A/N: *seufz* Ich warn euch gleich, allzu erfolgreich war ich mit dem Umschreiben vermutlich nicht. Vielleicht ist es ein wenig düsterer, aber verständlicher? Das müßt ihr wohl selbst entscheiden. (Ja ja, ich weiß, man kann nicht zweimal zum gleichen Kapitel reviewen, aber ihr kennt ja meine Mailadresse. ^.~) Zwei kleine Szenen habe ich eingefügt, die vorher nicht dabei waren. Ansonsten nur hier und da umformuliert. Daher bin ich keinem böse, der meint, das nochmal zu lesen müsse nicht sein. *nick* Ging mir nämlich beim Korrekturlesen genauso. ^^"
Disclaimer: Tolkien legte das Aussehen fest, ich fügte Gefühl hinzu. Ist doch fair, oder?
Rating: PG-13 (für Verletzungen – ähm, und ob es hier Andeutungen gibt, überlaß ich eurer Phantasie ^.~)
___________________
Früchte der Furcht
Kapitel Neun
Nach einer Weile änderte sich das Schweigen, und die Stimmung des Triumphes wich einer Haltung von Ehrfurcht. Schwere, träge Schritte, wie von einer uralten, lange lebensmüden Person näherten sich langsam. Inuel lag am Boden mit geschlossenen Augen, um den Anblick seines toten Freundes nicht sehen zu müssen, doch als die Schritte an seiner Seite innehielten, übermannte ihn die Neugier, und er öffnete die Lider.
Zuerst erblickte er Legolas' Kopf, mit dem selben Lächeln wie zuvor, welches gleichsam festgefroren auf seinen Lippen lag. Zu seiner Überraschung saß der Kopf noch fest am Körper, und die Axt steckte dicht vor seinem Hals tief im festen Boden. Nur aus einem winzigen, unbedeutenden Kratzer floß ein einzelner Tropfen Blut.
Plötzlich drehte sich seine Welt, als eine alte, wenngleich sehr kräftige Hand Inuels Hemd über der Brust packte und ihn ruckhaft herum riß, wobei der Zwergengreis gleichzeitig seinen Oberkörper aufwärts zog. Dabei kam sein runzliges, ledernes Gesicht dem Jungen immer näher, und Inuel konnte in dem sicheren Griff nicht zurückweichen. Die tiefschwarzen Augen schienen ihn zu verschlingen, und der stohgelbe, strubbelige Bart mit seinen zwei geflochtenen Strähnen kitzelte sein Kinn. Außerdem stank der Zwerg beachtlich.
Seines Wissens hatte Inuel noch niemals einen Zwerg aus der Nähe gesehen, doch der penetrante Geruch zerrte eine lange verschüttete, verschwommene Erinnerung vor sein geistiges Auge. Sie überlagerte das Antlitz des Greisen mit einem anderen bärtigen Gesicht, jünger und faltenlos, aber mit dem gleichen struppigen Bart, wenn auch etwas dunkler und viel kürzer. Inuel sah kleine Hände nach den Zöpfen grapschen und neigte seinen Kopf seitwärts, halb verstört und halb ängstlich, aber hauptsächlich neugierig. Ohne sein Zutun hoben sich seine Hände, als die Erinnerung und die Gegenwart ineinanderflossen, und er zupfte prüfend an den geflochtenen Strähnen, um festzustellen, ob sie echt waren oder angeklebt.
Die Lippen des Zwerges verzogen sich zu einem warmen Lächeln, was den Bann brach, denn das Gesicht aus Inuels Erinnerung hatte nie gelächelt. Erschrocken ließ er den Bart los und starrte den Alten furchtsam an; der aber ließ vom Hemd des Jungen ab und umfaßte andächtig die größeren Hände.
"Du bist es wirklich", murmelte er in klarem Sindarin. Ohne Vorwarnung legte er Inuel seine Pranken auf die Schultern und zerrte den noch sitzenden Elben in eine enge Umarmung.
Nicht nur die unheimliche Geste dieses Feindes, sondern vor allem der intensive Geruch überwältigte den Jungen, und angeekelt schob er den Zwerg respektlos von sich. "Bäh", machte er kindisch. Dann wandte er sich zu Legolas um und bemerkte den entsetzten Ausdruck in dessen Augen, wodurch ihm erst klar wurde, was er gerade getan hatte. Was überhaupt gerade geschehen war. Der Zwerg hat gesagt …
"Ja, du bist es wirklich!" wiederholte der Greis laut lachend. "Das hätte ich nicht zu träumen gewagt."
Furchtsam blinzelte der Junge den noch immer grinsenden Zwerg an. "Wer soll ich sein?"
Bei der ernsten Frage wich die Belustigung aus dem greisen Gesicht und wurde durch leichte Verwirrung ersetzt: "Das weißt du nicht? Du bist doch von hier, oder?"
"Wir kommen aus Düsterwald", schüttelte Inuel den Kopf und begann zögernd, die Kette des Morgensterns von seinen Knöcheln zu lösen.
Der Zwerg strich sich nachdenklich über den Bart. "Den Fluß runter", murmelte er schließlich hinein. "Dann ist alles verloren. Und ich hatte schon geglaubt, sie hätten – he!"
Während der Greis seinen Gedanken nachhing, hatte Inuel sich befreit und war aufgesprungen, um an Legolas' Seite zu rennen. Doch auf halbem Weg versperrten ihm drei immer noch wütende Zwerge mit erhobenen Waffen den Weg, und wegen der übrigen, die pausenlos ein Adlerauge auf den gelähmten Krieger warfen, gab es offensichtlich kein Vorbeikommen an der Blockade. Beim Ausruf des ältesten Zwergen drehte ihm Inuel ärgerlich den Kopf zu.
"Was wollt ihr noch von ihm; er ist doch schon halb tot!"
"Was für ein Unsinn!" erwiderte der Zwerg schroff. "Der Elb hat ja kaum einen Kratzer abgekriegt. Meine Familie dagegen …"
Acht Gefährten waren verloren, vier gestürzt durch Pfeile in Hals oder Kopf, sein Sohn Thóben hatte den Kopf diesmal wortwörtlich verloren, und die anderen drei waren unter den ersten Opfern, verblutet im Verlaufe der Schlacht. Taben, ihr Heiler nach seinen Fähigkeiten, hatte den rechten Arm eingebüßt und hielt sich mühsam aufrecht, um den weniger stark Verletzten Anweisungen zu geben, wie sie die Pfeile aus den Hälsen der Zwillinge und Thanns zu entfernen hatten, ohne daß die Zwerge verbluteten. Auch um Kemmens verlorenes Bein kümmerte er sich, nachdem seine eigene Schulter notdürftig behandelt war. Die wenigen noch halbwegs heilen Zwerge bewachten den blonden Krieger.
"Und was ist mit dem Gift?" fragte Inuel kleinlaut nach.
Mißmutig winkte der Zwerg ab. "Lähmt bloß eine Weile."
"Warum lassen sie mich dann nicht zu meinem Fr–" Unerwartet blieb dem Jungen das Wort im Hals stecken, also ersetzte er es eilig: "Begleiter?"
Eine Weile beäugte der Zwerg den schlaksigen Kleinen aufmerksam, ehe er schwer seufzte. "Wird wohl nichts schaden. Womöglich kannst du ja sein heißes Blut beruhigen." Damit nickte er den blockierenden Zwergen zu, welche grummelnd den Weg freigaben.
Inuel setzte sich vorsichtig in Bewegung. Als er zwischen den Kleineren hindurch trat, wirbelte sein Kopf mißtrauisch von einer Seite zur anderen, bis er sich hinter den Prinzen kniete, dessen Oberkörper er gedankenlos anhob und wie ein Schild an seine Brust drückte. Argwöhnisch ließ er den Blick über die nahen, bedrohlich schnaufenden und murmelnden Zwerge schweifen, ehe er seinem Freund ins Gesicht sah.
