Die Luft war nun staubtrocken. Die leicht salzige Feuchtigkeit des Meeres, die Jenrya erst bemerkt hatte, als sie sich mit zunehmender Entfernung vom Strand langsam in der warmen Wüstenbrise verlor, war nun ganz verschwunden. War es nicht seltsam, dass man etwas erst dann wahrnahm, wenn man es schon vermisste? Jenrya Lee schüttelte schnell den Kopf, wie um den gerade entstandenen Gedanken abzustreifen. Das Nachdenken  über solche Belanglosigkeiten kostete einfach zuviel Energie – Energie, die ihn nach dem zweistündigen Marsch durch diese Einöde langsam zu verlassen schien. Seit dem Überqueren der bleiernen Klippen waren sie fast ständig bergauf gelaufen. Der sandige Boden war zwar nicht steil, aber dafür mit scharfkantigem Geröll übersäht und gab bei jedem Schritt von Jenryas verletztem Bein nach.

Lange hatte Jen versucht den Schmerz in seinem linken Unterschenkel zu ignorieren, hatte gehofft er würde irgendwann von selbst nachlassen. Doch diesen Gefallen hatte er ihm nicht getan. Der Schmerz war auszuhalten – es war nicht dessen Intensität, die dem im Kampfsport geübten Jungen Sorgen bereitete – es war seine Beständigkeit, die ihn zermürbte. Egal was er tat, es blieb dasselbe durchdringende Pochen, das er seit seinem Unfall in der realen Welt verspürt hatte.

„Lauf nicht so schnell, Takato!" Wieder erinnerte er den braunhaarigen Jungen daran, langsamer zu gehen, wenngleich er auch glaubte, Takato hätte sich nach jeder „Erinnerung" nur weiter von ihm entfernt. Wieder konnte er seinen Freund nur knapp einholen, noch schaffte er es mitzuhalten, doch lange würde er dieses Tempo nicht mehr durchhalten können. Jenrya wusste nicht sicher, was Takato dazu antrieb, diese Wüste in solcher Eile und Zielstrebigkeit zu durchqueren, ob es überhaupt noch dasselbe war, was den Jungen ursprünglich von zu Hause fortgetrieben hatte. Doch auch diese Frage konnte er sich nicht beantworten. Warum war Takato gegangen? Warum hatte er sich so verändert, hatte beabsichtigt, seine besten Freunde in der realen Welt zurückzulassen? Er hatte doch immer so glücklich gewirkt in den letzten Monaten, so anders. Hätte er Takato in der Mittelschule zum ersten Mal in seinem Leben getroffen, so hätte er annehmen können, der braunhaarige Junge wäre schon immer offenherzig, selbstbewusst und stark gewesen. Takato war nicht länger ein Kind – viel weniger noch ein Kind, das er beschützen musste. Natürlich hatte er diese Veränderung schon während ihrer Zeit als Tamer bemerkt, doch damals war er nicht mehr als ein Freund gewesen.

Jenrya hatte später gehofft, die Lücke, die Gillmon hinterlassen hatte, mit seiner Liebe füllen zu können. Bald jedoch hatte er feststellen müssen, das dies gar nicht nötig war. Jemand anderes hatte diese Aufgabe bereits übernommen. Er war nicht eifersüchtig auf Juri, nein, er konnte es gar nicht sein, er hatte sich schließlich damit zufrieden gegeben, dass Takato seine Annäherungsversuche stets nur als freundschaftliche Gesten wahrnahm. Auch nach Juris Unfall hatte sich daran nichts geändert. Oder etwa doch? Wenn sie zusammen ins Kino gingen, bei ihm übernachteten oder einfach nur den Schulweg gemeinsam gingen – hatte er sich dann nicht immer eingeredet, es könnte mehr sein?

Damals musste es passiert sein. Irgendwann musste Takato schließlich bemerkt haben, was in seinem besten Freund vorging. Natürlich hatte er es nicht offen gezeigt, doch innerlich hatte er sich von ihm abgewendet. Er hat es die ganze Zeit gewusst... Mit der gleichen Monotonie wie das ständige Pochen in seinem Bein bohrte sich dieser Gedanke in Jenryas Verstand. Und doch tat er so unsagbar mehr weh. Hatte er sich etwa in einen Menschen verliebt, hinter dessen freundlichem Lächeln sich etwas verbarg, das sie so leicht zu trennen vermochte? Nein, das durfte nicht sein. Und doch, schließlich hatte Takato ihn verlassen – oder hatte es zumindest versucht. Mehr als alles zuvor hatte Takatos plötzlicher Sinneswandel, sein Ausreißen von Familie und Freunden, Jenrya unwiderruflich aus der Illusion gerissen, der Junge, der nun schon seit einem Jahr mit ihm in dieselbe Klasse ging, könnte mehr als Freundschaft für ihn empfinden.

