Wahrheiten



Kapitel 3



Desideria war am nächsten Tag als erste im Shuttlehangar. Kurz nach ihr kam Tom Paris herein, der sie mit einem eher beiläufigen „Guten Morgen!" begrüßte und im Shuttle verschwand. Normalerweise war Paris fast immer freundlich und bereit, die Stimmung mit irgendwelchen Scherzen aufzulockern, aber das war ihm zur Zeit wohl vergangen.

Vermutlich war er nicht sehr erfreut über diese Mission. Eine Woche lang mit dem Captain in einem Shuttle, wenn sie ihn erst vor knapp zwei Wochen aus der Arrestzelle entlassen hatte...

Desideria konnte sich angenehmere Arten vorstellen, den Urlaub zu verbringen. Aber eigentlich war es ihr egal. Sie jedenfalls freute sich riesig über diese Mission, und sie würde sich ihre gute Laune nicht durch Tom Paris' schlechte Stimmung verderben lassen.



Sie selbst hatte bis auf ein oder zwei Aussenmissionen nie viel mit ihm zu tun gehabt, aber natürlich kannte sie ihn. Nach fünf Jahren war es schließlich unmöglich, jemanden auf dem Schiff nicht zu kennen, wenn auch nur dem Namen nach. Aber Paris war von Anfang an recht bekannt gewesen.

Sie erinnerte sich noch gut an die erste Zeit an Bord: In den ersten Monaten hatte es immer wieder Probleme zwischen Maquis und Sternenflottenoffizieren gegeben.

Es schien so, als hätten die beiden Crews nur zwei Dinge gemeinsam: Sie alle waren im Deltaquadranten gestrandet, und sie alle hätten Paris am liebsten auf dem nächsten Klasse M-Planeten ausgesetzt – oder aus der nächsten Luftschleuse geworfen.


Fast niemand konnte verstehen warum der Captain einen Lügner (Sternenflotten-Sichtweise) und Verräter (Maquis-Sichtweise) zum Chefpiloten des Schiffes ernannt hatte. Oh sicher, er war gut, aber man konnte ihm nicht trauen, da waren sich alle einig.

Fast alle.

Kes wusste es nicht besser, außerdem war sie freundlich zu jedem. Aber jeder hatte den Kopf geschüttelt über Harry Kim, der sich ausgerechnet mit Paris anfreundete. Der junge Fähnrich hatte keine Schwierigkeiten Freunde zu finden, wieso also ausgerechnet Paris, das "persönliche Resozialisierungsprojekt des Captains", wie Chakotay es einmal so treffend formuliert hatte?

Über die Jahre hinweg hatten auch seine hartnäckigsten Feinde einsehen müssen, dass Paris seine guten Seiten hatte. Selbst Chakotay hatte sich mit ihm angefreundet, und es war klar geworden, dass Harry und Kes doch richtig gelegen hatten.


Tom Paris hatte sich als Mensch erwiesen, der ein unleugbares Talent dafür hatte, die Stimmung der Crew einzuschätzen und wenn nötig zu verbessern. Seine Holodeckprogramme waren bei allen beliebt, und er war immer der Erste, der einen Grund für eine Party fand. Selbst wenn es nichts zu feiern gab, konnte man sich darauf verlassen, dass er zu jedem Ereignis eine Wette laufen hatte, die zumindest die Moral der Gewinner regelmäßig hob. Zwar war Neelix der „Moraloffizer" des Schiffes, aber in Wahrheit bildeten er und Tom auf diesem Gebiet ein unschlagbares Team.


Seine Beziehung zu Lieutenant Torres war lange Zeit selbst Gegenstand vieler Wetten der Crew gewesen. Am Anfang ging es allerdings nur darum, wie lange es dauern würde, bis er eine dumme Bemerkung zuviel machen und sie ihm die Nase brechen würde. Ein paar Leute waren sogar der Meinung, sie würde ihm mehr als nur die Nase brechen....


Desideria erinnerte sich noch gut an einige Szenen im Kasino oder auf dem Holodeck, als Kim versucht hatte zwischen Paris und Torres zu vermitteln, die sich mal wieder wegen irgend etwas stritten. Zu dumm, dass sich seine beiden besten Freunde nicht ausstehen konnten. Er hatte es zutiefst gehasst, zwischen den Stühlen zu sitzen. Wer hätte damals ahnen können das die beiden zuerst nur Kim zuliebe Waffenstillstand schliessen, aber später wirklich Freunde, am Ende sogar ein Paar werden würden?