"Wirst du sterben, Legolas?" wisperte er ängstlich.
"Nnnn", kam ein undeutlicher Ton zurück. Seine klaren, beruhigenden Augen verrieten dem Jungen mehr.
Inuel atmete erleichtert auf. "Dann bist du soweit in Ordnung?"
"Mm hmm."
"Tut dir was weh?"
Die blauen Augen rollten demonstrativ himmelwärts.
"Ja, schon gut … dumme Frage", sah Inuel ein. Suchend schaute er sich um und entdeckte den Greis keine vier Schritt neben ihm. "Bist du sicher, daß er sich bald wieder bewegen kann?"
"Hnnnl!" ermahnte ihn ein strenger Laut des Prinzen.
Daraufhin flüsterte der Junge, ohne seinen Blick von dem alten Zwerg abzuwenden: "Er scheint nicht böse zu sein, Legolas. Sonst wären wir beide jetzt tot, oder? Vielleicht hilft er dir ja."
"Nur keine Sorge, Kleiner", kam der Greis näher und klopfte ihm auf die Schulter, "die Starre klingt schnell ab. Allerdings bin ich gar nicht sicher, ob das so hilfreich sein wird." Betroffen überflog den Rest seiner Familie. "Dein Freund hat uns ganz schön zugesetzt."
"Ihr hättet ihn eben nicht angreifen sollen", zuckte Inuel gleichgültig die Schultern. Er bemerkte nicht, wie der Prinz reuig die Augen schloß.
Der Greis fuhr herum: "Wir ihn?"
Augenblicklich legte sich Inuels Stirn in Falten, und er starrte den Schlaf vortäuschenden Prinzen an. "Du hast es versprochen, verdammt!"
Zaghaft öffneten sich die Lider. Aus den hellblauen Tiefen begegnete Inuel – verstärkt durch das eingefrorene Lächeln – ein schelmisches Funkeln, das gleichzeitig den Fehler einsah und hoffend um Verzeihung bat.
Seufzend schüttelte Inuel den Kopf. "Du bist unmöglich." Aber er drückte nachgiebig Legolas' Schulter.
"Hhff", zuckte der Prinz zusammen.
Um ein Haar hätte Inuel ihn fallen lassen. "Oh! Tut mir leid." Jetzt war es an ihm, sich zu entschuldigen: "Ich … ich wollte nicht …" Er stockte, als Legolas' Finger sich in den Stoff seiner Hose krallten.
"Hnnnl …" Das ewige Lächeln maskierte die Ernsthaftigkeit der Situation, doch die Stimme des Prinzen klang verständnisvoll, nicht ärgerlich. Eher ein wenig schicksalsergeben. Mühsam versuchte er, die Zunge zu bewegen, und brachte hervor: "Dh bisd nnmmglich!"
Neben ihm erklang ein seltsam verhaltenes Glucksen, welches der Junge nicht sofort deuten konnte. Erst nach und nach begriff er, daß der Greis wohl nicht entscheiden konnte, ob er sich dem Humor der Situation hingeben oder seine ernste Miene beibehalten sollte. Mit beiden Händen unterdrückte er das aufkeimende Lachen. Indessen benötigte Inuel einen Moment, um den Satz zu übersetzen. Als er die Worte erkannte, verfärbten sich seine Wangen dunkelrot. "Entschuldige", murmelte er.
Die amüsierten Augen des blonden Elb wanderten am Gesicht seines Freundes vorbei zu dem Greis, bei dessen Anblick sie einen fragenden Ausdruck annahmen.
Widerwillig starrte der Zwerg zurück. Zwar erkannte er die Frage, weigerte sich aber stur, gerade dieses Thema mit einem ihm fremden Elben zu erörtern, der seine Familie obendrein auf einen ungerechtfertigten Verdacht hin ohne Vorwarnung angegriffen hatte. Außerdem hatte er eben erfahren, daß der Blonde nicht einmal aus dieser Gegend stammte und daher kein Recht hatte, sich in die Angelegenheit einzumischen.
Die Ursache des Schweigens erratend, ließ der Elb seinen Blick zurück zu dem jüngeren wandern, wobei er eine Bitte oder Forderung hineinlegte.
Natürlich, der Junge hatte alles Recht der Welt, eine Antwort zu erhalten. Wenn er die Frage äußerte, würde der Zwerg ihm alles erzählen. Dazu war er schließlich hier. Nur würde er den Kleinen vorzugsweise allein sprechen. Erwartungsvoll beobachtete er, wie der Junge in die hellblauen Augen seines Freundes schaute. Die Aufforderung darin schien er komplett zu übersehen.
Der Zwerg seufzte. Wie es aussah, würde der Junge wohl doch nicht fragen. Offensichtlich waren ihm die merkwürdigen Umstände völlig gleichgültig, und wenn die Geschichte heute noch erzählt werden sollte, würde er letztendlich wohl doch selbst beginnen müssen. Krieger hin oder her. Er räusperte sich.
"Am besten stelle ich uns erst einmal vor", entschied er mürrisch. "Mein Name ist Thromm, und der Haufen da meine Familie … nun, was davon übrig ist. Wir sind aus den Grauen Bergen." Nach einer Pause fügte er hinzu: "Verbannt."
Legolas ließ seinen Blick über die lange zerstörte Siedlung schweifen und eine Weile auf Inuel haften, ehe er eine weitere stumme Frage an Thromm richtete. Warum? Warum seid ihr hierher gekommen? Wolltet ihr die Elben überfallen? Sie hätten euch mühelos überwunden … Oder wußtet ihr von ihrer Vernichtung? Und wenn ja, was wollt ihr dann hier? Und wer ist Inuel? Obwohl sich seit dem merkwürdigen Verhalten des Greises bereits ein leiser Verdacht im flinken Verstand des Prinzen ausbreitete.
"Das ist eine ziemlich lange Geschichte", warnte Thromm müde.
Beide Elben senkten ihren Blick kurz zum reglosen Körper des Prinzen und schauten dann, mit exakt der gleichen spöttischen Miene, in die schwarzen Augen des Zwerges. Wir gehen nicht weg.
"Na gut", nickte der Alte. "Aber in der Zwischenzeit … Taben!"
Der jetzt Einarmige trottete über den Platz zu den Elben, hielt sich aber umsichtig einige Schritte vom Krieger fern. "Ja?"
"Alle soweit versorgt?" Als der Heiler ihm zunickte, zeigte Thromm auf den blonden Elben: "Kannst du für den da auch was tun?"
In völligem Unglauben stierten seine Kohleaugen so weit aus ihren Höhlen, daß man befürchten konnte, sie würden aus dem Kopf springen. Er musterte den Gelähmten, dessen Verschonung ihm gegen den Strich ging, und bewegte seinen Arm, als wollte er ihn mit dem anderen verschränken. Zu spät fiel ihm ein, daß er nur noch einen besaß, und die Haltung wirkte bestenfalls peinlich.
Sein Blick wurde sowohl von Legolas als auch von dem Jungen gespiegelt. Inuel erinnerte sich deutlich an den Messerstich und zog beschützend seinen Freund näher an sich, während er sich selbst etwas vorbeugte, um notfalls einem Angriff zu begegnen. "Legolas ist selbst ein Heiler", lehnte er den Vorschlag ab.
Thromm wandte sich ihm zu: "Aber er kann sich nicht bewegen, noch eine Weile."
"Wenn er wieder sprechen kann, sagt er mir, was ich machen soll." Inuels Stimme klang fest und ließ keinen Widerspruch zu.
"Womit willst du ihn heilen?"
"Ich … wie, womit … oh", stammelte der Junge, als ihm einfiel, daß beide Rucksäcke noch auf dem Weg lagen. Automatisch sah er in diese Richtung, und ehe er sich noch entschied, was zu sagen und zu tun war, durchschaute Thromm seine Gedanken.