Noch immer lief er von ihm weg – Takato – sein bester Freund. Dabei war es seine eigene Schuld. Seit sie den Strand verlassen hatten, hatte der braunhaarige Junge mehrmals versucht ein Gespräch zu beginnen, anfangs hatte er sich noch nach seinem Bein erkundigt, hatte versucht langsamer zu gehen aus Sorge um seinen verletzten Freund. Doch Jenrya hatte stets nur gereizt reagiert auf Takatos Annäherungsversuche. Er verstand den Jungen nicht mehr, konnte sich seine freundschaftliche Gesten nicht erklären – nicht nach all dem, was er ihm angetan hatte. Doch auch die Stille zwischen ihnen ließ seine Schuldgefühle nicht verstummen. Und nun, als längst alle Gespräche zwischen den beiden Jungen verebbt waren, als sie stumm über den grauen Wüstensand hasteten, da war er sich endgültig sicher, dass Takato genau wusste, was er ihm hatte antun wollen. Vielleicht traute er sich nicht, ihn deswegen anzusprechen, vielleicht fragte auch er sich in diesem Moment, wie es geschehen konnte?

Warum hatte er es getan? Wieder und wieder stellte sich Jenrya diese Frage, zweifelte daran, ob er überhaupt wissen wollte, was in jenem Moment mit ihm geschehen war. War es die Erleichterung gewesen, Takato wieder lebendig zu sehen, die ihn alle Vorsätze hatte vergessen lassen? Nein, das allein hätte nicht genügt, um in dem halbwüchsigen Jungen Phantasien zu wecken, von denen er bisher geglaubt hatte, sie Morgen für Morgen zusammen mit einem verschwitzten Pyjama abzustreifen. Nein, es gab noch einen Grund, etwas, das in Jenrya nur die bloße Abscheu vor sich selbst erregte: In jenem schwachen Moment, in der Gewissheit, dass Takato seine Gefühle nicht erwiderte, hatte er sich genommen, was er wollte.

„Ich habe dich fortgetrieben. Du flüchtest vor mir." Kaum hörbar, ein leises Flüstern nur, mehr war die Erkenntnis nicht, welche jetzt über Jenryas Lippen kam, und doch blieb sie nicht ohne Wirkung.

„Lee-kun, hast du etwas gesagt?" Wunderschöne braune Augen blickten ihn freundlich an. Zu schön, zu freundlich. Er durfte sie nicht ansehen, würde er doch entweder vor Scham im Boden oder vor Begierde in ihnen selbst versinken. Mühsam unterdrückte er beide Emotionen, allein die Verwirrung über Takatos unerwartete Freundlichkeit blieb zurück. Erst wollte er das Lächeln des Jungen, der sich zu ihm umgedreht hatte, erwidern, doch er ließ es sein. Er durfte Takato nicht länger in dem Glauben lassen, er würde noch etwas für ihn empfinden.

„Ich..." Er hasste sich dafür, doch alles schien nun besser zu sein, als die Wahrheit. „Ich habe mich gefragt, ob du dein Digivice am Strand gefunden hast." Und so war es auch nicht die Wahrheit, die er von Takato erwartete – nein, es wäre nur natürlich, wenn Takato ihm nicht mehr vertraute.

„Ach... das...", stotterte der braunhaarige Junge und wieder trafen sich ihre Blicke. Wenngleich Takato auch mit gespielter Unschuld seiner Frage auswich – in seinem Blick lag etwas Beunruhigendes. Dieser Ausdruck in Takatos Augen – Jenrya konnte schwören, ihn heute schon einmal gesehen zu haben...

