er alles sehen, und Fleets im Düsterwald ragen zum Schutz vor Nachtjägern über die dichtesten Baumschichten hinaus. Wenn er also im Schlaf die Augen öffnet oder gleich mit offenen Augen schläft, beruhigt ihn das Licht, welches er aufnimmt. Nur in totaler Finsternis schlägt die Panik zu.

Disclaimer: Legolas gehört zwar mit Leib und Seele Tolkien, aber Gefühle hab ich ihm eingehaucht. (Was, finde ich, nach dem Buch auch dringend nötig war. Beweist mir das Gegenteil, falls ihr könnt. ^^)

Rating: PG-13 (langsam gehen mir die Begründungen aus, aber hier lohnt sich wenigstens die Bezeichnung "Psychischer Streß" …)

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Früchte der Furcht

Kapitel Sechs

"Ja, so." Mit einem Finger zog der Prinz ein weiteres Schriftzeichen auf dem staubigen Boden: "Und das hier ist ein …"

"Ich kenne dieses Zeichen", unterbrach ihn Inuel leise.

Legolas hob eine Augenbraue. "Ach ja?"

"Es heißt …" Grübelnd malte der Junge die Striche nach. "Ich glaube, es heißt N."

Ein Nicken. "Woher weißt du das? Hat dir schon früher jemand Lesen beigebracht?"

Diesmal nickte Inuel, nach einem langen Zögern: "Einen gab es. Als ich noch ganz klein war … aber jetzt habe ich alles vergessen." Er deutete auf das elbische N. "Das war das letzte Zeichen, das er mir beibrachte."

"Dieses? Da fehlen aber noch einige."

Der Junge zuckte mit den Schultern.

"Was ist passiert?"

Ein bedauernder Ausdruck zog sich über Inuels Gesicht. "Ich konnte es mir nie richtig merken. Ich glaube, deshalb hat er einfach aufgegeben. Er kam eben nicht mehr." Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: "Seltsam, ich weiß nicht mal seinen Namen."

"Ah", machte Legolas so neutral wie möglich.

Irgendwie verstand er die Abneigung dieses anderen Lehrers jetzt ziemlich gut. Es hatte sich bald gezeigt, daß Inuel nur schwer aufnahmefähig war. Nicht dumm oder langsam, nur völlig unkonzentriert: Sobald man ihm etwas zum zweiten Mal sagte, sprang er mit seinen Gedanken ganz woanders hin. Ein so unaufmerksamer Schüler war dem Elbenprinz noch nie untergekommen, doch er paßte seine Lehrmethode an, erklärte etwas nur einmal und ließ anschließend den Jungen üben.

Zwar funktionierte das besser, doch unter seinen Bemühungen war die Nacht hereingebrochen, und sie waren noch immer nicht fertig. Die letzten drei Zeichen konnte Inuel sich einfach nicht einprägen, und er wäre mehrmals fast eingeschlafen. Etwas Bewegung wäre jetzt nicht schlecht, aber … Legolas schaute zum finsteren Ausgang. Der Regen hatte um nichts nachgelassen.

Seufzend erhob sich der Prinz und streckte sich, während Inuel die Bewegung auf dem Rücken liegend nachahmte. Anschließend rollte sich der Junge auf seiner Matte zusammen und fiel augenblicklich in tiefen Schlaf. Legolas runzelte die Stirn, sagte aber nichts dazu. Offenbar gibt es heute nichts Warmes, fuhr es ihm durch den Kopf. Dann lachte er leise über den kleinen Stich der Enttäuschung, welcher dem Gedanken folgte. Bestimmt könnte er Inuel am Morgen dazu bringen, etwas zu kochen. Ja, das ist das Warten sicher wert.

Ein wenig gelangweilt schaute der Elb sich um, wobei sein Blick erneut auf die Schriftrolle traf. Hm … Nun, es ist ein Zeitvertreib. Legolas wollte so lange wie möglich das Feuer überwachen, damit es nicht wieder zu früh ausginge. Solange es brannte, fürchtete er sich nicht. Außerdem war er noch nicht sehr müde, denn die körperliche Anstrengung war an diesem Tag sehr gering gewesen, und geistige Übungen erschöpften ihn nie.

Also nahm er die alte Schriftrolle, begab sich zu seiner Matte und machte es sich im Schneidersitz bequem, ehe er das Papier auf seinen Knien entrollte. Die Schrift war sehr klein, aber deutlich zu erkennen, geschrieben von einer geübten, sauberen Hand und mit wertvoller, brauner Tinte. Legolas schloß daraus, daß es sich bei dem Verfasser um einen sehr hochgestellten Elben handeln mußte, oder einen sehr gebildeten, denn diese Tinte konnten nur wenige Personen herstellen.

Oben links entdeckte er sehr klein ein Datum, blinzelte und stellte dann fest, daß der Text in einem Spätherbst vor 597 Jahren aufgezeichnet worden war. Doch noch nicht so alt. Der Eintrag erinnerte an ein Tagebuch, und schon die ersten Zeilen bestätigten diesen Eindruck.

~~

Keines der Zeichen wies auf dieses Ereignis hin. Vieles wurde geopfert, ich selbst mußte weitreichende Entscheidungen treffen, und ich gebe zu, nicht alle davon waren weise. So viel riskierte ich, um das Wertvollste in meinem Leben zu erhalten. Nun raubte man es vor meinen Augen. Wie machtlos fühle ich mich nun … Ich dränge auf eine Suche, doch der Stamm scheint zum ersten Mal seit über einhundert Jahren erleichtert zu sein. Das Wetter liefert ihnen eine gute Ausrede zu bleiben: Seit fast einer Woche regnet es ununterbrochen.

~~

Legolas lachte in sich hinein. "Das paßt ja", murmelte er und starrte kurz in den Regen, ehe er sich in der Schriftrolle verlor.

~~

Soll ich denn glauben, daß der Himmel selbst sich auftut, um die Verfolgung unserer Feinde zu verhindern? Der unaufhörliche Regen verwischte alle Spuren, selbst die Gerüche wusch er aus der Luft, und der Weg nach Norden wurde schlammig und gefährlich.

Ja, ich versuchte, dem Zwergenvolk allein zu folgen. Niemand erwartete etwas anderes, doch es unterstützte mich auch keiner. Erfolglos mußte ich schließlich umkehren, nach verworrenen Wegen und schweren Kämpfen, durch welche ich die Nützlichkeit meines linken Armes für einige Zeit einbüßte. Nun wird es nicht mehr lange dauern, bis sie mich stürzen werden. Ich sehe oft die Herausforderung in Rumucans Augen, den stillen Befehl abzutreten, ehe er mich mit Gewalt dazu zwingt.

Und wenn ich ehrlich bin, es gibt nun nichts mehr, wofür sich der Kampf lohnen würde.

Seit der Geburt meines Sohnes stieß ich fortwährend auf den Widerstand des Stammes. Nach Baladias Tod glaubte ich, es würde Ruhe einkehren, doch die Elben reagierten unerwartet: Sie verdächtigten dieses unschuldige Kind, seine Mutter ermordet zu haben, und allein seine Anwesenheit sicherte mir bisher den Status des Oberhauptes. Allein die Furcht, welche es bei den Elben auslöste.

Es wundert mich nicht, daß sie darüber froh sind, die unmittelbare Gefahr – oder was sie dafür hielten – überstanden zu haben. Dennoch glaube ich nicht, einer meiner Gefolgsleute hätte den Zwergen dabei geholfen. Nicht einmal Rumucan würde sich ausgerechnet mit den Zwergen verbünden, um ein Kleinkind zu stehlen. Oder?