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Tom hatte wirklich keinen guten Tag. Er verstand noch immer nicht richtig, was eigentlich in Chakotay gefahren war. Sie waren zwar keine guten Freunde, aber nach all den Jahren hatte sich zwischen ihnen ein gegenseitiger Respekt aufgebaut. Wieso bestand der Commander jetzt also auf seiner Teilnahme an dieser Mission? Sollte das eine besondere Art von Bestrafung sein?


Es gab ein paar Leute, die ihn in den letzten Wochen immer wieder mit „Lieut...ähm, Fähnrich Paris." angesprochen hatten. Die meisten wollten ihn aus reiner Gewohnheit „Lieutenant" nennen und es war ihnen sehr peinlich, wenn sie ihren Fehler bemerkten. Doch es gab auch ein paar Crewmitglieder, die sich einen Spaß daraus machten, immer wieder den falschen Rang zu nennen, sich dann hastig zu korrigieren und eine besondere Betonung auf „Fähnrich" zu legen. Vermutlich war das ihre Art zu sagen, dass sie die Bestrafung des Captains für zu mild hielten.

War Chakotays kleiner Plan auch in diese Kategorie einzuordnen? Das sähe ihm nicht ähnlich, aber eigentlich war es Tom egal. Wenn er eins in seinem Leben gelernt hatte, dann wie man die Meinung anderer Leute am effektivsten ignorierte. Trotzdem irritierte ihn das Verhalten des Ersten Offiziers.


B'Elanna hatte das Ganze auch nicht verstanden. Als er ihr am Abend erzählt hatte, das Chakotay ihn zu einer Aussenmission mit dem Captain verdonnert hatte, bestand ihre Reaktion zunächst nur aus einem ungläubigen Blick. Sie hatte angeboten mit ihm zu reden, aber Tom hatte sie davon abgebracht. Er wusste genau, dass Chakotay seine Meinung nicht ändern würde, und er wollte nicht, dass B'Elanna anfing mit ihm zu streiten. Sie stand in letzter Zeit schon mit dem Captain auf Kriegsfuß, da war es nicht nötig, dass sie sich seinentwegen auch noch mit dem Ersten Offizer anlegte.


Er ging in das Shuttle und begann mit den Startvorbereitungen. Ein paar Minuten später kam Captain Janeway herein, gefolgt von Fähnrich N'ymes. Er saß mit dem Rücken zu ihr, trotzdem spürte er, wie sie einen winzigen Moment zögerte, bevor sie ihn mit einem „Mr. Paris" begrüßte. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, ihn hier vorzufinden.

„Captain." antwortete er, ohne seine Vorbereitungen zu unterbrechen. „Wir sind in wenigen Minuten startklar."

„Gut." Janeway deutete einladend auf den Platz an der taktischen Station. „Fähnrich N'ymes." Desideria zögerte und verwünschte die Tatsache, dass ihre Fühler schon wieder ein Eigenleben entwickelten. Die wenigesten Andorianer konnten diesen Teil ihrer Körpersprache kontrollieren, deshalb war ihre Nervösität nun für alle klar erkennbar.

„Ich war noch nie sehr gut an der Taktik, Captain."

„Dann wird es höchste Zeit, ihre Kentnisse etwas aufzufrischen, Fähnrich. Nur keine Sorge, es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir in einen Kampf verwickelt werden." Mit diesen Worten nahm Janeway an der wissenschaftlichen Station Platz.


Der Flug zum Nebel verlief sehr ruhig. Nach mehreren Stunden machte Tom eine Pause, während der Captain das Steuer übernahm.

Sie versuchte eine Unterhaltung mit Fähnrich N'ymes zu beginnen, und dabei zu vermeiden, dass die junge Frau vor lauter Nervösität kein Wort herausbekam. Nicht einmal Harry an seinem ersten Tag ist so schlimm gewesen, dachte der Captain belustigt.

„Ich möchte nicht unhöflich sein, Fähnrich, aber dürfte ich fragen, wie sie zu einem menschlichen Namen kommen? Soweit ich weiß, hat „Desideria" kein andorianische Bedeutung."

Desideria lächelte. „Ich bin nach der besten Freundin meiner Mutter benannt worden. Meine Mutter liebte diesen Namen, weil ihr der Klang und die Bedeutung gut gefielen."

„Desideria bedeutet „die Erwünschte", nicht wahr?" sagte der Captain.

„Ja. Meine Eltern haben längere Zeit ohne Erfolg versucht ein Kind zu bekommen. Als ich dann kam, hielten sie den Namen für passend." sagte sie. „Allerdings lautet mein Spitzname „Des", was im andorianischen eine Art kleinen Kobold bezeichnet, und das passte ihrer Meinung nach perfekt."