Zwar hatten Takatos Gesichtszüge mit den Jahren an Männlichkeit gewonnen, doch in seinen Augen konnte Jenrya noch immer die Mutter des Jungen wiedererkennen. Ihr Blick war es, der jetzt auf ihn gerichtet war. Deutlicher als jemals zuvor spürte er ihren unausgesprochenen Vorwurf, für Takatos Davonlaufen verantwortlich zu sein, und zum ersten Mal wusste er, dass sie Recht hatte! Die letzten neun Monate, als er immer häufiger bei der Bäckerei Matsuda vorbeigeschaut hatte, um den Jungen auf die eine oder andere Art zu trösten – jene Zeit, als Jen noch mehr als nur freundschaftliches Interesse gezeigt hatte – sie hatte Spuren hinterlassen. Wenngleich auch Takato nie ein Wort darüber verlor – sie hatte es getan. Niemals würde sie es zulassen, dass er ihren Sohn verführte. „Er hat in der letzten Zeit immer nur von dir geredet, Jenrya. Kein Wort über Gillmon"

„—glaube, dass ich Gillmon auch ohne es finden kann. Ich habe keine andere Wahl, Jen, ich weiß, dass ich Gillmon finden muss. Alles andere spielt doch gar keine Rolle. Wenn es um Terriermon ginge, würdest du doch dasselbe machen... Lee-kun, du hörst mir gar nicht zu!"

Wieso tat er das? Selbst jetzt grinste Takato ihn voller Unschuld an, redete arglos mit seiner hellen Stimme auf ihn ein, als sei nichts passiert, während er selbst an nichts anderes denken konnte. Versuchte er etwa davon abzulenken, oder ging es ihm wirklich nur um seinen Partner?

„Gillmon... Du hast von Gillmon gesprochen, Takato-kun. Ich habe dir zugehört" Wie oft würde er ihn heute noch anlügen müssen?

Wieder lächelte er. Es tat so weh, jeder Zentimeter, der ihn von Takatos Lippen trennte, tat so weh–

„Ich habe dich erwischt! Nicht Gillmon! Ich habe dich gerade gefragt, ob du Terriermon vermisst. – Du hast ihn die ganze Zeit nicht einmal erwähnt..."

Inzwischen war Takato weitergelaufen, der Untergrund stieg jetzt kaum noch an. Schweigend folgte ihm Lee mit gesenktem Kopf, tat so, als hätte er den neugierigen Schulterblick seines Freundes nicht bemerkt. Immer neue Selbstvorwürfe drangen auf ihn ein, schienen ihn zu Boden zu drücken. Er schämte sich so dafür, dass ihm in keinem Moment seit ihrer Ankunft der Gedanke gekommen war, Terriermon womöglich wiederzusehen – dass er ihn aufgegeben hatte.

„Verzeih mir, mein Freund, dass ich immer nur an Takato denke... und doch, ich habe euch beide im Stich gelassen–"

„Lee-kun, warum flüsterst du schon wieder?" Irgendwie wirkte der braunhaarige Junge niedlich, wenn er versuchte wütend zu klingen... „—Du bist schon die ganze Zeit so komisch! Ich wüsste zu gern, was mit dir los ist. Du hörst mir nie zu, redest kaum ein Wort und immer, wenn ich dich anschaue, erwachst du wie aus einem Traum. Ist etwas nicht in Ordnung? ...

„LEE-KUN! ... Nani?

„L..Lee??"

Es war so unvergleichlich, ihn zu berühren. Fest waren seine Arme um den braunhaarigen Jungen geschlungen, ließen keine falsche Bewegung zu, bis sich Takato von seinem Schock erholt hatte. Gerade rechtzeitig hatte er ihn zu fassen bekommen, ein weiterer Schritt hätte genügt, um...

„Na, wer von uns beiden ist nun der größere Träumer?", diesmal konnte Jenrya ein Lächeln nicht unterdrücken. „Du musst besser aufpassen, wo du hinläufst, Takato-kun!"

Sie hatten den Gipfel erreicht – oder vielmehr den Rand eines unermesslichen Kraters, der wie ein gewaltiger Schlund aus dem schwarzen Ozean emporragte. Über Takatos Schulter hinweg blickte Jenrya in die graue Öffnung, die statt glühender Lava nur Kälte und Dunkelheit zu verströmen schien. Noch einmal drückte er seinen Freund, der nun nicht mehr über dem Abgrund schwebte, an sich und spürte die Wärme seines Körpers. Er durfte ihn vielleicht nicht lieben, doch festhalten durfte er Takato – wenn auch nur für wenige Sekunden.