Die Frage bleibt, was aus meinem Sohn wurde. Ist er tot? Oder wird er bei den Zwergen aufwachsen, bis er alt genug ist, sein Schicksal in die Hand zu nehmen? Und wenn diese Zeit kommt, wird sich dann Baladias große Furcht bestätigen? Wird mein eigenes Kind unser Ende bringen?

Bisher hoffte ich, ich könnte ihn auf den richtigen Pfad bringen, indem ich Thranduils Beispiel folge und meinen Sohn nach bestem Wissen erziehe. Doch nun scheint meine Chance darauf verloren zu sein. Die einzige Hoffnung, die mir bleibt, ist, daß Baladia sich in unserem Sohn ebenso täuschte wie in Thranduils Zwillingen.

Ich bete dafür.

~~

Verwirrt strich einer der genannten Zwillinge über den letzten Absatz. Das muß Ankulan geschrieben haben, überlegte er. Er kannte den älteren, ewig traurigen Herrn nur flüchtig, war ihm einmal in seiner Kindheit begegnet und dann nochmals auf einem kurzen Besuch hier vor – wie lange mochte es her sein? Sicher über dreihundert Jahre, rechnete der Elb. Ich wußte gar nicht, daß er einen Sohn hatte … was wohl aus ihm geworden ist? Wenn er noch lebte, müßte er schon fast erwachsen sein.

Legolas schüttelte sich bei der Vorstellung, sein ganzes Leben als Sklave der Zwerge zu verbringen. Warum hatte Ankulan so schnell aufgegeben? Beim letzten Besuch des Elbenprinzen war Ankulan noch immer Clanoberhaupt gewesen, und die meisten Elben schienen ihm gerne zu folgen. Sicher hätten sie eine weitere Suche befürwortet. Man kann doch einen Elben nicht einfach den Zwergen überlassen. Was mochte passiert sein?

Ob es noch mehr Aufzeichnungen hier gibt? Ich muß Inuel danach fragen … ach nein, besser ich gehe selbst.

Eilig erhob sich Legolas und lief mit lautlosen Schritten durch die enge Passage den langen Gang entlang in Richtung Lager. In Gedanken überlegte er schon, wie er in dem Chaos die richtige Kiste finden konnte, und fragte sich auch beiläufig, wie wohl der Junge in der kurzen Zeit all die nützlichen Dinge ausfindig gemacht hatte. Ob es ein System gab, welches der Prinz übersehen hatte? Ihm blieb nichts übrig als das zu hoffen, denn Inuel schien ziemlich ordentlich zu sein und hatte sicher nicht alles offen herumstehen lassen.

Forsch bog der Elb um die letzte Ecke – und prallte in Entsetzen zurück.

Legolas kauerte sich auf der anderen Seite des Ganges zusammen und starrte in die pechschwarze Finsternis direkt vor ihm, viel zu dicht. Noch erreichte ihn der Lichtschein der letzten Fackel, wodurch er sich fangen und die Panik bezwingen konnte; dennoch schienen aus dem Dunkel bereits die Schatten zu züngeln und nach ihm zu greifen. Mehr unbewußt als gewollt kroch Legolas zurück zum Licht und ruhte sich dort einen Moment aus, ehe er sich erhob.

Mit der etwas würdigeren Haltung kehrten auch ein paar geordnete Gedanken zu ihm zurück, und er begriff, daß Inuel die Fackeln am Eingang des Lagers gelöscht hatte. Unwichtig, ob er sie nur schonen oder die Gefahr eines Brandes unterbinden wollte, Legolas sah schließlich ein, daß es eine gute Idee war und er es mit den Lichtern im Gang eigentlich genauso hätte tun sollen.

Allein seine gut verborgen geglaubte Furcht hatte ihn daran gehindert, und plötzlich wurde er sich darüber bewußt, daß Inuel das vermutlich wußte und nur aus Anstand nichts sagte. Verdammt. Legolas schämte sich.

Etwas heftiger als nötig gewesen wäre packte er die halb heruntergebrannte Fackel und stählte sich, zu dem dunklen Loch zurückzugehen. Er würde die Fackeln einfach neu entzünden und dann mit der Suche beginnen. Doch als der Prinz im Eingang stand, wo die Dunkelheit ihren Schrecken auf einmal verloren hatte, zögerte er ganz dicht neben der ersten erloschenen Leuchte.

Denn Legolas kam unversehens die vorangegangene Nacht ins Gedächtnis, die übermächtige Angst, welche ihn zu einer ungemein gefährlichen Handlung getrieben hatte, und das unerwartete Verständnis dieses immer noch fremden Jungen, in dessen Gegenwart der Prinz seine Furcht offenbart hatte. Erneut schnürte Scham sein Herz ein, dicht gefolgt von einem gewaltigen Ärger auf sich selbst. Ein Krieger durfte sich nicht fürchten, schon gar nicht vor etwas so Irrealem.

Als Kind hatte sich Legolas nie so geängstigt, vor gar nichts. Manchmal hatte er schlechte Träume gehabt, vor allem, wenn die schweren Vorhänge vor seinem Fenster wegen nächtlichen, hellen Festen zugezogen waren, doch irgendwann hatte er beim Aufwachen Osuldar an seiner Seite gefunden, mit furchtsam aufgerissenen Augen und Tränen im Gesicht. Von da an hatten sie in jenen finstersten Nächten immer der eine beim anderen übernachtet, und die bösen Träume waren fast nie wieder gekommen, solange sie zusammen blieben.

Zusammen … Legolas seufzte. Seit er erwachsen war, hatte er auch nur wenige extreme Ereignisse erlebt, denn seine Gemächer blieben nachts immer etwas erleuchtet, und wenn er mit den Kriegern unterwegs war, konnte der Prinz in seinem Einzelzelt die Plane öffnen, um das Licht der Lagerfeuer einzulassen oder bei Regenwetter einfach eine Kerze anzünden.

Schlimm war es, als er bei einem Erdbeben allein im Keller des Palastes verschüttet worden war. Fast zwei Tage hatte er in dem engen Raum unter dem Trümmerberg verbracht und beinahe aufgegeben; als Thranduil ihn endlich unter den letzten Steinen hervorzog, hatte der Prinz kaum noch geatmet. Doch am stärksten verfolgte Legolas ein Erlebnis, daß dem Elben während seiner Zeit bei den Kriegern widerfahren war.

Sie hatten einen kleinen Trupp Ork, die im Düsterwald eigentlich nichts zu suchen hatten, bis zu dem Gebirge verfolgt, aus denen der Verzauberte Fluß entsprang. Man hatte Legolas als Späher vorausgeschickt, ihr Lager ausfindig zu machen, und er sah einige Ork in eine Höhle marschieren. Auf leisen Sohlen schlich er ihnen nach, ohne Licht, denn das hätte ihn verraten, doch schon nach wenigen Schritten zwang ihn seine Furcht in die Knie. Damals wäre er den Feinden um ein Haar in die Hände gefallen, weil er unter seiner Panik kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.

Das war das letzte Mal gewesen, daß er mit anderen ausgezogen war – mit dieser Behinderung bedeutete er nur eine Gefahr für seine Gefährten. Er hatte sich im Palast aufgehalten oder seine Reisen allein angetreten, ohne jemandem von der Angst zu erzählen, nicht einmal seinem Vater. Die Elben gewöhnten sich daran, Legolas gewöhnte sich daran, und selbst seine Angst schien sich daran zu gewöhnen, denn sie bekam seither keine Gelegenheit mehr sich zu zeigen, und der Prinz vergaß sie Schritt für Schritt.