"Ach, ist da euer Gepäck? In Ordnung. Taben, du brauchst dich also nicht zu bemühen, aber schick jemanden, die Sachen zu holen. Inzwischen", wandte er sich wieder an die Elben, "möchte ich beichten."
Legolas' Brauen zogen sich in dunkler Erwartung zusammen, während Inuel schweigend über das letzte Wort grübelte. Da es allerdings so aussah, als würde er dessen Bedeutung bald erfahren, entspannte er sich ein wenig und wartete darauf, daß der Greis begann. Geschichten hatte er immer gern gehört.
"Nur wenige Zwerge werden so alt wie ich", begann Thromm offenbar am falschen Ende seiner Erzählung. "Die meisten sterben in Schlachten oder durch den immerwährenden Hunger, wo ich herkomme. Was mich so lange aufrecht erhielt, war Reue ob meiner großen Schuld, und die Hoffnung auf Vergebung. Doch alle Hoffnung wurde mit der Vernichtung dieser Siedlung … zerstört." Das letzte Wort äußerte er wie einen Klagelaut an eines Freundes Totenbett.
"Als ich diese Schuld auf mich lud", fuhr er fester fort, "war ich noch jung. Tatsächlich der jüngste in der ganzen Gruppe, und wir waren viele. Achtzig der besten Krieger, aus den Graubergen zum Rauben entsandt. Ich erinnere mich deutlich: Der Winter war bereits ganz nahe, und in den Bergen herrschte schon seit Tagen Frost. Unser Volk hatte in den Monaten davor kaum noch Nahrung erhalten, und viele der Schmiede wurden so schwach, daß sie nicht mehr richtig arbeiten konnten. Der Handel wurde schlechter durch die umgehenden Gefahren. In jenen Tagen berichteten Kundschafter von diesem Tal, seiner Fülle und den reichen Bewohnern."
Ein bekümmerter Ausdruck legte sich auf Thromms Züge, als er leise gestand: "Der Regent hat nicht einen Gedanken an Handel verschwendet. Die Elben waren ihm zuwider, und es wäre ihm nur recht gewesen, wären bei dem Raubzug alle umgekommen. Aber sie waren stark; anders als wir gut genährt, und sie kannten sich hier aus. Sie haben hart gekämpft, um jede einzelne Frucht." Thromm schwieg kurz und betrachtete Legolas. "Nicht so hart wie du allerdings", fügte er respektvoll hinzu.
Dann wich dieser Respekt einem anderen, für eine andere Person: "Wie er hieß, ihr Anführer, das weiß ich nicht. Aber er war gut. Ja, verdammt gut. Hatte uns schon in der Ebene ausgemacht und seinen Stamm gut vorbereitet. Oh, sie begrüßten uns freundlich, doch als wir unsere Äxte zogen, fielen die ersten drei Dutzend noch ehe sie ihren Kampfschrei beendet hatten. Mein Vater, meine Vettern … selbst meine Brüder, und ich habe nur überlebt, weil einer von ihnen mich schützte." Die traurige Erinnerung übermannte ihn einen Moment. "Wir hatten keine Chance."
Mit einem schiefen Lächeln fuhr er fort: "Aber im Kriegswahn erkennt man so etwas meist zu spät, also schlugen wir uns erbittert durch ihre Reihen, obgleich beinahe die Hälfte unserer Gruppe schon gefallen war. Diese Hütte dort", er deutete auf Ankulans zerstörte Behausung, "haben sie am stärksten verteidigt. Dakrem, der bei uns den Befehl übernahm, glaubte, sie versteckten darin einen wertvollen Schatz. Wie ein Wahnsinniger schlug er auf die Elben ein und schickte mich los, den Schatz heimlich zu stehlen, um ihn vielleicht später gegen Nahrung zu tauschen, oder woanders welche zu kaufen wenn nötig …"
Inuel war völlig in die Geschichte versunken und wartete geduldig auf den Fortgang, doch als sich Thromms Schweigen in die Länge zog, fragte Legolas mit klarer Stimme: "Hast du ihn gefunden?"
"Oh", schrak der Greis zusammen, "schau wer wieder reden kann. Und eure Sachen sind auch schon da." Gerade wurden die Rucksäcke neben ihnen abgeladen, doch weder der Junge noch Legolas machten Anstalten, sie zu nutzen. "Gefunden?" wiederholte Thromm leise. "Nun, ich habe gesucht … kam mir vor wie eine Ewigkeit, und nein, ich habe nichts gefunden. Draußen eskalierte der Kampf, und jemand hackte wohl mehr oder weniger versehentlich die Stützbalken der Hütte durch – mir fiel buchstäblich die Decke auf den Kopf."
Erneut schweifte sein Blick auf die Trümmer: "Sah fast so aus wie jetzt. Ich war kurz benommen, und stützte mich beim Aufstehen auf irgendeine Kiste, oder was ich dafür hielt. Gerade da schrie einer der Elben 'Neiiin!', mit solch entsetzter Lautstärke, daß es mir durch Mark und Bein fuhr. Ich blickte auf, über die Balken und Bretter ihrem Anführer ins Gesicht, und er starrte direkt zu mir zurück, ohne auf die Gegner zu achten, die ihn zu halten versuchten. Es schien, als bliebe die Zeit stehen, als alle – Elben wie Zwerge – für einen Augenblick innehielten und in unsere Ecke stierten. Bei Mahal, mir schlotterten die Knie vor Angst."
Thromm senkte den Blick und betrachtete seine rauhen Hände. "Erst da erkannte ich, woran ich mich festhielt."
"Es war eine Wiege", vermutete Legolas mit einiger Gewißheit, woraufhin der Greis nickte.
"Eine Kinderwiege, und ein Elbenkind lag darin. Kein Neugeborenes mehr, aber doch noch zu jung, um Angst zu haben. Das Kind des Anführers." Hier blickte Thromm dem Jungen direkt in die Augen. Da er darin kein Verständnis entdeckte, anders als bei dem älteren, blonden Elben, erzählte er schwermütig weiter.
"Wir hätten nie daran gedacht, wenn nicht … der Vater, er hat es falsch verstanden. Er dachte wohl …" Der Zwerg hielt inne, seine Schultern sanken. "Er rief: 'Ihr dürft ihn mir nicht wegnehmen! Hört auf!' Damit brachte er Dakrem erst auf die Idee, und der befahl mir, den Jungen zu nehmen und zu verschwinden." Thromm betrachtete nachdenklich seine Familie. "Ich war noch jung, hatte selbst keine Kinder, und verstand nichts von dem Schmerz … Ich nahm ihn, samt Wiege, und verschwand."
"Ihr dürft ihn mir nicht wegnehmen", murmelte Inuel verstört vor sich hin.
Schwerfällig hob Legolas den rechten Arm und ergriff Inuels Hand, welche sich weiß in sein Hemd krallte. Seine längst entspannten Züge formten ein neues Lächeln, jedoch vergeblich, denn Inuel sah ihn nicht an.
"Das war vor fast sechshundert Jahren", seufzte Thromm erschöpft. "Aber der Anblick dieses Elben mit seinen langen, nachtschwarzen Haaren und dem zarten Gesicht hat sich mir ins Gehirn gebrannt. Er wirkte gar nicht wie ein Krieger, aber ich will verdammt sein, wenn er nicht persönlich die meisten Zwerge erschlagen hat, dort vor seiner Hütte." Thromm schüttelte den Kopf. "Jede Nacht verfolgt mich noch sein verzweifelter Schrei."
"M-m-mein …" stotterte Inuel fast tonlos.