„Danke, Lee-kun. Ich... ich habe—", zögernd löste sich Takato aus dem eben noch so festen Griff seines Freundes. Jen achtete auf jeden seiner Schritte, noch immer in Sorge, der braunhaarige Junge könnte aus Leichtsinn erneut einen Fuß über die gefährliche Felskante setzten. Doch Takato blieb schweigend stehen, die Arme vor dem lange nicht mehr weißen T-Shirt verschränkt, seinen Blick in die Tiefen des gigantischen Trichters aus grauem Sand gerichtet. Diese braunen Augen wirkten nachdenklich, unsicher, die Zielstrebigkeit in ihnen war erloschen.

Es war das erste Mal, dass Takato den Weg nicht mehr wusste. Irgendetwas musste ihn bis hierhin geführt haben, seit sie den Strand verlassen hatten – etwas, das Takato ihm verheimlichte. Er hatte es in der Hosentasche seines Freundes gespürt, als sich ihre Körper für Sekunden berührt hatten, und nun glaubte er zu wissen, was es war.

„Wohin gehen wir jetzt, Takato-kun?", erkundigte er sich mit ernster Stimme, während er wie zufällig den Abhang betrachtete. Sein Bein schmerzte allein vom Anblick.

Für einen Moment zögerte Takato, doch dann geschah etwas, das Jen schon zu Beginn ihres Marsches beobachtet hatte, als sich der braunhaarige Junge – jetzt wusste er auch, warum Takato ihm stets vorausgeeilt war – unbeobachtet gefühlt hatte: Plötzlich, ohne darüber nachzudenken, fuhr Takatos Hand in die rechte Tasche seiner Shorts, um etwas darin zu suchen, blitzschnell herauszuziehen und nach einem hastigen Blick darauf wieder in dem hellgrauen Stoff verschwinden zu lassen. Doch soweit kam es diesmal nicht. Dieses Mal war er nicht weiter als eine Armlänge von ihm entfernt...

Beinahe wollte Jenrya seinem Freund den dunkelblauen Gegenstand aus der Hand reißen, doch etwas in Takatos Blick hielt ihn davon ab. Seine Finger, nur Zentimeter von Takatos Unterarm entfernt, weigerten sich, die Haut seines Freundes zu berühren, ihm Gewalt anzutun. Nicht noch einmal. Langsam zog er seine Hand wieder zurück, während ihn Takato wie erstarrt ansah. Die peinliche Stille dauerte nicht lange.

„Wir müssen da hinunter", Takatos Finger deuteten in den Abgrund. Noch immer klammerten sie sich um den blauen Gegenstand in seiner ausgestreckten Hand. Wollte Takato etwa jetzt, dass er das fremde Digivice sah? Glaubte er vielleicht, sein Freund würde einer leblosen Anzeige mehr Vertrauen schenken? Das Digivice jedoch schien Takatos Worte zu bestätigen – obwohl seine Hand zitterte, wies ein roter Pfeil auf dem Display des Gerätes beständig in das Zentrum der Schwärze. Dort unten, eingewoben in einen seltsam bleiern schimmernden Nebel, konnte Jen nun so etwas wie einen kleinen Wald erkennen. Zumindest eine Ähnlichkeit mit wucherndem Gestrüpp hatten die dunklen Ranken, die sich aus der Mitte des Kraters auszubreiten schienen. Nein, das dort unten war kein Wald, keine natürlich Ansammlung von Gewächsen, es war ein Parasit, dunkel und lebensfeindlich wie alles in dieser Welt! Was suchte Takato hier?

„Glaubst du, dass Guilmon da unten ist, Takato-kun?"

„Ich weiß es."

„Aber wieso, Takato? Das ist nicht dein D-Arc! Wie kannst du dir so sicher sein?"

„Es ist meins, verdammt noch mal!" Hastig versuchte er das Digivice wieder in seine Tasche zu stecken, das Zittern seiner Hände war kaum noch kontrollierbar. „Und jetzt lass mich gehen, ich–"

Und da war es geschehen – er hatte das D-Arc fallen gelassen, laut klappernd rollte es über die abschüssige Felstafel. Takato wollte sich nach dem verlorenen Gerät bücken, doch Jens Arme hielten ihn davon ab.

„Antworte mir, Takato!" Wieder hielt er der Jungen vor sich an den Schultern fest, doch war es diesmal weder zu seinem Schutz noch eine zärtliche Geste. Schweigen.