Bis gestern, erkannte er wütend.

Überraschend und zielgenau hatte die Panik zugeschlagen, wie ein listiger Feind, der nur auf den richtigen Moment wartet, eine Falle zuschnappen zu lassen. Legolas ließ die Fackel sinken. Ich werde mich von diesem Feind nicht schlagen lassen, beschloß er mutig. Ich werde mich ihr stellen, und sie bekämpfen, und in die Knie zwingen, bis die Angst sich vor mir fürchtet. Rasch ging der Prinz den kurzen Weg zurück und plazierte die Fackel in ihrer Halterung, ehe er sich umwandte. Denn was bin ich für ein Elb, was für ein Krieger, wenn ich meine eigenen Gefühle nicht beherrschen kann? Jetzt ist die perfekte Gelegenheit.

Wenige Schritte vor der Öffnung zögerte Legolas. Seine Schritte wurden langsamer, seine Knie zitterten und sein Atem ging flach. Noch ein Schritt, und er würde inmitten der Finsternis stehen. Legolas machte den Schritt – rückwärts. Und er wollte noch einen tun, als die züngelnden Schatten erneut nach ihm griffen, doch er wehrte sich gegen den tiefen Drang mit allen halbwegs vernünftigen Gedanken. Wie eine Statue verharrte er am Fleck, alle Muskeln gespannt, doch ohne eine Wirkung zu entfalten.

Dann lehnte sich der Prinz nach vorn. "Perfekte Gelegenheit", murmelte er und fügte lauter hinzu: "Ich nutze sie!" Damit schloß er die Augen und warf sich mit einer hastigen Bewegung in den lichtlosen Schlund.

*******

Die Dunkelheit stürzte sich auf ihn wie ein hungriger Wolf auf die gefangene Beute; mit feurigen Klauen zerfetzte sie einen klaren Gedanken nach dem anderen, bis nichts zurückblieb außer Angst und Schmerz. Dicken Tüchern und festen Bändern gleich wickelten sich die Schatten um Legolas' Seele und drückten zu, erstickten seinen Mut und die Hoffnung; und auch körperlich fiel ihm das Atmen immer schwerer.

Nach nur wenigen Schritten versagten seine Beine, und der Elbenprinz fiel auf die Knie vor dem unbekannten Feind, den Kopf gesenkt und beide Hände auf die Ohren gepreßt, um die Stimmen nicht zu hören. Doch er konnte sie nicht zum Schweigen bringen, denn sie drangen aus der Finsternis direkt in sein Gehirn und brauchten nicht den Umweg über das Gehör zu nehmen. Sie verfluchten und sie verführten ihn.

Sein ganzes Wesen schrie nach Flucht. Mit der Kraft der Verzweiflung stemmte sich Legolas auf die Füße und taumelte nach hinten, weil ein winziger Teil seines Verstandes ihm dort Licht und Sicherheit versprach. Doch der Zugang zum Lager war schmal, und da er ihn nicht sah, verfehlte Legolas die Pforte und endete statt dessen in einer kleinen Vertiefung direkt neben dem Ausgang. Hier, im tiefsten Dunkel, mit dem Rücken zur Wand und weder rechts noch links ein Fluchtweg – hier erkannte er, daß man ihm eine Falle gestellt hatte und er in dummem Stolz hinein getappt war.

In seiner Verwirrung zerrte seine Erinnerung auch sofort das Bild des Verräters herauf: Es war ein Elb, und Legolas kannte sein Gesicht, denn es war sein eigenes, und dieses Gesicht schwebte vor ihm und lachte ihn aus. Und plötzlich, da er nicht zurück und nicht zur Seite fliehen konnte, schlug die Angst des Elben in Panik um, und eine verzehrende Wut trieb ihn zum Handeln: Er stieß sich mit ganzer Kraft von der Wand ab und stürmte mit einem schallenden, zornentbrannten Aufschrei der Raserei dem grienenden Antlitz entgegen.

Denn dies war der Feind, ein Feind, den er packen und vernichten konnte. Das allein wußte er, und seine Gedanken waren erfüllt von Haß.

Das Gesicht wehte vor ihm her und der Prinz folgte ihm blind, bis er vor sich etwas Hohes, Schweres spürte und instinktiv auswich, doch sein Fuß verfing sich in etwas Leichtem viel näher am Boden, und der Elb war davon so überrascht, daß er zu Boden fiel ohne sich abzustützen. Noch eine Falle, die er nicht durchschaut hatte? Doch nein, sein Feind verschwand nicht, sondern kam näher und lachte lauter.

Während Legolas am Boden lag und der Haß seine Gedanken verfinsterte, drängten aus dem drohenden Gelächter andere, leisere Stimmen hervor, die Legolas nie zuvor vernommen hatte. Oh, ihn verfolgten noch die lauten und drängenden Stimmen der Schatten, doch die neuen Stimmen waren anders: Sie sprachen seine eigenen Gedanken aus, gruben sich in die verborgensten Winkel seines Verstandes und flüsterten ihm in sanften Worten entsetzliche Dinge zu, mit süßen Stimmen, und der Elbenprinz konnte nicht anders als hinhören.

Sie erinnerten ihn an die Vergangenheit, sie zeigten ihm die Zukunft und sie versprachen ihm Frieden, wenn er ihnen folgte – Frieden vor dem Zwiespalt in ihm selbst. Ihre Worte wirkten nicht minder bindend und verwirrend als die lauten Rufe der anderen, doch in dem Durcheinander gelang es Legolas unversehens, einen eigenen Gedanken zu denken, welcher die kleinen wie die großen Stimmen als das entlarvte, was sie waren: "Trug!"

Darauf folgte ein seliger Moment der Stille, ein Moment keimender Hoffnung für Legolas, bevor seine Welt erneut in zornig kreischendem Chaos unterging. Unter dem beißenden Schmerz schrie seine gepeinigte Seele noch einmal auf, suchte verzweifelt nach einem verschleierten Ort der Ruhe, welcher irgendwo am Rande seiner Wahrnehmung schwebte und den er nicht ganz greifen konnte.

Doch die Schatten waren stärker, verdrängten mit ihrem Gebrüll selbst diese verschwommene Erinnerung an das Wort, welches Legolas zu sagen versuchte, hingen schwarze Vorhänge vor seine Gedanken und drückten von allen Seiten auf ihn ein. Außerdem schienen sie Form anzunehmen, denn plötzlich fühlten sie sich nicht mehr nur nach eng geschnürten Bändern an, sondern nach Händen – Dutzende von Händen, die versuchten, ihn zu packen und zu halten.

Legolas wehrte sich nach Kräften, warf sich herum und schlug wild um sich, denn wie sie ihm auch zusetzen mochten, er wollte sich nicht kampflos ergeben. Erfolgreich schmetterte er sie von sich, doch dafür wurden die Stimmen wieder lauter, hämmerten auf seinen Mut ein und zerfleischen seine Willenskraft, bis er erschöpft und mutlos ganz kurz vorm Aufgeben war.

Da hörte er jäh ein ohrenbetäubendes Trommeln näher kommen, welches den harten Fels unter Legolas' Gesicht erschütterte und einen versengten Gestank mit sich brachte, spürte erst Hitze und dann wieder eisige Hände auf seinem Gesicht, und mit ihnen kamen die leisen Stimmen zurück, die, welche ihm Friede und Ruhe versprachen und unaufhörlich sagten, es würde alles gut werden.