"Noch habe ich den Blick des Kindes vergessen. Riesige, hellgrüne Augen, die wie Feuer brannten und mich anstarrten, als könnten sie direkt durchs Fleisch hindurch ins tiefste Innere schauen. Es war gruselig, die wenigen Tage, die ich mich um den Jungen kümmern mußte. Er hatte keine Angst." Thromm grinste Inuel an: "Aber Junge, hatte ich eine Angst vor dir."
"Mir? Ich … aber … Düst… wie …" stammelte der Junge verwirrt.
Der Greis verstand die Frage. "Tagelanger Regen", antwortete er knapp. "Eigentlich war es gut für uns, weil die Elben uns nicht folgten. Aber wir gingen am Fluß entlang. Sehr dicht am Fluß."
"Daher", murmelte Legolas nachdenklich dazwischen.
"Die Flut aus den Bergen hat uns völlig überrascht … mich vor allem, mit der ungewohnten Last. Bin mit Sack und Pack hinein gerutscht. Natürlich wollte ich überleben, und das Kind war mir sowieso unheimlich – also ließ ich los, und schwamm zum Ufer."
Jetzt zog auch Inuel die Verbindung: "Unter Wasser?"
"Die Wiege ist ein paarmal untergegangen", bestätigte Thromm. "Immer wieder aufgetaucht. Aber ich wußte nicht, ob der Kleine überlebt hat – bis heute. Der Regent geriet in Panik, als er das hörte. Fürchtete ihre Rache. Er hat uns alle tiefer in die Berge geholt, und mit gutem Grund, denn die Streifzüge der Elben richteten sich für Jahrhunderte fast ausnahmslos in unser Gebiet. Ich wollte später gern Frieden schließen, weil mein Gewissen mich quälte. Ich wollte mich dem Mann stellen, der mich nächtlich in meine Träume verfolgte."
"Warum hast du es nicht getan?" fragte Legolas.
Thromm lachte bitter: "Sie glaubten, ich würde sie verraten vor lauter Reue. Haben mich in dem Berg weggesperrt. Aber jetzt … der Regent ist tot, genauso wie die wenigen, die das Gemetzel überlebt hatten. Heute erinnert sich kaum noch jemand daran, und sie haben mich gehen lassen. Nur zurückkommen darf keiner von uns. Mein Leben nähert sich dem Ende, und ich möchte diese Last nicht ungesagt mit mir nehmen. Meine Familie kam nur mir zuliebe mit. Damit ich – vielleicht – ehrenvoll sterben kann."
Plötzlich verstand der Elbenprinz: "Ihr habt erwartet, hier in einen Kampf zu geraten."
"Das ist wahr", gab Thromm zu und erhob sich. "Aber wir hatten gehofft, zumindest vorher eine Chance zum Reden zu erhalten. Mit Rachedurst hatte ich gerechnet, aber nicht mit einem feigen Hinterhalt. Der Angriff hat mich … enttäuscht."
"Deswegen habt ihr so erbittert gekämpft … ihr wolltet –"
"Wir wollten nur lange genug überleben, um ein Gespräch zu beginnen. Meinen Tod, und sei es durch Verurteilung, hatte ich akzeptiert. Doch meine Familie wollte ich fortschicken. Daß mir am Ende so viele vorangehen, hätte ich nie für möglich gehalten. Nein … Immerhin waren wir doch zu Elben unterwegs. Elben … Elben tun doch sowas nicht. Ich dachte immer … Elben …" Kopfschüttelnd schlurfte der Greis zu seiner Sippe zurück und überließ die beiden Elben ihren Gedanken.
"Ein Zwerg mit Wertschätzung für … ahh", stöhnte Legolas auf, als er sich unvorsichtig bewegte.
Inuel schreckte aus seiner Grübelei und bemerkte das schmerzverzerrte Gesicht. "Warte", meinte er und beugte sich seitwärts, um den Rucksack seines Freundes näher zu ziehen. "Also gut, wo bist du verletzt?" Mißbilligend zupfte er an der vom Zwergenblut steifgewordenen Kleidung. "Oder sollte ich fragen, wo bist du nicht verletzt?"
"Du weißt es doch, oder?" lenkte Legolas ab.
"Ich hab nicht alles gesehen."
"Das meine ich nicht. Hast du", er verstärkte den Druck um Inuels Hand, "die Geschichte verstanden?"
Einen langen Moment zögerte der Junge, ehe er nickend bestätigte.
Mit einer Geste umfaßte Legolas die zerstörte Siedlung: "Solltest du dann nicht –"
"Das kann warten", unterbrach Inuel hastig und begann, das Hemd des Prinzen einhändig zu öffnen.
"Aber Ank–"
"Nein, wirklich, es kann noch warten!" Seine Finger bewegten sich schneller. "Zuerst die Wunden."
Legolas griff nach der Hand und stoppte sie. "Inuel."
Ein winziges Lächeln zuckte im Mundwinkel des Jungen. "Nicht mit den Zwergen hier", wisperte er.
Trotz gerunzelter Stirn gab der Prinz nach: "In Ordnung."
"Himmel, Legolas, hast du im Blut gebadet, oder was?" erkundigte sich Inuel gereizt, da die verkrusteten Bänder sich nicht öffnen ließen.
Mühsam setzte sich Legolas auf, bis der Junge ihn nicht mehr stützen mußte. "Laß mich das machen", verlangte er. "Pack schon mal die Kräutertasche aus." Als Inuel zögerte, ihn loszulassen, erklärte er grinsend: "Keine Sorge, ist nicht mein Blut."
"Hmph", machte der Junge und durchsuchte den Rucksack. Bis er fertig war, hatte der Prinz seinen Oberkörper entblößt, und Inuel schnappte bei dem Anblick scharf nach Luft. "Nicht deins? Und was ist das?" zeigte er auf einen Kreis aus sieben blutigen Punkten, einer in der Mitte, wo der Morgenstern Legolas an der linken Brusthälfte getroffen hatte.
"Nur ein paar Kratzer", meinte der Krieger und wischte die Wunde mit einem nassen Tuch ab. Tatsächlich begann die Haut bereits, sich zu schließen, und kein neues Blut trat hervor. "Tut nicht mal weh." Na ja, nicht sehr.
"Das sieht aber nicht so aus", berührte Inuel die geschwollene Stelle vorsichtig und sah den Prinz zusammenzucken. Vorwurfsvoll fuhr er ihn an: "Lügner! Was ist das für eine Beule?"
Legolas sah ihm nicht in die Augen. "Vielleicht eine Rippe gebrochen", murmelte er. Dann sah er Inuels Augenbraue ungläubig hochfahren, ganz wie seine eigene es immer tat. "Na gut, es sind drei, aber es ist wirklich nicht so tragisch, solange ich mich langsam bewege."
"Muß da was drauf?" fragte Inuel kopfschüttelnd und nahm dem Prinzen das Tuch ab, um damit das durchgesickerte Zwergenblut von den heilen Hautstellen zu waschen.
"Äh … wie?" Abgelenkt folgte Legolas den behutsamen, wohltuenden Kreisen des Lappens, als der Junge langsam auch die tieferen Bereiche seines Oberkörpers reinigte. So sehr er es auch versuchte, er konnte sich auf die ununterbrochene Rede einfach nicht konzentrieren. Schon spülte Inuel die Messerwunde aus, dann erreichte er den Hosenbund …
"Legolas!"
"Was?" schreckte er endlich aus seinen Gedanken.
"Schläfst du schon? Ich habe gefragt, ob ich das auch auswischen soll."
Verlegen rieb der Prinz eine Hand über sein Gesicht. "Hm?" Dann erkannte er, daß Inuel das obere Ende seiner ersten Verletzung entdeckt hatte, ein langer Schnitt, welcher sich von der Hüfte am Knochen entlang abwärts zog. "Nein!" rief er bestürzt und grapschte das Tuch. "Das mach ich selbst!"
"Ist ja schon gut", hob Inuel abwehrend die Hände, "von mir aus. Muß da nun was drauf oder nicht?"