„Sag mir die Wahrheit!" Es war Jenrya, der das fremde Digivice aufhob, kurz bevor es den Abhang erreichte. „Hat dir das irgendjemand unten am Strand gegeben?" Er wusste, dass sein Freund nicht ehrlich zu ihm war, doch der Ausdruck in dessen Augen verriet mehr als das. War es Angst, die er in ihnen erblickte? – Nein, er sollte keine Angst vor ihm haben! – Er sollte ihm vertrauen, keine Geheimnisse vor ihm haben! Er wollte den braunhaarigen Jungen doch nur beschützen, und wie sollte er das tun ohne sein Vertrauen? Er liebte ihn doch so sehr...

„Du tust mir weh, Jen!"

Er konnte es nicht. Er konnte Takato nicht zwingen. So ließ er ihn gehen, beinahe ruckartig gaben seine Finger nach. Das Gesicht seines Freundes war nun ernst, Takato musste sich entschieden haben – er ging – ohne das Digivice. Von Jens Händen entlassen drehte er sich um, setzte sich auf die Klippe aus grauem Stein und schaute wieder in die Tiefe. Zusammen mit ihm entfernte sich ein blauer Punkt auf dem Display, der Pfeil war verschwunden. Regungslos beobachtete Jen, wie Takato mit den Zehenspitzen nach einem Felsvorsprung einen Meter unter ihm tastete und sich dann über die Kante des bleiernen Kraters gleiten ließ.

„Wohin willst du?"

„Ich gehe da 'runter. Du brauchst mir nicht zu folgen mit deinem verletzten Bein. Growmon kann dich nachher tragen, wenn wir zurück sind."

„Nein!" Nein, das würde er nicht zulassen. Sein Freund hatte ihn schon einmal allein gelassen, um etwas vor ihm zu verbergen. Diesmal würde er nicht auf einem Felsen sitzen und warten.

„Takato-kun, matte!", Jenryas Worte hallten zwischen den Felsen, „Ich lasse dich nicht allein da hinunter gehen. Das ist zu gefährlich!"

Tatsächlich zögerte der braunhaarige Junge, umständlich drehte er sich auf dem schmalen Vorsprung zu Jenrya um. Sich nur mit einer Hand festhaltend deutete er mit der anderen auf Jenryas Digivice.

„Mach dir keine Sorgen, Lee-kun, mit Hilfe meines D-Arcs weißt du ja immer, wo du mich finden kannst. Und falls mir da unten etwas zustoßen sollte, dann habe ich ja Gillmon, der auf mich aufpasst."

„Hör auf!" Jen hatte den Unterton in Takatos Stimme sehr wohl vernommen, doch er spürte kaum, wie sich seine Finger immer fester um das Digivice schlossen, wie sich seine eigene Stimme überschlug... „Hör endlich auf damit! ‚Gillmon, Gillmon, Gillmon' – du redest von nichts anderem. Wie lange willst du noch vor mir weglaufen und behaupten, du suchst nach ihm?!"

„Aber Jen, ich...", in Takatos Augen spiegelte sich vollkommene Verwirrung, „...ich muss ihn doch finden. Gillmon braucht—"

„Ich habe gesagt du sollst aufhören!", schrie er seinen Freund an, „Du weißt ganz genau, dass Gillmon nicht dort unten ist. Er ist nicht hier, verstehst du!" Takatos Lippen zitterten, suchten vergeblich nach Worten.

„Warum sagst du mir nicht ins Gesicht, warum du weggelaufen bist?! Hast du dich nicht getraut, wolltest du mich deswegen nicht mit dabei haben? Und damit du es weißt: Das vorhin war ein Unfall, ich wollte das nicht. Du musst also nicht länger vor mir davonlaufen!"

Lee schloss die Augen, versuchte die Tränen in ihnen zu verbergen. Einfach nur ein- und ausatmen – schlimmer konnte es nicht mehr werden! Jetzt war alles aus. Genauso gut könnte er sich in den Krater stürzen, darauf hoffen, dass diese Welt dieses Mal soviel Mitleid hätte, um ihn tatsächlich sterben zu lassen.