Die Hände fielen auf seine Schultern und zerrten an ihm. Schwer atmend drehte sich Legolas auf die Seite, um sie abzuschütteln, denn er hatte nicht mehr die Kraft, gegen sie anzukämpfen. Das schienen seine Feinde zu spüren, denn sie ließen nicht locker, packten ihn um den Hals und zogen ihn rückwärts, vermutlich, um auch den letzten Hauch von Luft aus seinen Lungen zu treiben. Legolas wurde schwindelig und einen Moment überwältigte ihn ein Gefühl des Fallens, doch dann prallte er halb aufrecht mit dem Rücken gegen etwas Weiches, die kalten Hände lösten sich von ihm, die Hitze vor seinem Gesicht kam zurück und mit ihr die Stimmen …

Eine darunter besonders deutlich, eine fast vertraute Stimme. Legolas verstand ihre Worte nicht, aber er hörte das Drängen darin. Es war anders als bei den übrigen Stimmen, und er versuchte, das Flüstern vor seinem Ohr zu verstehen.

Komm mit uns, flüsterten manche. Komm zu diesem Ort, folge uns, begib dich auf den Weg …

"Bitte geh nicht", schluchzte die eine.

Wohin? dachte Legolas.

Verschließe dich vor dieser grausamen Welt, und sie kann dir nichts mehr tun. Sieh einfach nicht hin.

Es wäre gerade jetzt so einfach gewesen, und er war doch so müde …

"Mach die Augen auf, Legolas."

Und er hörte ein Geräusch, erkannte es aber nicht.

Werde ein Teil der Dunkelheit, und du wirst ihr Herrscher sein. Nie wieder Angst!

Zu herrschen bedeutete ihm nichts, aber keine Angst mehr zu haben … er wünschte sich nichts mehr als das.

"Hab keine Angst, es ist nicht mehr dunkel."

Wieder dieses Geräusch … ein hoher Ton, kurz und irgendwie verloren zwischen all den Stimmen.

Nur durch das Licht entstehen Schatten – entsage ihm!

Auf einmal klang alles so … einleuchtend.

"Legolas, so sieh doch, ich habe Licht gemacht!"

Trauer mischte sich in das Geräusch, noch während Legolas über die Worte der dunklen Stimmen nachdachte. Er fühlte, wie Arme sich um seinen Oberkörper schlangen, doch er war zu dicht am Abgrund um sich daran zu stören.

Entsage ihm!

"GEH NICHT!"

Das Geräusch brach mit einem verzweifelten Mißklang …

Entsage ihm!

… worin Legolas mit einem Mal das verlorene Wimmern Inuels erkannte …

Ent–

… und er wandte dem Abgrund den Rücken zu …

–saaa…

… und öffnete die Augen.

Umgehend begrüßte ihn eine helle Flamme, eine Fackel dicht vor seinem Gesicht, welche Inuel unsicher zwischen zwei Kisten geklemmt hatte. Legolas starrte lange in das heiße Licht, ließ sich von seiner Wärme erfüllen und seine Furcht davon fortwaschen. Die Schatten wichen harmlos in ihre Ecken zurück und nahmen ihre häßlichen Stimmen mit. Letztendlich blieb nur das Licht, und Müdigkeit, und Inuel.

Der Junge saß oder kniete hinter ihm, so daß sein Gesicht Legolas verborgen blieb. Da aber der Prinz an Inuels Brust lehnte, spürte er das rasende Hämmern des jungen Herzens wie einen Trommelwirbel an seinem Hinterkopf. Es tat fast in den Ohren weh.

"Shhh", machte Legolas leise. "Ich bin noch da."

Der Herzschlag setzte kurz aus und nahm dann – was Legolas für so gut wie unmöglich, und definitiv für sehr ungesund hielt – seine Bemühung mit doppelter Geschwindigkeit wieder auf.

"Hey …" Der Prinz räusperte sich. Wieso klang seine Stimme so rauh? "Wirst du dich wohl beruhigen?"

Ein Nicken, welches Legolas wenig über seinem Kopf spürte, antwortete ihm, doch an dem beständigen Beben änderte sich nichts. Seufzend suchte und fand er eine Hand Inuels, ergriff sie und drückte leicht zu. Dann wartete er, und er wartete lange, ehe der Junge sich beruhigte. Endlich aber ließ der Druck seiner Arme nach, der Herzschlag normalisierte sich und Inuel wich seufzend zurück.

Legolas drehte sich um, um gegen die Kisten zu lehnen, und lächelte seinen Begleiter an. Doch ehe er dazu kam, etwas zu sagen, ballte Inuel eine Faust und schrie ihn an: "Was machst du denn hier, du Dummkopf?!"

Niemand außer seinem Vater und Osuldar hatte ihn je einen Dummkopf geschimpft, daher zuckte der Prinz zurück und verfiel unwillkürlich in Verteidigungsmodus: "Ich wollte nur eine Schriftrolle holen!"

Die Faust senkte sich und Inuel sah sich in dem riesigen Lager um. "Was, wolltest du etwa … riechen, wo sie ist?"

Die Frage kam so ernst rüber, daß Legolas ungewollt lachen mußte. Dabei mußte er zugeben, daß er nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte, wie er im Dunkeln die richtige Kiste, geschweige denn die Schriftrolle finden sollte.

"Warum um alles in der Welt bist du hier ohne Licht reingegangen?" wollte Inuel besorgt wissen. "Sogar der Eingang war unbeleuchtet!"

Legolas' Lachen erstarb. Er dachte an sein Vorhaben und an den Ausgang, wie kläglich er gescheitert war und daß das, was er am meisten verhindern wollte, erneut eingetreten war: Der Junge hatte ihn schon wieder … so … gesehen.

"Legolas?"

Der Prinz schwieg kurz, entschied dann aber, daß durch Ehrlichkeit nun auch nichts mehr verloren werden könnte: "Ich wollte keine Angst mehr haben."

Anscheinend überdachte Inuel das Problem. Dann runzelte er die Stirn. "Aber warum gehst du dann absichtlich in so ein dunkles Loch?"

"Inuel", seufzte Legolas, "du hast doch selber Angst. Wolltest du sie nicht auch mal loswerden?"

"Sicher."

"Und wie hast du das gemacht?"

Der Junge grinste: "Bin nicht mehr zum Fluß gegangen. Hat prima geklappt."

"Ja, bis neulich." Legolas deutete über seine Schulter und meinte damit das Ereignis vor wenigen Tagen, an welches sich auch der Junge nur ungern erinnerte. "Ich will, daß sie verschwindet und nie wiederkommt", erklärte er eindringlich. "Daß ich im Dunkeln gehen kann, ohne gleich den Verstand zu verlieren. Ich hasse es, Angst zu haben! Ich wollte sie bekämpfen und loswerden!"

"Ah ja", machte Inuel neutral, doch in seinem Blick stand der Vorwurf: Das hat offensichtlich nicht geklappt. "Hätte ich dann lieber nicht herkommen sollen?"

Ja! wollte Legolas rufen und biß sich beinahe auf die Zunge, um es zu verkneifen. Es wäre ihm lieber gewesen, der Junge hätte ihn nicht noch mal in diesem Zustand vorgefunden. Einerseits. Doch andererseits war ihm auch klar, daß er sich alleine nie wieder erhoben hätte, und deshalb fühlte er tiefe Dankbarkeit für Inuels Hilfe.

"Nein, schon gut. Aber sag mal", kam ihm ein Gedanke, "warum bist du eigentlich hier?"

"Na weil, du … hast doch gerufen – oder nicht?"

Legolas erinnerte sich nicht wirklich, aber er schüttelte vorsichtshalber den Kopf.