Legolas' Geist arbeitete fieberhaft: Kann er wirklich so naiv sein und nicht merken, was mit mir los ist? Er gab dem Jungen irgendeine Anweisung, während er den Gedanken erwog. Ist er nur abgelenkt? Oder … Eine andere Möglichkeit präsentierte sich ihm: Vielleicht fühlt er nicht so. So … wie ich. Ein beißender Geruch unter seiner Nase verlangte seine Aufmerksamkeit.
"Ugh … was ist das?"
"Du hast gesagt, das blaue", verteidigte sich Inuel schmollend. Als der Prinz sich verwirrt durch die Haare fuhr, legte er das Päckchen zu Boden und runzelte die Stirn. "Hat dein Kopf auch was abgekriegt, Legolas?"
Legolas starrte den Jungen lange an und fing plötzlich unerwartet zu lachen an. Das kann man wohl so sagen, dachte er belustigt. Da hat mein Herz einen Pfeil durchgeschossen, und Junge, hat das aber meinen Verstand vernebelt!
"Nein, es ist alles in Ordnung damit", versicherte er Inuel fröhlich. Was soll's, wenn er nicht so fühlt wie ich? Seit wann mach ich mir über sowas Gedanken? "Gib mir das Pulver, es ist das richtige." Ihm reicht es, daß wir Freunde sind. Bewußt ignorierte er die argwöhnische Musterung, während er die dunkle Salbe zubereitete. Dann werde ich nicht mehr verlangen.
"Wofür ist das gut?" erkundigte sich der Junge neugierig, als Legolas die Salbe auf alle erreichbaren noch blutenden Stiche und Schnitte schmierte. Er kniete jetzt hinter dem Prinzen und rümpfte die Nase ob des Geruchs.
"Hält die Wunde sauber."
"Aha." Inuel speicherte die Information ab und beschäftigte sich weiter mit der Pfeilwunde in Legolas' Schulter. Schon seit Minuten wusch er sie aus, aber … "Es hört nicht auf zu bluten, Legolas", stellte er besorgt fest.
Die Schultern sanken.
"Ja", kam die ernste Antwort zurück, "ich weiß."
"Soll ich da auch Salbe drauf schmieren?"
Nach einer Pause erklärte Legolas niedergeschlagen: "Das bringt nichts. Das Blut würde sie sofort wieder auswaschen."
"Und wenn wir –"
"Wenn wir Stoff draufpressen, kommt es auf dasselbe raus: Die Salbe landet im Stoff, und die Wunde verdreckt noch mehr davon."
"Wir könnten sie ausbrennen."
Legolas und Inuel schauten überrascht zu Taben auf, der wie aus dem Nichts plötzlich neben ihnen stand. Mit einem glühenden Dolch in der Hand.
"Kommt nicht in Frage!" protestierte Inuel hitzig und zerrte den verletzten Rücken mit solcher Wucht an sich, daß der Prinz leise aufstöhnte. "Er wird von selbst gesund!"
Taben zuckte die heile Schulter und drehte sich weg. "Wie du meinst."
"Warte!" stoppte ihn der ältere Elb. Als der Heiler sich ihm zuwandte, studierte Legolas ihn aufmerksam. Er wirkte unwillig, aber aufrichtig und professionell. Neben dem blutverschmierten Wams, seinem verklebten Haar und schweißnassen Gesicht fielen die gründlich gesäuberten Hände auf wie der Mond in der Nacht. Auch die Klinge schimmerte reinlich, vermutlich noch durch die Hitze. Knapp hinter Taben erkannte der Prinz einen zweiten Zwerg, welcher die übrigen zum Ausbrennen benötigten Utensilien bereithielt. Der Heiler erweckte tatsächlich den Eindruck, helfen zu wollen.
Dennoch fragte Legolas mißtrauisch: "Auf einmal? Warum?"
"Du bedeutest deinem Freund eine Menge", antwortete der Zwerg knapp, als handelte es sich um die einleuchtendste Erklärung der Welt.
Verständnislos blinzelte der Elb ihn an.
Taben seufzte und holte etwas weiter aus: "Großvater hat ihm viel Unglück beschert. Das möchte er … wiedergutmachen. Wenn du der Weg bist", erneut hob er die unverletzte Schulter, "sei's drum."
"Meinetwegen muß das nicht sein", warf Inuel energisch dazwischen. "Nein, ehrlich, ich will lieber nicht, daß ihr ihm weh tut!" Fast unbewußt klammerte er sich dichter an den Verletzten.
"Laß los", verlangte Legolas ruhig und drehte seinen Kopf zur Seite. "Inuel, es ist ein guter Vorschlag."
Skeptisch beugte sich der Junge seitwärts, um seinem Freund ins Gesicht zu sehen. "Das soll wohl ein Witz sein", meinte er. "Du bist schließlich ein Elb; wir brauchen doch nicht solche barbarischen Methoden."
"Schon", gab Legolas zu und betastete die versteckte Narbe hinter seinem Ohr. "Aber …" Deutlich erinnerte er sich an das Fieber, ebenso an eine Handvoll anderer Ereignisse, bei denen eine scheinbar harmlose Verletzung ähnliche Reaktionen ausgelöst hatte. "Ich weiß nicht warum", begann er wispernd, "aber manchmal entzünden sich Wunden bei mir. Besonders, wenn sie sich nicht gleich schließen", gab er zu.
Inuel zog die Brauen zusammen: "Aber mußt du denn gleich so was Grobes in Betracht ziehen?"
"Es wird die Wunde schließen, danach verheilt es schnell." Unbeholfen tätschelte er Inuels Hand. "Willst du es tun?"
"Nein!" riß der Junge entsetzt die Augen auf. Zu spät begriff er, daß Legolas die Frage aus einem Vertrauen heraus gestellt hat, welches er für Zwerge schlicht nicht aufzubringen vermochte. "Äh … das kann ich nicht …"
Der Prinz verstand. "Schon gut", lächelte er schief, "dann gib jetzt die Wunde frei."
Zögernd erhob sich der jüngere Elb und trat einen Schritt zurück. Inzwischen hatten sich andere Zwerge zu ihnen gesellt, von denen einer für Taben die Fackel hielt, an welcher er die Dolchklinge erneut erhitzte. Legolas beobachtete beide mit Mißtrauen; er fühlte sich merklich unwohler ohne Rückendeckung. Rückendeckung, wiederholte er im Stillen, wie kriegerisch das klingt. Trotzdem, ich wünschte …
"Junge", erscholl plötzlich Tabens rauhe Stimme, an Inuel gerichtet. "geh hin und halt ihn fest!"
Instinktiv entfernte sich Inuel einen weiteren Schritt von dem herrischen Zwerg: "Äh … wie? Was …?"
Taben deutete auf Legolas: "Ich hab absolut keine Lust, mitten in der Behandlung von einem rasenden Elben angefallen zu werden und auch noch den anderen Arm zu verlieren. Also, festhalten!" Da der Elb nichts dergleichen tat, wandte er sich an Thromm, in dessen Richtung Inuel ausgewichen war. "Großvater?"
"Komm her", mit sanftem Druck führte der Greis den Jungen zu seinem Freund zurück, "und setzt dich. Taben wird nicht als einziger von solchen Gedanken gequält, auch den Elben sorgt seine Sicherheit. Außerdem, wenn er zusammenschreckt oder auffährt, wird es noch schmerzvoller." Inuel kniete verlegen an der Seite des blonden Elben, welcher Thromm einen empörten Blick zuwarf. Der Zwerg gab ihn gutmütig zurück. "Wie Ihr meinem Enkel mißtraut, ist offensichtlich. Der Kleine kann aufpassen, daß Taben keinen Unfug macht", schlug er ernst vor. Dann zwinkerte er wissend: "Außerdem ist es gut, wenn man was zum Festhalten hat."