Ein Schluchzen durchbrach die Stille, doch es war nicht sein eigenes. Ein zweites Mal hörte er es, diesmal gefolgt von einem gedämpften Aufschrei. Er öffnete die Augen, doch es war zu spät. Takato hatte losgelassen. Durch den Schleier seiner Tränen hindurch glaubte noch er den Schopf des braunhaarigen Jungen hinter der Klippe verschwinden zu sehen, eingewoben in eine graue Staubwolke. Mit einem Satz warf er sich auf den felsigen Boden, versuchte Takatos Hand, seine Haare – irgendetwas – von ihm zu erwischen, doch da war nichts mehr, was er ergreifen konnte. In der Tiefe konnte er einen Aufschlag vernehmen, sah wie ein Körper in einem weißen T-Shirt weiter ins Innere des Kraters rutschte.

„TA KA TO!" Ein ungeheurer Schrei gellte durch den dunklen Krater, wurde von den toten Felswänden schrill zurückgeworfen. War nicht eben das Echo einer anderen Stimme dazugekommen? Inzwischen hatte der graue Nebel den Körper seines Freundes verschluckt, schob sich wie eine Wand zwischen die beiden Jungen.

„Ich komme, Takato-kun!" Ohne zu zögern stellte Jenrya sich auf die Kante. Alle Ängste vor dem eigenen Tod waren verschwunden, jederzeit würde er sein Leben für Takato opfern. Er würde springen, jeden Moment würde er sich fallen lassen, dann müsste es sich zeigen, ob Menschen in der digitalen Welt tatsächlich unsterblich waren. 

Und er zögerte doch. War es sein eigener Überlebensinstinkt, der ihn alle Dinge plötzlich so deutlich spüren ließ? Da waren die Tränen, die in seinen Augen brannten, er fühlte die Kälte der Windböen, die den Nebel unter ihm in kleine Fetzen rissen, das Gewicht des Digivices, das immer noch in seiner linken Hand lag und... leise piepte?

Viele schwarze Punkte waren auf dem Display des D-Arcs erschienen, blinkten synchron mit dem immer lauter werdenden Warnsignal des Gerätes. Und dann hörte er noch etwas anderes: Ein schrilles Gekreische erhob sich aus dem Zentrum des Kraters, ein verwundertes „Ah!" und „Oh!" aus zahllosen heiseren Kehlen. Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte auf die dunkle Wolke, die sich eben aus dem Nebel gelöst hatte und immer näher kam. Er wollte laufen, doch etwas hielt ihn fest an diesem Ort. Takato. Er durfte ihn nicht im Stich lassen. So oder so würde er sein Leben für ihn opfern. Auf den Felsen zerschellen oder von Wer-weiß-wem in Stücke gerissen zu werden – was machte das schon für einen Unterschied?

Die Wolke kam näher und mit ihr das ohrenbetäubende Kreischen. Deutlich vernahm er nun einige Worte, schrill und hässlich verzerrt.

„Da issst esss, dasss Kiiind"

„Holt das Kiiinnd! Ahh! Vergesssst nicht das Digivicss!"

 „Fannkt den Jungen, pakkkt den Jungenn!"

Jenrya erkannte sie nun. Es waren kleine, hässliche Kreaturen mit übergroßen Mäulern, die niemals stillstanden. Er hatte eines von ihnen schon einmal gesehen, damals auf dem Schulhof... Vilemon! – Diesmal musste es ein Dutzend sein. Schon waren sie über ihm, griffen mit ihren kräftigen Pranken nach dem D-Arc. Vergeblich versuchte er die garstigen Digimon durch wilde Schläge und Tritte auf Distanz zu halten, doch es waren zu viele. Schließlich lag er auf dem staubigen Boden, zappelte und rang nach Luft, während ihn spitze Klauen überall an seinem Körper packten. Mit einem hässlich klatschenden Geräusch breiteten sie ihre lederartigen Flügel aus und er spürte wie sie ihn mit sich in die Höhe rissen.

Beinahe hätte ihn ihr grausamer Gestank erstickt, jedoch wurde dieser bald von einer heftigen Böe fortgerissen. Sie schienen sich in großer Eile zu befinden. Einmal schaffte er es, zwischen den pechschwarzen Leibern hindurch ins Freie zu blicken. Er war nun fast über der Mitte des Kraters, sah wie der dunkle ‚Wald' auf ihn zuraste. Fast wollte er sich seinem Schicksal ergeben, regungslos seinen Tod erwarten, aber seine Sorgen um Takato ließen es nicht zu.

„Taka...to!", kaum konnte er seine Stimme von dem Kreischen um ihn herum unterscheiden.