"Naja", überlegte Inuel genauer. "Ich bin aufgewacht, weil ich dachte, du hättest gerufen. Hab sowieso nicht gut geschlafen", fügte er gähnend hinzu. "Dann warst du weg, und ich dachte …" Er hielt inne, legte die Stirn in Falten. "Ich weiß nicht genau, was ich dachte. Aber ich fühlte … daß was nicht in Ordnung war. Also bin ich los, und dann hast du gerufen. Ja, du hast gerufen."

"Dich?" fragte der Prinz heiser.

Inuel schaute ihm lange in die Augen, ehe er sachte den Kopf schüttelte. "Ich kann mich nicht erinnern. Ich hab nur deine Stimme gehört, und ich konnte vor Angst kaum noch denken, weil sie so seltsam klang."

Es war kein Nein. Legolas starrte ebenso lange zurück, bevor er in stillem Zugeständnis nickte.

Wahrscheinlich würde der Junge dieses Wissen eines Tages ausnutzen, doch Legolas hegte die kleine Hoffnung, daß er es nicht tun würde. Denn er war eben Inuel … sein naiver Begleiter. Und vielleicht auch sein Freund.

"So, und jetzt", wechselte der Junge schnell das Thema. "Wegen der Schriftrolle?"

Dankbar und ein wenig verlegen lächelte der Prinz und strich sich fast unbewußt über die Stirn. "Sie war sehr interessant", meinte er nur.

"Nun, offenbar nicht interessant genug für einen Abend."

War das ein Funkeln in seinen Augen? Legolas zuckte die Schultern: "Wer weiß, wie lange wir hier sind. Ich wollte sehen, ob es noch mehr gibt, und wenn möglich alles durchsehen."

"Aha. Soll ich sie dir dann herholen?"

"Wenn es keine Umstände macht", sagte der Prinz übertrieben höflich.

Inuel stand auf und ging tiefer ins Lager. Obwohl er ihm folgen wollte, verharrte Legolas starr im hellsten Lichtkegel, denn die Erinnerung war noch zu frisch und sein Körper weigerte sich schlicht, noch mehr dumme Befehle auszuführen. Daher wartete er ab und lauschte Inuels ununterbrochenem Gerede. Der Junge erzählte nichts Interessantes und Legolas wunderte sich, ob er denn niemals ruhig sein konnte. Aber er war auch froh, daß seine heitere Stimme alle düsteren Gedanken übertönte, und so unterbrach er ihn nicht.

Als er einen vertrauten Namen vernahm, horchte er auf. "… Ankulan, dem Clanoberhaupt", sagte der Jüngere gerade. "Ich war mir gar nicht sicher, ob wir sie lesen dürfen, aber … es ist wohl erlaubt." Seine Stimme klang etwas belustigt. Nach einer kleinen Pause, in welcher ein rauhes Schaben und Scharren ertönte, fuhr er etwas ernster fort: "Es sind gar nicht so viele. Ankulan hat nämlich nicht alle Einträge hierher gebracht, weißt du?" Das Scharren kam näher, und mit ihm Inuels nun etwas angestrengte Rede: "Die hier enthalten alle etwas, das den Stamm betrifft. Er wollte nicht, daß sie verlorengehen. Nur für den Fall …"

Endlich trat der Junge um eine Ecke, mit dem Rücken zuerst, und zerrte eine hohe, breite Kiste hinter sich her.

"Nicht so viele?" erhob Legolas eine Augenbraue.

"Wie?" meinte der Junge verwirrt und warf dann einen abschätzenden Blick auf die Kiste. "Das ist echt nur eine klägliche Auswahl von allen seinen …" Als er den argwöhnischen Blick des Prinzen sah, brach er verstört ab. "Wa-warum schaust du mich so an?"

"Warst du früher schon mal hier?" Eine kurze, scharfe Frage.

Inuel verstand sie falsch. "Nur um die neuen Sachen zu holen und so", antwortete er leichthin.

Legolas lehnte sich vor: "Ich meinte, in der Elbensiedlung. Irgendwann?"

"Nein", antwortete der Junge aufrichtig, während er sich setzte und den Deckel von der Kiste hob. "Ich wußte gar nicht, daß es so schöne Orte gibt. Aber wir können gern bleiben, wenn du magst. Das fände ich schön." Am liebsten will ich nie mehr in den Düsterwald zurück …

"Ich muß zurück nach Düsterwald."

Inuels Schultern sanken fast unmerklich. "Na schön", sagte er mit fröhlicher Stimme. Gehen wir eben da hin.

"Wenn du noch nie in deinem Leben hier warst", kam Legolas auf seine Frage zurück, "woher kennst du dann Ankulan?"

"Ich kenne –", wollte Inuel sofort protestieren, hielt aber inne, als ihm klar wurde, worauf der Prinz hinaus wollte. "… Ankulan nicht wirklich", endete er leise. Es war ja die Wahrheit.

Legolas griff wahllos eine Rolle aus der Kiste. "Dann kannst du doch schon lesen", warf er dem Jungen vor. Nichts als Schweigen antwortete ihm, wodurch er leicht ärgerlich wurde: "Und ich habe mich heute ganz umsonst so abgequält!"

"Nein!" fuhr der Junge herum.

Seine Augen waren geweitet und sein Gesicht heiß, für Legolas deutliche Zeichen: Der Kleine log nicht. Und plötzlich sah er die Farbe weichen, als sich ein Schatten über Inuels Züge legte. Ah, sieh an, bereitete er sich still vor, jetzt kommt die Wahrheit ans Licht. Ich wußte, er verheimlicht was. Doch die Frage überraschte ihn.

"War es", begann Inuel zögernd, ohne dem Prinzen in die Augen zu sehen. "War es wirklich Quälerei für dich?"

Da er nicht lügen, die Gefühle seines Gefährten aber auch nicht verletzen wollte, schwieg Legolas, und er schwieg gerade ein bißchen zu lange. Mit einem Ruck sprang Inuel auf die Füße, wie jemand, der unbedingt aufstehen muß, um nicht aus der Haut zu fahren. Er sah sich kurz um, als könne er nicht recht entscheiden, wohin er fliehen sollte. Schließlich entschied er sich für die Dunkelheit und lief mit schnellen Schritten tiefer ins Lager.

Legolas blickte ihm reglos nach. Oh, verdammt, schimpfte er sich selbst aus. Wie hast du dich wieder in so eine Lage gebracht? Ob ich ihm nach soll? Schon streckte sich seine Hand aus eigenem Antrieb zur Fackel, doch der Prinz hielt sie zurück. He, ER ist doch derjenige mit den Geheimnissen! Obwohl er den Gedanken weiterspinnen wollte, antwortete ein Teil von ihm für Inuel: Aber hast du ihn auch wirklich danach gefragt?

Verärgert schüttelte Legolas den Kopf. Nicht nur, daß ihn im Dunkeln fremde Stimmen heimsuchten, nun entwickelte auch noch sein eigener Verstand verschiedene Ansichten! Na schön, entschied er, dann frage ich ihn! Diesmal zog er die Fackel aus ihrem instabilen Halt und stand auf. Sobald er sich beruhigt hat … Wieso ende ich bei Inuel bloß immer als der Verlierer?

Er fand den Jungen ganz am Ende der Höhle, vor einer abseits stehenden, langen und kaum kniehohen Kiste sitzend. Schon von Weitem erkannte Legolas darauf Schriftzeichen, welche der Junge traurig nachzog. Eine Augenbraue sprang überrascht aufwärts: Außer dieser war nichts in dem Raum beschriftet, wie der Prinz schnell bemerkt hatte.