Errötend, weil in doppeltem Sinne so leicht durchschaut, nickte Legolas widerwillig und richtete sich ein wenig auf, damit der Junge sich auf seine Oberschenkel setzen konnte. Was Inuel auch zaghaft tat, sich leicht herumdrehte und mit beiden Armen den Oberkörper des Prinzen umfing.
"Du bist nicht an den Beinen verletzt, oder?" flüsterte er, um die Stille zu vertreiben.
Wie oft hat mich die Keule da erwischt? grübelte Legolas. "Nein, gar nicht." Zwei-, dreimal? Autsch. Aber Inuel saß nicht direkt auf den Prellungen, was die Schmerzen erträglich machte. Und als Legolas sich leicht vorbeugte, um Taben einen besseren Winkel zu gewähren, bemerkte er, daß der Halt des Jungen ihm tatsächlich widerstand. Erleichtert lehnte er sich stärker gegen ihn, um die Muskeln zu entspannen, welche an seinen verletzten Rippen zerrten.
Durch die plötzlich nachlassende Belastung stellte sich eine warme Behaglichkeit ein, und Legolas ließ sein Kinn müde auf Inuels linke Schulter sinken. Mit geschlossenen Augen wartete er auf das Brennen der Klinge, doch als er den Zwergenheiler näher kommen hörte, bedeckte unerwartet Inuels Hand seine Wunde.
"Laß ihn", flüsterte er seinem Freund ins Ohr.
Ebenso leise, aber mit bebendem Unterton, antwortete der Junge: "Aber das tut doch weh."
"Nur ganz kurz", versicherte Legolas, als er Taben neben sich spürte. Und dann bemerkte er es: "Inuel, du zitterst ja." Das Beben lag nicht nur in seiner Stimme, es durchzog sein ganzes Wesen. "Was hast du denn? So schlimm ist es … oh …" Mit einem Mal fielen ihm die Narben wieder ein, die Brandwunden, welche Inuels Rücken bedeckten.
Legolas' Gedanken rasten, suchten verzweifelt nach den richtigen Worten, um den Jungen zu beruhigen. Aber sein Instinkt kannte bereits die Antwort und reagierte schneller, indem er seinen Freund in einer festen Umarmung wiegte. "Mach die Augen zu", forderte er schließlich, wohl wissend, daß Inuel einen Teil seiner Aufgabe dann nicht erfüllen konnte. Ob er wollte oder nicht, nun konnte er nur noch den Zwergen vertrauen.
An seiner Schulter bemerkte er den veränderten Druck, als der Junge seine Stirn fest dagegen preßte. Mit der unmittelbaren Gefahr aus den Augen geriet, wie Legolas erwartet hatte, auch die Angst aus Inuels Sinn, bis er tief durchatmete und seinen Arm von der Schulterwunde aufwärts an seinen Nacken hob. Auch der Prinz hielt die Augen geschlossen, bereitete sich schnell vor und versuchte, seine Schulter bei dem sichernden Griff um Inuel nicht zu sehr anzuspannen, was ihm kläglich mißlang.
Kurz darauf fuhr das heiße Brennen wie eine Hitzewelle von der Schulter seinen Arm und rechte Körperseite hinab und gleichzeitig stechend am Hals hinauf direkt in sein Gehirn. Sämtliche Muskeln verkrampften sich, während der klare Verstand des Elben für einen Augenblick aussetzte, in welchem Legolas nichts weiter wollte als aufspringen und zurückschlagen.
Jedoch nicht nur der Prinz, auch Inuel verkrampfte sich und hielt, den rechten Arm um Legolas' Taille und die linke Hand in seinem Genick, seinen Freund mit der Kraft der Verzweiflung an seinem Platz. Endlich, eine keine drei Sekunden dauernde Ewigkeit später, zog Taben die Klinge zurück, und beide Elben sackten zitternd und schwer atmend in sich zusammen, einer durch den anderen gestützt. Der Geruch verbrannten Fleisches und heißen Blutes lag in der Luft.
Legolas erholte sich zuerst, sobald das Brennen zu einem Kribbeln abklang und letztlich bis auf ein dumpfes Pochen in der Schulter ganz verschwand. Zaghaft hob er den Blick und traf den besorgten Ausdruck auf Thromms Gesicht. "Alles in Ordnung", keuchte er erschöpft. Später, als der Heiler sich zu seinem Großvater gesellte, fügte der Prinz fast wispernd hinzu: "Ich … danke."
Es war gerade laut genug, um durch die dicken Helme zu dringen. "Wir werden niemals Freunde sein", erwiderte Taben schroff, ehe er ihm den Rücken zuwandte und davon stiefelte.
Doch der Ältere schmunzelte leicht. "Er ist etwas ruppig", meinte Thromm entschuldigend. "Und wahrscheinlich spricht er die Wahrheit, dennoch … Euer Vertrauen eben ehrt uns. Ich finde, es – ist ein Anfang, oder?"
"Es ist ein Anfang", bestätigte der Elb nachdenklich. "Ich bin sehr froh, daß es gerechtfertigt war."
Mit diesen Worten war für den Augenblick alles gesagt, und so senkte sich einvernehmliches Schweigen über die Aufräumarbeiten auf dem Kampfplatz. Die Toten wurden geborgen, Tragen gebaut und Waffen zusammengesucht. Thromm verharrte bei dem Elben und stellte oder beantwortete gelegentlich eine neugierige Frage zu ihren Völkern; Legolas seinerseits gab sich Mühe, die neue, schmale Brücke über den Abgrund der Feindschaft zu festigen, sein Gemüt ausgeglichen durch die wohltuende Ruhe Inuels in seiner Umarmung.
Eine ganze Weile später, da Inuel sich noch immer nicht rührte, zog sich der Prinz zurück und schob den Jungen ein wenig von sich. Das Gesicht seines Freundes hatte eine Färbung angenommen, wie Legolas es zuvor noch nie bei einem Elben gesehen hatte, halbwegs zwischen altem Schnee und verdorrtem Gras. "Hey!" rief er scharf.
Inuel sah mit trüben Augen zu ihm auf, ehe er bedächtig eine Hand zum Mund führte. "M-m-m-mir ist ga-ga-gar nicht gut …" gestand er erstickt durch die Finger hindurch.
Mitfühlend schnappte der Prinz die offene Wasserflasche vom Boden und reichte sie dem Jungen: "Hier. Das wird helfen."
Obwohl er sich nicht sicher war, die Flüssigkeit im Magen behalten zu können, nahm Inuel die Flasche an sich und trank in winzigen Schlucken. Ganz allmählich verwehte der Wind den ekligen, süßlichen Gestank und brachte aus dem Norden wieder den herben Geruch der Nadelbäume heran. Nur am Rande seiner Wahrnehmung registrierte er Legolas' Gespräch mit dem Zwergen, während er mit seinem Magen kämpfte und am Ende den Sieg davontrug. Dennoch rebellierten seine Eingeweide auf die grobe Behandlung und erinnerten ihn knurrend daran, daß er seit dem frühen Morgen nichts gegessen hatte.
Ehe er sich vor seinem Körper noch im Stillen rechtfertigen konnte, hielt ihm Legolas wie beiläufig einen Lembas unter die Nase. "Nicht ignorieren", ermahnte der Prinz schmunzelnd. Inuel dachte nicht lange nach, beugte sich vor, biß ab und kaute vergnügt, die unangenehmen Erlebnisse bereits wieder in den dunkelsten Ecken seiner Erinnerung vergrabend.
Legolas bemerkte das und wunderte sich kurz darüber, mit welcher Leichtigkeit Inuel offensichtlich verdrängte, was immer ihn störte. Und bei den unausgesprochenen Geschichten, welche die alten Verletzungen erzählten, hatte ihn in seinem Leben wahrscheinlich so einiges gestört. Wenn er das alles von sich schob … Kein Wunder, daß er ein so chaotisches Gedächtnis hat, seufzte der Prinz.