„Zzappell nicht! Sonst werrfenn wiir dich auf die Felsenn und sammelnn dich wiederr auff!", krächzte es vom Fußende.

„Mach das und Meister Azaziel reißt dich in Stücke!", ertönte die Antwort direkt neben seinem rechte Ohr, „‚Bringt mir den Jungen mit dem neuen Vice und seinen Partner!', hat er gesagt. ‚Bringt sie mir unversehrt!', hat er gesagt."

„Viieleicht meinte derrr Meisterrr nur das Gerrrät und das Digimonn, nicht aberrr dass Kiinnd?"

Erneut schien der Anführer etwas erwidern zu wollen, doch er brachte nur ein panisches Kreischen hervor, während ihn etwas gleißend helles langsam in der Mitte durchbohrte. Hastig drehte Jen den Kopf weg, versuchte den aufkommenden Brechreiz zu überwinden. Schlimmer noch als die Krallen, die sich verzweifelt in seine rechte Schulter bohrten, war nur der Gestank von verbranntem Fleisch.

Wieder hörte er ein heiseres Kreischen, doch diesmal schien es aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. „Daaa! Noch eiinn Junnge!" „Fannkt ihn ein! Er hat das Digivicss gestohlenn!"

Noch ein Junge? Takato? Jens Herz schien für einen Augenblick auszusetzen. Erneut versuchte er hinunterzusehen, was ihm diesmal dank des fehlenden Anführers leichter gelang. Unten, zwischen den schwarzen Stämmen in der Mitte des Kraters, erkannte er einen Jungen in einem weißen T-Shirt. Aus seiner ausgestreckten Hand schossen in kurzen Abständen gleißende Lichtstrahlen wie Geißeln hervor, durchbohrten mit tödlicher Sicherheit die kreischenden Vilemon. Schon stürzten einige von ihnen zu Boden, zerfielen noch während des Falls in blauen Staub. Andere hatten sich von Jenrya gelöst und flogen auf den braunhaarigen Jungen zu, wütende Schreie ausstoßend.

„Pakkttt den Jungenn! Losss!" Mit jedem Flügel und jeder Klaue, die von ihm abließen, sackte Jen weiter nach unten, wehrte sich um so verbissener gegen die hässlichen Kreaturen.

„Wasss sollenn wiir mit dem hiierr machen?", ertönte es vom Fußende.

„Lasst ihn fallen!" Es waren die letzten Worte, die er vernahm, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Als er seine Augen wieder öffnete, lag er inmitten des dunklen Waldes. Um ihn herum waren die Körper zahlreicher Vilemon verstreut. Einige von ihnen waren an der harten Rinde der dicken, schwarzen Ranken zerschmettert worden und zuckten panisch mit ihren gebrochenen Gliedern. Verwundert betastete er seine eigenen Arme und Beine, konnte jedoch keine anderen Wunden als die Kratzer und Bissspuren der kleinen Kreaturen erkennen. Was war hier nur passiert? Mühsam stand er auf und stolperte vorwärts, der Schmerz in seinem Bein hatte an Intensität zugenommen. Hier und da trat er mehr oder weniger absichtlich auf eines der tödlich verwundeten Vilemon, das sich daraufhin in blauen Staub verwandelte. Er konnte sie nicht leiden sehen, selbst nach all dem, was sie getan hatten. Viele von ihnen waren von etwas Spitzem durchbohrt worden, ihre roten Augen waren starr vor Schock. Wer hatte die Biester nur derartig zugerichtet?

Der Spur aus Körpern folgend konnte er in einiger Entfernung eine kleine Lichtung erkennen. Und dort, zwischen den Silhouetten der kahlen Baumstämme, bewegte sich etwas. Schweigend näherte sich Jen der Lichtung, seine Augen stets auf den Schatten fixiert, in dem er seinen Freund zu erblicken hoffte. Auf halber Strecke verließen ihn seine Kräfte. Er fiel der Länge nach hin, sein Bein war wie gelähmt.

„Takato-kun, bis du das?", rief er dem Schatten zu, welcher sich sofort nach ihm umdrehte. Erst jetzt bemerkte Jen, dass neben Takato noch etwas anderes war, vermutlich die Silhouette eines drachen- oder dinosaurierartigen Digimons. Wie ein aufgeschrecktes Tier verschwand es zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung.

Abermals verlor Jenrya das Bewusstsein.