"Ich werde wohl nie wissen, wie viele noch fehlen, oder?" seufzte Inuel, als Legolas hinter ihm zum Stehen kam. Es dauerte einen Moment, ehe dem älterem Elben einfiel, daß er über die letzten Buchstaben im Alphabet sprach. "Wie schade", fuhr der Junge fort. "Ich hätte es fast lesen können."

Seine Hand stoppte über dem vorletzten Zeichen, das einzige, welches er in den beiden Worten noch nicht entziffern konnte. Legolas hielt die Fackel näher heran: CELABON BACHTIRN stand in großer, unsauberer Schrift auf dem rauhen Holz. "Celabon Warenwächter", las er Inuel vor. Er runzelte die Stirn. "Ist das etwa ein Sarg?"

Aber Inuel war in Gedanken woanders: "Ich hätte ihn fragen können, weißt du? Aber ich dachte, das macht man nicht." Seine Lippen formten ein schiefes Lächeln. "Vielleicht hab ich mich auch geschämt. Niemand, den ich kenne, kann nicht lesen." Sacht hob er den Kopf und starrte eine Weile in die Luft. "Kannst du das?" fragte er schließlich.

"Natürlich", antwortete Legolas sofort. Doch auf einmal gewann er den Eindruck, daß die letzte Frage nicht für ihn gedacht war, und schaute sich unbehaglich um. Besonders studierte er den Fleck an der Wand, welcher Inuel so faszinierte. Nichts außer der Höhe war eigenartig: Hätte eine Person auf der Kiste gesessen, wäre dort ihr Gesicht gewesen. Unwillkürlich schüttelte sich Legolas bei dem Gedanken.

Seine Frage formte sich übergangslos und völlig unpassend: "Woher weißt du von Ankulan?"

Schweigend senkte sich der Kopf.

"Und von den Schriftrollen?" bohrte Legolas weiter.

"Jemand hat es mir erzählt." Ein undeutliches Murmeln, mehr nicht.

Leise, fast zaghaft, erkundigte sich Legolas: "Wer?"

Fast glaubte er, Inuel würde wieder nicht antworten, als er die durch Stoff und verborgene Tränen erstickten Worte vernahm: "Darf ich nicht sagen."

Legolas kannte die Antwort schon, als er fragte: "Wer hat dir das verboten?" Die hastig trocken gewischten Augen, welche ihn daraufhin ansahen, bestätigten seine Vermutung, und er hockte sich neben den Jungen, um ihm eine tröstende Hand auf die Schultern zu legen. Sie bat auch still um Verzeihung. "Kannst du wirklich … mit den Toten sprechen?"

Der Junge nickte ein Ja, auf beide Anfragen.

"Ich verstehe das nicht, Inuel. Sie dürften nicht hier sein. Warum ziehen ihre Seelen nicht zu Mandos' Hallen?"

Inuel runzelte die Stirn: "Wohin?"

"Das weißt du auch nicht?" Wieder einmal war seine Zunge schneller als sein Verstand, und er winkte schnell ab: "Schon gut, ich erkläre es dir. Es ist der Ort, wo die Seelen der Elben darauf warten, wiedergeboren zu werden. Sie sterben nämlich nie, auch nicht, wenn ein Elb seinen Körper aufgibt oder getötet wird."

"Ah", nickte Inuel und sah dann erneut zu dem Fleck an der Wand. Während er lauschte, legte er den Kopf schief, runzelte an einer Stelle die Stirn und nickte gelegentlich.

Legolas zappelte unruhig herum. Die ganze Szene kam ihm unheimlich vor, und er fragte sich, ob Celabons Seele womöglich zu seinen Ängsten auch ihren Teil beigetragen hatte. Endlich wandte sich Inuel ihm wieder zu.

"Celabon sagt, er würde gern gehen, aber er möchte so lange seine Pflicht ausüben, wie seine Freunde an diesem Ort weilen. Warum sie noch bleiben, weiß er selbst nicht. Aber er denkt, es könnte daran liegen, daß sie noch nicht sterben wollten, anders als er."

"Dafür hat er so lange gebraucht?" meinte Legolas unhöflich.

Inuel grinste: "Celabon hat nicht viel Gelegenheit, sich zu unterhalten."

Verständnisvoll blickte Legolas im Lager umher. "Das seh ich ein."

*******

Obwohl Celabon sicher weder die Wärme des Feuers noch die Weichheit der Matte spüren konnte, räkelte er sich genüßlich, und Inuel sah ihm lächelnd zu. Sie hatten – oder genauer gesagt, er hatte – die Seele des uralten Elben in die Haupthöhle eingeladen, wo es gemütlicher war. Celabon hatte nur kurz gezögert und schließlich mit der Bemerkung, daß bei diesem Wetter sicher niemand über den Seeweg käme, eingewilligt.

"Du hast also Ankulans Erinnerungen, ja?" fragte er jetzt.

"Ja."

"Alle?"

"Ich denke schon", antwortete Inuel mit gesenkter Stimme, um den lesenden Prinzen nicht zu stören.

Beide hatten so viele Schriftrollen wie möglich hergetragen, ohne die Kiste merklich zu leeren, und Legolas saß seit Stunden vertieft in die Lektüre. Inzwischen war die Nacht vorüber, welche Inuel selig durchgeschlafen hatte, und der neue Tag fast wieder vergangen, doch der Prinz hatte bisher scheinbar kein Auge zugetan und zeigte auch nicht das kleinste Anzeichen von Müdigkeit.

Vielleicht lag es daran, daß der düstere Regenhimmel ihnen jedes Zeitgefühl raubte und man nur gerade so Tag und Nacht auseinanderhalten konnte. Trotzdem konnte Inuel solche Lesewut nicht verstehen. Celabon hatte viel mit ihm geübt, und von dem ständigen Starren taten ihm bald die Augen weh, ganz zu schweigen von seinem Kopf. Außerdem schien er vieles vom Vortag längst wieder vergessen zu haben.

"Warum fragst du?"

Celabon schaute den Jungen ernst an. "Ankulan war sehr gelehrt und ein großer Dichter; er kannte die Alten Schriften und hat am liebsten Lieder und Gedichte verfaßt. Wenn du also seine Erinnerungen hast, wie kommt es dann –"

"– daß ich das nicht auch alles kann?" erriet Inuel den Gedanken. "Gute Frage."

"Es wäre möglich, daß dein Verstand einfach zu unordentlich ist, um die Informationen richtig zu verwerten", überlegte der Alte laut. "Vielleicht solltest du mal aufräumen."

"Aufräumen?" wiederholte der Junge skeptisch. "Wie soll denn das gehen?"

"Nun ja, das … das ist schwierig zu erklären, warte … ah", erhellte sich seine Miene. "Es ist wie das Lager da hinten."

"Ist das auch unordentlich?"

"Ist dir das nicht aufgefallen?"

"Ja schon, aber du hast doch alles gefunden."

Celabon lachte: "Nur, weil ich so viel Zeit hatte, mir die Plätze zu merken. Du zum Beispiel hättest alles ewig suchen müssen, nicht?" Aufmerksam nickte der Junge, und die Seele des Elben fuhr fort: "Aber wenn ich nun die Güter in Gruppen zusammengestellt hätte, je nach ihrer Art, und dann sämtliche Kisten beschriftet, und ordentlich gestapelt, so daß man überall leicht rankommt – besonders schnell an das Wichtigste – und schließlich in die Kisten einzelne Fächer gebaut hätte, um die Inhalte zu trennen … Weißt du, was ich meine?"

Inuel stellte sich das vor und nickte noch einmal. "Dann hätte jemand, der lesen kann, auch alles ganz leicht gefunden", folgerte er.

