Wahrheiten
Kapitel 7
Ihr letztes Gespräch hatten ihnen beiden viel Stoff zum Nachdenken geliefert, und bald darauf waren sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Doch am nächsten Morgen nach dem Frühstück, das aus Notrationen bestand, redete Tom plötzlich weiter, als hätten sie ihre Unterhaltung nie unterbrochen:
„Zuerst war ich wütend auf Sie. Ich dachte an die Fälle, in denen Sie die Erste Direktive gebeugt oder gebrochen haben. Ich war wütend, dass Sie mich für etwas bestraften, dass Sie selbst auch schon getan haben. Aber ich hatte Zeit zum Nachdenken. Im erster Linie ging es nicht um die Erste Direktive, nicht wahr? Auch nicht darum, dass Sie als Captain Entscheidungen treffen können – manchmal müssen – die sich keiner von uns erlauben darf.
Es hatte viel mehr mit Befehlsverweigerung zu tun, damit, dass ausgerechnet ich ihre Befehle missachtet habe. Gerade Ihr persönliches Resozialisierungsprojekt ist aus der Reihe getanzt."
Sie sah ihn verwirrte an. „Mein was?"
Er grinste schwach. „Fünf Jahre hier draussen und Sie haben das noch nie gehört?"
Sie schüttelte nur den Kopf. „Nun, "Das persönliche Resozialisierungsprojekt des Captains", so haben mich ein paar Leute am Anfang genannt. Genau genommen hat Chakotay den Titel erfunden, obwohl er sicher nicht damit gerechnet hat, dass er sich in der gesamten Crew verbreitet."
„Ich denke ich werde ein ernstes Wort mit Chakotay reden müssen. Nicht nur deshalb. Ohne ihn wäre ich jetzt gar nicht hier. Wieso habe ich mich nur zu dieser Mission überreden lassen? Ich könnte gemütlich durch die Eingeweide der Voyager kriechen und Reperaturen durchführen." sagte sie und versuchte damit, ihre Verwirrung über diesen Titel zu überspielen.
Mein persönliches Resozialisierungsprojekt? Das klingt so abfällig, dachte sie. War die Meinung der Crew von ihm damals wirklich so schlecht? Andererseits hielt ich bei unserer ersten Begegnung auch nicht viel von ihm. Ich hätte nicht falscher liegen können.
Plötzlich wurde das Shuttle wieder durchgeschüttelt, und ein Alarm ertönte. „Was war das?" fragte Tom und versuchte, ein Sensorenbild zu bekommen.
Kathryn versuchte den Grund für den Alarm herauszufinden, doch was sie auf den Anzeigen sah, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen.
„Was ist los?" fragte Tom besorgt, als er ihren Gesichtsausdruck sah.
„Unsere Energiereserve wurde um fast 90% verringert." stellte sie fest.
Und sie konnten nichts dagegen tun. Ihre einzige Hoffnung war, dass die Voyager das Notsignal empfangen hatte, denn sonst würden sie erst in frühestens zwei Tagen anfangen, nach ihnen zu suchen.
Doch dann würde es bereits zu spät sein.
„Um auf das Thema von vorhin zurückzukommen..." sagte Tom.
„Ja?" fragte sie.
„Unsere Lage sieht ziemlich schlecht aus, also dachte ich, wenn ich jetzt nicht fragte, erfahre ich es nie." begann er. Es war untypisch für ihn, so um den heißen Brei herumzureden, und Janeway war neugierig, auf was er hinauswollte.
„Ich habe mich schon seit langem gefragt, warum Sie mich damals zum Führungsoffizier gemacht haben. Kaum ein Captain hätte einem Ex-Sträfling diesen Posten gegeben, ganz egal wie gut seine Fähigkeiten als Pilot sind. Haben Sie es wegen meinem Vater getan?"
„Nein." erklärte sie. „Und ja. Es waren viele Gründe." Janeway verlagerte das Gewicht und setzte sich bequemer hin. „Ich hatte an diesem Tag viel zu entscheiden. Mir war schnell klar, dass ich die Maquis nicht einsperren konnte, weil ich auf sie angewiesen war.
Wir hatten so viele Leute verloren, wir brauchten sie einfach. Dann dachte ich über Sie nach. Chakotays Reaktion auf der Brücke hatte mir gezeigt, dass es ernsthafte Schwierigkeiten zwischen ihnen geben würde. Ich entschied mich, Sie zu einem Besatzungsmitglied zu machen, weil ich erstens alle Leute brauchte, die ich bekommen konnte, und zweitens keine Passagiere durchfüttern konnte.
Also studierte ich noch einmal ausführlich Ihre Akte. Es war von Anfang an klar, dass ich Sie nur als Pilot einsetzten konnte, denn alles andere wäre eine Verschwendung Ihrer Fähigkeiten gewesen. Ich sah ebenfalls schnell, dass Sie mit Abstand der beste Pilot an Bord waren. Ich dachte erst darüber nach, Sie zum Crewman zu machen, trotz ihrer Offiziersausbildung. Aber dann erinnerte ich mich an Ihr Verhalten während der letzten Tage. Sie waren der Erste, der Harrys Verschwinden bemerkte, und als Sie mich baten, uns begleiten zu dürfen, merkte ich, dass Sie sich wirklich Sorgen um ihn machten. Damals dachte ich zum ersten Mal, dass doch mehr in Ihnen stecken könnten als der arroganter Angeber, den man auf den ersten Blick sah. Dass Sie in den Höhlen zurückgingen, um uns zu helfen und Chakotay retteten, bestärkte mich in dem Glauben, dass mein ersten Eindruck von Ihnen falsch war."