"Wo werdet ihr hingehen?" fragte er Thromm, als die Zwerge augenscheinlich alles zusammengepackt hatten.
Nachdenklich musterte der Greis seine Familie, die abmarschbereit und ungeduldig wartete. "Ich weiß es noch nicht", antwortete er. "Aber meine Kinder und Enkel sind noch jung und voller Tatendrang, sie wollen arbeiten und kämpfen." Er lachte tonlos. "Die heutige Schlacht hat ihren Geschmack am Krieg geweckt." Neugierig hob er den Blick zum wolkenlosen Nachthimmel: "Wir werden einfach den hellsten Sternen nachgehen. Wer weiß, wohin sie führen? Vielleicht stoßen sie auf ein anderes Zwergenvolk, bei dem sie Aufnahme finden – vielleicht auch auf einen guten Krieg."
Legolas blieb lange stumm. "Sie?" fragte er dann.
Der müde, ausgelaugte Blick, mit welchem der Alte ihn anschaute, gab seine eigene Antwort. Trotzdem fügte Thromm hinzu: "Mein letztes … mein einziges Ziel war dieser Ort." Ein bestimmter Trümmerhaufen hielt die dunklen Augen in seinem Bann. "Meine Hoffnung … zerstört."
"Nein", sagte Inuel unerwartet mitten in das Schweigen.
Langsam hob der Junge den Kopf und glitt von Legolas' Beinen, um vor dem Zwerg zu knien. Dadurch waren ihre Augen auf einer Höhe, und Inuel ergriff beinahe ehrfürchtig beide Hände des Greises. "Nein", wiederholte er milder, wobei er die schwielige, faltige Lederhaut der Innenflächen nach oben drehte. Er ließ sein Gewicht auf die Fersen sinken, wodurch er ein wenig Abstand schaffte und gleichzeitig die Augen des Zwergen erhöhte.
"Ich weiß nicht, wie ich hier gelebt hätte", gewährte er mit einer traurigen Sehnsucht, die fast wie Heimweh klang. "Und mein Leben war nicht großartig." Inuel sah, wie Thromm zu einer – für Zwerge völlig ungewohnten – Entschuldigung ansetzte, und hob beschwichtigend eine Hand. "Bis jetzt", fügte er mit einem Seitenblick auf Legolas hinzu.
In Legolas' Herzen regte sich Hoffnung, gegen seinen Willen, als er Wort und Blick verstand.
"Viele Dinge sind geschehen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, obwohl manch einer sie bedauert. Und es werden noch viel mehr davon passieren."
Erstaunt lernte Legolas eine neue, ernstere Seite an seinem zumeist gedankenlosen Freund kennen.
"Aber ich weiß, daß alles gut und richtig war, wenn es vergangen ist, und ich will es im Nachhinein nicht anders haben."
Wo habe ich solche Worte schon einmal gehört? wunderte sich der Prinz, wobei er beinahe den nächsten Satz nicht mitbekam.
"… Umstände etwas gefunden, was mir sehr viel bedeutet, und ich bin glücklich jetzt. Das ist letztendlich alles, was zählt."
"Junge …" begann Thromm heiser, in fragendem Ton.
"Mein Name ist Inuel", unterbrach der Elb bestimmt. "Ich mag nicht mein Vater sein, doch habe ich nicht das gleiche Recht wie er, Zorn zu empfinden?"
"Natürlich", nickte der Greis ergeben, "sogar mehr, würde ich meinen."
Inuel neigte den Kopf in einer Geste, die Thromm wohl erkannte, und grub seinen feurigen Blick tief in die schwarzen Augen. "Und habe ich dann nicht auch mehr Recht als er", fragte er sanft, "dir zu vergeben?"
*******
"Was du zu ihm gesagt hast, war –"
"Nichts als die Wahrheit … Vater."
Inzwischen war der abnehmende Mond hoch genug gestiegen, um die stille Siedlung in beruhigendes Silberlicht zu tauchen. Die Zwergenfamilie war abgezogen und vor einigen Minuten außer Hörweite geraten; ihre Gefallenen hatten sie auf Bahren mitgeschleppt. Thromm hatte dazu nur gemeint, sie würden sie in der Ebene beisetzen, denn Zwerge gehörten nun einmal nicht in eine Elbensiedlung, ob zerstört oder unversehrt.
Inuels bereitwillige Vergebung hatte seiner zermürbten Seele nach all den Jahrhunderten zu guter Letzt Ruhe gewährt, und wenn dadurch auch die Lebenskraft des Zwerges nicht wiederhergestellt wurde, so konnte er doch zumindest den Weg auf die andere Seite wagen ohne die Befürchtung, durch die alte Last unterwegs erdrückt zu werden. Endlich gehörte die Schuld, wie schon lange die Tat, der schwindenden Vergangenheit an.
"Ich habe dich erwartet", wandte sich Inuel zur gerade erschienenen Seele Ankulans um.
"Ich habe", erwiderte sein Gegenüber, "auf dich gewartet."
Inuel musterte die Züge des Ältesten, die im Mondschein anders wirkten, als er sie vorher gesehen hatte. "Du siehst jetzt viel jünger aus", murmelte er überrascht.
In der Tat hatte sein vorher ausgeblichenes Haar jetzt eine tiefe, im kargen Licht bläulich schimmernde Schwarzfärbung angenommen und fiel ihm glatt bis zur Hüfte; sein Gesicht wurde nicht länger durch Falten entstellt, sondern erstrahlte mit der Würde eines Gelehrten, glatt und rein. Ankulans hohe Wangenknochen waren nicht sehr ausgeprägt, im Gegensatz zu seinem leicht spitzen Kinn, und als Inuel ihn eine Weile betrachtet hatte, ahnte er, wie er selber einst aussehen würde.
Bis auf die Haare natürlich, und die Augen. Ankulans Augen waren dunkel, nicht grün wie die seinen. Inuel wünschte plötzlich, er wüßte mehr über Baladia als nur, daß sie Locken und grüne Augen gehabt hatte. Denn auch die langgezogenen, dünnen Brauen, die gerade Nase mit dem kleinen Stups und die geschwungenen Lippen kannte er aus dem Spiegel in- und auswendig, und selbst die Stimme klang wie seine.
"Ich bin nur noch eine Seele, mein Sohn, an keine Erscheinung gebunden." Dann wurde er ernst. "Ja, meine Lebenskraft verließ mich schnell, nachdem du fort warst, und so verfiel auch mein Körper, und in meiner Trauer behielt meine Seele ihr letztes Antlitz bei. Jetzt aber …"
Langsam schritt Inuel näher. "Vater", begann er aufgeregt. "Ich … ich habe ja so viele Fragen."
"Die habe ich auch", nickte Ankulan mit einem sanften Blick. "Doch keiner von uns wird Antwort erhalten … zumindest nicht jetzt."
Der Junge bemerkte verunsichert, daß er das von Legolas gerade entzündete Feuer durch die Erscheinung schimmern sah. "Vater?"
"Siehst du, ich habe nicht mehr viel Zeit", erklärte Ankulan entschuldigend. "Was mich an diesem Ort noch hielt, war einzig der Wille, dich zu finden. Und ich hätte in alle Ewigkeit darauf gewartet."
"Und die Treuen mit dir", erkannte Inuel. Die Flammen wurden deutlicher. "Aber wenn ich …"
Mit Bestimmtheit schüttelte Ankulan den Kopf: "Tief im Herzen war ich sicher, daß du noch lebst. Mein Sohn Turomeleth … ich habe dich so sehr geliebt, daß ich es gespürt hätte, wärest du aus dieser Welt verschwunden. Und ich hätte nicht gezögert, dir zu folgen. Ich wünschte nur …" Traurig brach er ab.