"Genau. Und deshalb mußt du so deinen Verstand aufräumen."

"Aber wie soll ich das machen? Es ist doch gar nichts in meinem Lager."

Gutmütig streckte Celabon eine Hand aus und hielt sie still über Inuels Kopf, als ihm einfiel, daß er den Jungen nicht berühren konnte. Er lächelte traurig. "Und genau da täuschst du dich, Kleiner. Es ist nur so, daß in deinem Verstand – deinem Lager, ja", er lachte kurz, "niemals Licht war. Alles Neue hast du einfach in die dunkle Höhle geworfen, weil du es nie wieder brauchtest, und jetzt ist da ein wüster Haufen, ungeordnet und unbeachtet, mit dem ältesten Wissen am tiefsten vergraben. Und Ankulans riesige Kiste hat da vermutlich gar nicht reingepaßt: Sie ist aufgesprungen und hat den Inhalt auf dem Haufen ausgeschüttet. Deshalb erinnerst du dich an meinen Namen, aber nicht ans Schreiben."

"Das verstehe ich nicht", gab Inuel zu.

"Naja, das neueste Wissen lag zuoberst und blieb auf dem Haufen, aber das ältere, was tief unten in der Kiste war, rutschte ganz weit nach hinten in die dunkelsten Ecken oder durch Schächte noch viel tiefer hinab, in andere Räume. Vielleicht war das Schreiben nicht mal drin in der Kiste."

"Wieso nicht?"

"Na ja", zögerte Celabon. "Du kannst doch Kochen, nicht wahr?" Er hatte den Jungen am Morgen dabei beobachtet. "Dabei mußt du dich nicht erst lange erinnern."

"Stimmt." Inuel fragte sich, warum er seine Kochkünste in dem Haufen immer so schnell fand, doch Celabon kam seiner Frage zuvor.

"Das kommt daher, weil du alles Wichtige praktisch in einem Regal vor der Höhle aufbewahrst. Kochen, zum Beispiel, aber auch Sprechen und solche Dinge. Nur ist für dich anscheinend nicht besonders viel dafür wichtig genug …", schweifte er ab.

Inuel unterbrach ihn nachdenklich: "Und du meinst, Ankulan hat das auch so gemacht? Und den ganzen Höhleninhalt hat er mir gegeben, aber das Schreiben lag im Regal? Wie schade …"

"Anscheinend hast du in deinem Regal auch das Nachdenken bewahrt", schmunzelte der Alte. "Trotzdem mußt du nicht traurig sein: Ankulans Erinnerungen umfassen auch das Erlernen seiner Fähigkeiten – du mußt sie nur finden. Außerdem hast du auch noch dein eigenes Lager, und wenn du es aufräumst, müßtest du dich zumindest schon einmal an das Alphabet bis zum N erinnern. Und das räumst du dann eben ins Regal."

Einen Moment lang senkte sich Schweigen über die Feuerstelle.

Schließlich blickte der Junge wieder auf: "Kannst du mir sagen, wie ich das anstellen soll?"

"Ja", lächelte Celabon, dann wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Neugierig wandte er den Kopf Legolas zu. "Sieht aus, als hätte dein Freund jetzt gefunden, wonach er suchte."

"Hm?" Inuel drehte sich ebenfalls zum Prinzen um und bemerkte eine leichte Blässe in dessen Gesicht. Hätte Legolas nicht die Augen so zusammengekniffen und die Kiefer hart aufeinandergepreßt, vielleicht hätte Inuel den seltsam verschwommenen Ausdruck in den eisblauen Augen dann für Schlafmangel gehalten. So aber ahnte er, daß der Inhalt der Schriftrolle für die Reaktion verantwortlich war.

"Stimmt was nicht?" fragte er den blonden Elben.

Die Antwort ließ zu lange auf sich warten: "Alles in Ordnung." Und die Stimme des Prinzen klang hohl.

Aus dem Augenwinkel sah Inuel selbst die Seele des Alten aufhorchen.

"So, dann", begann der Junge wie nebensächlich, "hast du was Tolles entdeckt?" Mit größter Aufmerksamkeit zeichnete er eine symmetrisches Figur in den Staub und ließ sich auch von Celabons Kichern nicht verunsichern.

Legolas ließ die Schriftrolle langsam sinken und starrte seinen Gefährten an. "Wie kommst du darauf?" Aber es war nicht die Frage, die er hatte stellen wollen, und er sah, daß Inuel das wußte. Seit dem Vortag fragte sich der Prinz ständig, ob Inuel von sich aus oder für die Seele Celabons sprach. Er wußte auch, daß er den Jungen mit diesem Verdacht verletzte, wenngleich dieser es sich nur selten anmerken ließ.

Trotzdem konnte er sich nicht dagegen wehren; er hielt nun einmal den ungebildeten Elben für nicht besonders klug, und manches was er tat oder sagte schien Legolas bei einem Herumstreicher wie Inuel einfach fehl am Platze. Noch hatte er die Sache allerdings nicht zur Sprache gebracht, und Inuel hatte die stille Frage nie beantwortet.

"Du ziehst so ein komisches Gesicht", zuckte Inuel die Schultern, senkte aber seinen Blick zu seinem Bild. Ich brauche niemanden, der mich darauf hinweist. Aber nicht einmal das traust du mir zu, nicht wahr? Und du würdest mir nicht glauben. Deshalb werde ich erst antworten, wenn du nicht mehr zu fragen brauchst.

Noch ehe Inuel wieder zu ihm aufschaute, hatte Legolas seine gewohnte, stoische Maske wieder aufgesetzt. Äußerlich so gefaßt, wunderte er sich innerlich dennoch, was an seiner Haltung Inuel wohl alarmiert hatte … oder Celabon. Wie dem auch sei, bevor der unsichtbare Elb noch auf die Idee kam, ihm über die Schulter zu schauen (was, in der Tat, Celabon gerade vorhatte), beschloß er, den Fund mit seinem Begleiter zu teilen.

"Ich denke, das hier ist die letzte Schriftrolle", erklärte er. "Zumindest von denen, die hier sind; und ich nehme an, daß die jüngsten Texte am weitesten oben liegen. Diese hier wurde vor 304 Jahren geschrieben." Legolas räusperte sich, anschließend las er den Text vor.

~~

Seltsame Dinge geschehen in diesen Zeiten. Noch vor einem halben Mond schrie das Volk lauter denn je nach einem Abzug gen West, doch die unerwartete Ankunft des Sohnes von Thranduil änderte vieles. Seit meinem letzten Besuch in Düsterwald fand niemals eine Nachricht vom einen zum anderen, und plötzlich erscheint der Jüngling Legolas um die Mittagsstunde in unserer bescheidenen Siedlung.

Als Botschafter ward er ausgesandt, und keine angenehmen Neuigkeiten befördert er zu uns. Im Ostland nehmen die Unruhen zu, von Süden erheben sich neue Gefahren, unbekanntes Gesindel breitet sich im Düsterwald aus und das nahe Volk der Zwerge unternimmt beständig verdächtige Streifzüge in offensichtlich unrentable Gebiete.

Von allen Seiten wächst die Bedrohung, und in den ersten Tagen verlangten viele Stimmen nach einem Aufbruch. Nicht wenige folgten dem großen Teil unseres Volkes, welcher schon im letzten Frühling die westlichen Pfade beschritt. Selbst mich verlangt es dorthin, doch noch gibt es hier viele Elben, die ihre liebgewonnene Heimat nicht aufgeben mögen, und es fällt mir zu, für diese zu sorgen, denn die meisten von ihnen sind jung und unerfahren.