„Mein Benehmen in Neu-Seeland war nicht gerade... gut." gab er zu. „Ich wollte Sie nicht wissen lassen, dass ich bereit war so gut wie alles zu tun, um aus dem Gefängnis herauszukommen."
Sie lächelte. „Das ist Ihnen gelungen. An diesem Tag hielt mich nur der Wunsch, Tuvok wiederzufinden, davon ab, Sie dort zu lassen. Also nahm ich Sie mit, obwohl ich wusste, dass ihre Informationen veraltet sein würden."
Sie überlegte einen Moment, suchte nach den richtigen Worten, um das Folgende zu sagen.
„Wenn ich ehrlich bin, spielte ihr Vater doch eine gewisse Rolle bei meiner Entscheidung. Wissen Sie, seit ich ihn kenne, hat er immer wieder von seinem talentierten und wundervollen Sohn erzählt. Es war unmöglich, längere Zeit in seiner Nähe zu sein, ohne eine Geschichte über Sie oder ihre Schwestern zu hören. Tom hat dies getan, Kathleen hat das gemacht... In gewisser Weise war ich sogar eifersüchtig, weil ich sicher war, dass mein eigener Vater nie so oft über mich mit seinen Kollegen redete."
Tom wirkte verblüfft über diese Bemerkung. Sicher, er hatte gewusst, dass sein Vater vor seinen Kollegen gerne mit den Leistungen seiner Kinder, besonders seines Sohnes angab, aber das? So wie der Captain es schilderte, klang es tatsächlich nach einem liebevollen und stolzen Vater, der bei jeder Gelegenheit von seinen Kindern erzählte.
„Als ich nach der Zerstörung der Phalanx darüber nachdachte, was ich mit Ihnen machen sollte, erinnerte ich mich wieder an diese Geschichten.
Ich wusste nicht, wie der Junge aus Owens Erzählungen und der arrogante, vorlaute junge Mann auf meinem Schiff ein und dieselbe Person sein konnten.
Andererseits hatte Ihr Handeln gezeigt, dass etwas von diesem Jungen in Ihnen stecken musste.
Wenn ich ehrlich bin, hat es mich erstaunt, dass Sie in einem Notfall so schnell wieder wie ein verantwortungsvoller Sternenflottenoffizier handeln konnten. Sie haben sich genau so verhalten, wie es sich ein Captain von seinen Offizeren wünschen kann.
Die Art, wie Ihr Vater immer von Ihnen gesprochen hat, bestärkte mich darin, Sie zum Offizer zu machen, aber es war nur ein nebensächlicher Grund. Weit wichtiger war, dass ein Großteil meiner Crew entweder frisch von der Akademie kam, so wie Harry, oder höchstens ein bis zwei Jahre Erfahrung hatte. Das galt besonders für die Piloten.
Stadi war praktisch die Einzige, die Kampferfahrung hatte. Ich brauchte jemanden, der in Krisensituationen wusste was zu tun war und nicht in Panik geriet. Ihr Verhalten hatte gezeigt, dass Sie in Krisen ruhig und rational reagieren. Deshalb war es nur logisch, denjenigen zu Abteilungsleiter zu machen, der die meiste Erfahrung und das meiste Können hatte. Mit anderen Worten, Sie."
Janeway machte ein kurze Pause. „Ich habe Sie dann anstatt zum Fähnrich zum Lieutenant gemacht, weil ich wollte, dass Ihr Status an Bord klar war. Die Anweisungen eines Lieutenants sind nicht so leicht zu ignorieren oder zu umgehen wie die eines Fähnrichs. Ich hoffte, dass der Rang einige Schwierigkeiten mit der Sternenflotten- oder Maquiscrew verhindern würde."
„Mit anderen Worten, die Rangabzeichen bedeuteten: "Finger weg, er steht unter dem Schutz des Captains". Das dachte ich mir schon." sagte er mit einem schiefen Grinsen.
„Sie haben sich an diesem Tag meinen Respekt verdient, aber ich wusste, dass es noch Zeit brauchen würde, bis man das von jedem anderen Crewmitglied behaupten konnte." sagte sie. „Aber um das ganz klar zu sagen: Ich habe Sie damals aufgrund Ihres Verhaltens und Ihrer Fähigkeiten zum Offizer gemacht, nicht wegen Ihres Vaters." Sie ließ diese Worte einige Sekunden einwirken, dann lächelte sie auf ihre ganz spezielle Art. „Ich möchte, dass Sie eins nie vergessen: Sie sind all die Mühe wert gewesen. Glauben Sie nie etwas anderes, Tom."
Sie sagte diese Worte voller Überzeugung, und er spürte, dass es die Wahrheit war. Es machte ihn etwas verlegen, dass sie nach den jüngsten Ereignissen immer noch eine so gute Meinung von ihn hatte, und er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Aber er fühlte eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dieser erstaunlichen Frau.
Er hatte sich manchmal gefragt, was aus ihm geworden wäre, wenn sie ihn nicht für diese schicksalshafte Mission rekrutiert hätte. Er dachte nicht gerne darüber nach, doch tief in seinem Inneren kannte er die Antwort.
In gewisser Weise hatte Kathryn Janeway ihn damals gerettet, und Tom Paris wusste, dass er ihr für den Rest seines Lebens dafür dankbar sein würde.