"Vater!" rief Inuel zu dem Verschwindenden. "Kannst du mir nicht von Mutter erzählen?"
Ankulan hob einen Arm, um seine geisterhafte Hand an Inuels Wange zu legen. Seine Augen suchten Inuels mit einem tiefen, undeutbaren Blick. "Alles, was du wissen willst, habe ich dir bereits gegeben, Turomeleth."
"Aber … ich kann mich nicht erinnern." Inuel versuchte angestrengt, die Finger zu spüren, doch nichts außer einem warmen Hauch strich über sein Gesicht.
"Eines Tages wirst du darauf stoßen", wisperte sein Vater. Seine Umrisse waren kaum noch zu erkennen. "Und entdecken, was ich sogar vor mir selbst verbarg. Ich bete dafür, daß du deinen Vater ebenso warmherzig wie einen fremden Zwerg behandeln kannst." Als die Form bereits verschwunden war, erreichte eine letzte, gehauchte Bitte Inuels Ohr: "Im Sinne der Namen, die ich dir gab … Turomeleth … Dihenolion."
Lange nachdem Ankulan, die Reste seines Stammes und vermutlich auch Celabon im Berglager sich auf den Weg nach Mandos' Hallen gemacht hatten, stand der Junge noch immer allein, abseits vom Feuer, dessen Wärme ihn nicht erreichte. Mehr innerlich als äußerlich fröstelnd warf er die Arme um sich selbst und wiegte leicht hin und her.
"Geht es dir gut?" fragte nach einer Weile Legolas' Stimme dicht neben ihm.
Inuel drehte den Kopf und nickte. "Vater ist weg", informierte er den Prinzen tonlos. "Alle sind weg."
"Ich verstehe." … rein gar nichts, fügte er in Gedanken hinzu, ließ es sich aber nicht anmerken. "Komm", drückte Legolas seinen Freund sanft zum Feuer, "du darfst noch mal was kochen."
"In Ordnung."
Es klang nicht in Ordnung, und Legolas wollte etwas erwidern, als seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand am Boden fiel. "Warte." Er hob ihn auf, betrachtete das Holz kurz und reichte es Inuel: "Du solltest besser darauf aufpassen."
Inuel starrte den Bogen an, griff aber nicht danach. "Ich will ihn nicht haben." Mürrisch drehte er sich weg und ging zum Feuer, wo er sich hinhockte und düster in die Flammen starrte.
"Aber du wolltest doch nur das, seit wir uns kennen", folgte ihm Legolas verwundert. "Woher der plötzliche Sinneswandel?"
Stumm blickte der Junge zur verbundenen Schulter auf.
"Ah." Wieder einmal fügten sich Puzzleteile besser zusammen. Und ergaben nur ein etwas größeres Teil eines anderen Bildes. "Also, wenn du gar nicht schießen kannst, wozu wolltest du dann unbedingt meinen Bogen stehlen?"
Ertappt zog der Junge den Kopf ein und wurde erstaunlicherweise dadurch kleiner. Legolas stellte sich neben ihn und berührte seine Schulter, wobei ihm die verspannten Muskeln auffielen. Er grinste ungesehen, als er einen anderen Zugang zu Inuel sah, denn Worte brachten ihn offenbar nicht weiter. Dreist setzte er sich hinter den Jungen und begann, dessen Schultern zu kneten. Obwohl Inuel zuerst zusammenzuckte, ließ sein Widerstand bald nach und er rutschte von den Fersen ebenfalls auf den Boden. Sein Rücken prallte müde gegen Legolas' Brust, in der sich drei Rippen kurz beklagten und wieder Ruhe gaben.
Der Prinz seufzte und langte mit seinen Arme weit über die Schultern des Jungen, damit er Inuels auf den angewinkelten Knien liegende, nervös am Stoff zupfende Hände umfassen konnte. Das brachte seinen Mund zufällig sehr dicht an Inuels Ohr, und er machte Gebrauch von der Nähe: "Wozu?" Kaum ein Hauch.
"Es war eine Wette", gab Inuel kleinmütig zu. Er war zu müde zum Streiten und fühlte sich zu sicher, um des Prinzen Reaktion zu fürchten.
"Eine Wette?" kam die erwartete Antwort, welcher allerdings völlig die erwartete Empörung fehlte. Dagegen schwang etwas äußerst Unerwartetes darin: Belustigung.
Inuels Zuversicht wuchs: "Ja, eine Wette. Mit ein paar Jungs aus der Siedlung, daß ich deinen Bogen klauen könnte."
Einen Moment erwog Legolas die Aufgabe, dann: "Warum meinen?" Unter dem Gewicht seiner Arme konnte der Junge nicht mit den Schultern zucken, doch Legolas registrierte den Versuch trotzdem.
"Es ist der beste", antwortete er. "Du bist der Beste."
Ein verächtliches Schnauben begleitete den passenden Kommentar: "Und du ja wohl der Schlechteste." Etwas ernster wollte der Prinz wissen: "Warum hast du dich nur darauf eingelassen?"
Inuel schwieg so lange, daß der ältere Elb schon nicht mehr an eine Antwort glaubte. Doch dann vernahm er ganz schwach: "Ich wollte so sein wie sie. Ich wollte auch Freunde haben."
"Wenn du willst", versuchte Legolas ihn vorsichtig, "schenke ich dir meinen Bogen."
Die Antwort kam prompt und eindeutig: "Nein."
"Warum nicht?" Geschickt testete der Prinz das neue Vertrauen weiter: "Sie würden den Unterschied nicht kennen."
"Nein, ich will deinen Bogen nicht." Legolas konnte in der Antwort hören, daß Inuel sich seiner Prüfung nicht bewußt war, denn sie klang aufmüpfig. "Ich will überhaupt keinen Bogen."
Seine Besorgnis bezüglich des Gedankenlesens verschwand wie ein Staubkorn in der Wüste. Aber der Junge überraschte ihn, als er Legolas' Arme an seine Brust zog, davor verschränkte und mit beiden Händen festhielt. Als er weitersprach, klang seine Stimme viel weicher, friedlich und fast liebevoll.
"Ich brauch keinen Bogen mehr", klärte er den Elbenprinz auf. "Ich hab doch jetzt … einen Freund."
Als einzige Erwiderung preßte Legolas den zerbrechlichen Körper dichter an sich. Ich muß ihn füttern, kam ihm ein abwesender Gedanke. Und dann gab es da noch etwas anderes zu klären.
"Da du ja nun deinen Vater getroffen hast", begann er langsam, "und wir Freunde sind, wüßte ich ganz gern deinen wahren Namen."
Inuel atmete sehr, sehr langsam aus. Die Worte, welche sein Vater gesprochen hatte, kannte er, denn sie waren beide Sindarin: Turomeleth, der Sieg der Liebe, und Dihenolion, verzeihender Sohn. Ja, er kannte die Bedeutung der Namen, welche sein Vater ihm vor sieben Jahrhunderten gegeben hatte. Doch sie gehörten nicht zu ihm.
"Mein wahrer Name …" sagte er vor sich hin, und dann lauter: "Mein Name ist Inuel!"
___________________
A/N: *grummel* Wieso hört hier keiner auf die Autorin? *romantisches Herz tröst* Ich wollte ein Küßchen, ehrlich. *schnüff* Aber die sträuben sich so. *alle Schuld auf Akteure lad* Bitte laßt es an den beiden aus! ^.~
Wie schon erwähnt und offensichtlich, die erste Geschichte endet hier. Falls irgend etwas unklar bleibt, Fragen bitte JETZT. ^^ Ich habe ohnehin vor, einen kleinen Anhang zu schreiben; da kann ich sie für alle beantworten. Einige aus früheren Reviews werde ich wohl auch noch einmal aufgreifen.
Vielen lieben Dank für's Lesen,
Eure Mel