Einige von ihnen sprachen plötzlich über einen Kriegszug gen Ost, zumal Legolas unter anderem die Bitte mit sich brachte, ein Bündnis unserer Heere zu gewähren. Ich mußte lachen darüber: Welches Heer? Die Erfahrenen sind weg, und die Jungen haben niemals ein Schlachtfeld auch nur gesehen. Dennoch brennt ihr Blut heiß und verlangt nach Abenteuern.

Unverständnis breitet sich über meine Gedanken, wenn ich ihre Handlungen betrachte und ihren Reden lausche. Sie klingen wie Menschen; sehnen sich nach Kampf, nach Bewährung und Ruhm. Sie wollen es den alten Königen gleichtun, und doch wissen sie nichts über deren Beweggründe. Es kommt mir vor, als würde langsam ihr Verstand vergiftet.

Und es wundert mich, daß Rumucan schweigt. In ihm brennt das Feuer am heißesten, doch seine Stimme dringt nicht an mein Ohr.

~~

Legolas hielt inne und starrte eine Weile auf das vergilbte Papier.

"War das schon alles?" wollte Inuel wissen.

"Hm?" Aufgeschreckt sah der Prinz zu ihm hinüber. "Nein, es geht noch weiter. Aber der nächste Eintrag wurde wohl einige Zeit später verfaßt." Und er fuhr fort.

~~

Bald darauf legten sich die Rufe und scheinbar auch die Gemüter. Von da an verbrachte ich viel Zeit mit Legolas, und so widerfuhr mir Überraschung um Überraschung. Schon seit seiner Ankunft wunderte ich mich über die Einsamkeit des jungen Elben, und erst jetzt erfuhr ich von dem schmerzlichen Verlust seines Bruders Osuldar.

Möglicherweise erklärt das all die Veränderungen in dem sanften Kind, welches ich vor so langer Zeit kennenlernte. Unzertrennlich wie zwei Seiten einer Münzen waren die Zwillinge Thranduils, und wie die Münze glichen sie einander perfekt aus. Ohne sein Gegenstück mußte Legolas lernen, diesen Ausgleich allein herbeizuführen.

Er ist ein starker und williger Kämpfer geworden. Alle Elben überwältigte er beim Training mühelos, gleich in welcher Disziplin – selbst Rumucan, der Stärkste und Geschickteste unter ihnen, mußte sich dem blonden Jüngling schließlich beugen. Erstaunlicherweise neidet ihm unser aufbrausender Held nichts, sondern wählte ausgerechnet den viel jüngeren Fremden zum Freund. Nun ist es meine Hoffnung, daß Legolas' sanftes Gemüt das Feuer in Rumucan ein wenig zügelt.

Doch auch dieses Gemüt sorgt mich. Keine Spur der offenen Freundlichkeit scheint mehr in seinen leuchtenden Augen; vielmehr funkeln sie jetzt wie die Eiskristalle des hohen Nordens, glasklar und tief und abgeschieden. Als hätte der Junge mit seinem Bruder auch alle Wärme, alles Vertrauen in die Welt verloren.

Um so verwunderter stellte ich fest, daß er die Herzen des Stammes im Sturm eroberte. So tief auch seine eigene Seele verschüttet sein mag, er findet sehr leicht Kontakt zu denen anderer. Auf beeindruckende Weise versöhnte er sogar die verfeindeten Lager, und für einen seligen Mond herrschte Einigkeit und Frieden in meinem Stamm.

Oft überlege ich jetzt, ob es möglich ist, daß Baladia tatsächlich die Wahrheit sprach. Nur so kann ich mir die Fähigkeit des Jungen erklären. "Ein Bote des Lichts wird erscheinen, doch wird er auch sein Gegenstück mitführen, und dieses wird sich der Dunkelheit zuwenden." Stimmt ihre Vorhersage, ist Legolas zweifellos der Bote des Lichts.

Das hieße jedoch, Osuldar wäre für die Finsternis bestimmt gewesen. Viele Jahrtausende unter dem Schatten des Bösen lehrten mich, es niemals zu unterschätzen. Unter keinen Umständen hätte diese Macht eine so wichtige Person in ihrer Jugend sterben lassen. Mich quält die Frage, was tatsächlich aus Osuldar wurde – seine sterbliche Hülle wurde laut Legolas niemals gefunden, vermutlich den ganzen Fluß hinunter bis zum Meer von Rhûn getragen. In die östlichen Reiche.

Vielleicht hätte ich den Prinzen vor seiner Abreise warnen sollen.

Mit seinem Fortgehen glaubte ich den neuen Frieden schnell zerstört, doch seither sind drei Tage vergangen, und weder Rumucan noch einer seiner Gefolgsleute geben auch nur einen Laut der Unzufriedenheit von sich. Sie verrichten ihre Arbeit still und ruhig.

Diese Ruhe ängstigt mich. Sie klingt wie das Meer vor der Sturmflut.

~~

Das Schweigen um die Feuerstelle dehnte sich scheinbar endlos aus. Irgendwann bemerkte Legolas, nur um die Stille zu durchbrechen: "Das ist alles."

"Scheint fast, als hätte Ankulan richtig gelauscht", murmelte Inuel nach einer Weile.

Legolas nickte. "Es ist irgendwie seltsam, das zu lesen."

"Weil du dabei warst?"

Mit gerunzelter Stirn schaute der Prinz auf und schüttelte leicht den Kopf. "Weil ich mich kaum daran erinnere. Nur verschwommene Bilder, Gesichter und viele Stimmen, die alle durcheinander sprechen." Er starrte wieder auf den Text. "Und doch war ich über einen Monat hier."

"Aber das ist schon ziemlich lange her", erinnerte ihn Inuel. "Damals warst du, was – so alt wie ich jetzt? Ja?"

"So ungefähr", gab der Prinz zu.

Inuel rollte sich auf den Rücken und streckte sich genüßlich aus. "Du uralter, weiser, oh so erwachsener königlicher Elb magst das nicht mehr wissen," gähnte er belustigt, "aber in dem Alter schaut man nicht so auf Kleinigkeiten, glaub mir. Bestimmt erinnerst du dich noch deutlich an die Kämpfe. Und jetzt geh schlafen, und lauf bloß nicht wieder in irgendwelche dunklen Löcher."

Ungeachtet des guten Rates las Legolas einmal mehr die Rolle, ehe er sie schließlich schloß und auf den hohen Haufen gelesener Texte stapelte. Inuels Worte gingen ihm nicht aus dem Sinn, während auch er sich hinlegte und nachdenklich die funkelnde Decke musterte.

Die Kämpfe waren genau der Teil, den er vergessen hatte.

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A/N: Falls ihr euch wundert, warum Inuel in dem Namen das T lesen kann, das R aber nicht – ich gehe hier nach dem Cirth-Alphabet, welches ich irgendwo im Web aufgetrieben habe.

Da ich diesmal echt gemein war mit all den Andeutungen, die jeder anders auslegen kann und vermutlich wird, rechne ich erneut mit einem riesigen Fragenschwall. *in vorfreude schwelg* Aber ihr bekommt vielleicht etwas zu häufig die Antwort: "Verrat ich (noch) nicht, ätsch!" *fiesgrins*

Eure Mel

P.S.: Mein ursprünglich "letztes" Kapitel umfaßt beinahe zwanzig Seiten. Das war mir dann doch zuviel; also werde ich es noch einmal in zwei oder gar drei aufsplitten. Nur damit ihr nach dem nächsten nicht denkt, es wäre schon zu Ende, weil ich anfangs nur von sieben sprach. ^^"