7. Kapitel: Der dunkle Wächter "Was machen sie?"

"Alagos holt sich gerade was zu trinken und Amdir....bei den Vallar!" Legolas sog scharf Luft ein.

"Was? Was ist mit Amdir?!" Gena streckte den Hals, wagte es aber nicht aufzustehen, da der Ast in ihren Augen alles andere als stabil aussah.

"Er...bewegt sich nicht! Er scheint zu schlafen!! Noch immer."

Gena blinzelte.

"Das ist nicht lustig", knurrte sie, nachdem sie eine Weile gebraucht hatte, um den schelmischen Ausdruck in Legolas' Gesicht richtig zu deuten, "das hier ist Ernst. Aber ich bezweifle ohnehin, dass dir dieses Wort geläufig ist..."-

"Was soll das nun wieder heißen?", empörte sich der Prinz.

"Ach nichts."

Legolas schüttelte energisch den Kopf. "Ich will jetzt wissen, was du damit gemeint hast!"

Gena winkte ab. "Das war nur so daher geredet. Vergiss es."

"Gena!"

"Schon gut, schon gut". Sie seufzte. "Manchmal habe ich das Gefühl, mit einem Kind beisammen zu sein, wenn ich bei dir bin."

Legolas Kinnlade klappte nach unten. Mit so etwas hatte er nun wirklich nicht gerechnet.

"Dann findest DU mich also kindisch?" Er klang entrüstet.

Gena antwortete nicht, sondern blickte bloß grinsend zu ihm auf.

"Falls du es vergessen haben solltest", erinnerte der Prinz beleidigt, "ich bin eindeutig der Ältere von uns beiden. Und der Reifere. Ich bin nicht kindisch."

Gena schwieg weiter. Ihr Grinsen reichte bereits von einem Ohr zum anderen.

Legolas schnappte empört nach Luft und verschränkte die Arme vor seiner Brust. "Nimm das sofort zurück."

Beharrliches Schweigen.

"Wenn du nicht sofort..."-

"Du Kind!", grinste Gena, "du tust es schon wieder- verhältst dich wie ein kleiner Junge!"

"Ich...hmpf. Na warte....!!"

Er streckte seine Arme nach ihr aus, aber Gena wich geschickt aus und lachte laut, als er ins Schwanken geriet, sich aber nach einer Sekunde sofort wieder fing.

So schnell es ihr möglich war, balancierte sie den Ast entlang weg von dem Elben.

"Du weißt aber schon, dass ich in einem Wald aufgewachsen bin. Und ich verbrachte sehr, sehr viel Zeit zuhause!", rief er ihr warnend nach, "ich könnte dich fangen, bevor du überhaupt daran denken kannst, wegzulaufen!"

"In deinen Träumen, Elb!", rief sie und kletterte zwar nicht besonders geschickt, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Stamm hinab.

Es war ein kleines Wunder, dass sie nach dem mühsamen Aufstieg so schnell wieder unten ankam. Vielleicht war es auch ihr Verfolger, der sie zu doppelter Geschwindigkeit anspornte.

Rasch sprang sie vom Baum, fing im letzten Moment einen Sturz ab, indem sie mit den Armen in der Luft ruderte und warf grinsend einen Blick über die Schulter nach hinten.

Entsetzt sah sie, wie der Elb mit erschreckender Schnelligkeit aufholte. Sie spornte sich zu noch größerer Geschwindigkeit an und raste im Zickzack zwischen den Stämmen der Mallornbäume hindurch, bis sie begriff, dass ein Elb das letzte Wesen auf Mittelerde war, welches sich in einem Wald verirren konnte, und rannte von da an nur mehr gerade aus, ziellos in den Wald hinein.

Sie erreichte einer grasbewachsene Lichtung und blieb atemlos stehen. Es sah so aus als hätte sie ihn doch abgehängt.

Trotzdem wog sie sich noch nicht in Sicherheit, sondern suchte den lichtdurchfluteten Wald um sich herum mit Blicken gründlich ab. Nein, nirgends eine Spur von Legolas. Nicht ein Laut war zu hören. Kein einziger.

In Genas Kopf begannen sämtliche Alarmglocken gleichzeitig zu schrillen.

Es war nicht, dass plötzlich eine Bedrohung aufgekommen wäre, oder sonst irgendetwas, das vorher nicht da gewesen war. Im Gegenteil. Es war die Abwesenheit jeglichen Geräusches, des permanenten Vogelgesangs, der inzwischen vertrauten Laute des Waldes, die ihre Sinne plötzlich mit erhöhter Anspannung arbeiten ließ. Selbst das ewige, leise Rauschen der Bäume war verstummt.

"Legolas?"

Ihre Worte hallten einsam durch die Luft und verloren sich im Wald, ohne dass sie erwidert wurden. Auch auf einen zweiten Ruf erhielt sie keine Antwort, bloß allumfassende, äußerst beunruhigende Stille.

Genas Herz hatte längst angefangen schmerzhaft gegen ihre Brust zu hämmern, denn im Gegensatz zu ihrem Verstand hatte es längst begriffen, dass hier Magie am Werke war. Gena drehte sich einmal um ihre eigene Achse und rieb sich fröstelnd die Oberarme. Dieser Teil des Waldes war ihr noch gänzlich unbekannt. Sie ging einige Schritte in die Richtung, aus der sie gekommen zu sein glaubte, blieb stehen, änderte den Kurs und hielt schließlich endgültig an. Um sie herum waren, so weit das Auge reichte, bloß die silbernen Stämme der Mallornbäume zu sehen und dazwischen der mit goldenen Blättern bedeckte Waldboden. Kein Stein, kein Busch der ihr einen Anhaltspunkt hätte geben können . Vor wenigen Sekunden noch waren ihr diese Wälder das Liebste und Vertrauteste auf dieser Welt gewesen- nun hatte sie das schicksalhafte Gefühl, in einer Falle zu sitzen, aus der es kein Entrinnen gab.

Sie verschränkte die Arme vor ihrem Oberkörper und realisierte erst jetzt, dass ihr Atem in Form kleiner, weißer Wölkchen vor ihrem Mund kondensierte. Ihre Hände begannen zu zittern, ihre Zähne schmerzhaft aufeinander zu schlagen.

Plötzlich wurde ein weicher Mantel über ihre Schultern gelegt und eine angenehm klingende,

männliche Stimme sagte: "Du solltest dich wärmer anziehen, der Winter ist nicht mehr fern."

Es war eindeutig nicht Legolas' oder die Stimme sonst irgendeiner ihr bekannten Person.

Gena stieß einen spitzen Schrei aus, streifte dabei den Mantel von ihren Schultern wie eine ekelhaftes Tier und wich gleichzeitig zwei Schritte zurück.

Es waren dieselben Augen.

"Endlich stehen wir uns gegenüber", lächelte der Elb sanft. Doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Sie blieben kalt und schwarz, wie in ihren Träumen.

"Der dunkle Wächter", krächzte Gena heiser. Zu mehr war sie nicht imstande. Vor ihr stand jene Person, vor der sie Galadriel seit zwei Wochen täglich gewarnt hatte. Vor ihr stand jene Person, welche der Auslöser all der Ängste und Qualen der vergangenen Monate war, der Grund, aus dem ihre beste Freundin und deren Verlobter nun tot waren, die Ursache allen Übels.

Sie hätte ihn hassen müssen, ihr Schwert ziehen sollen und alldem hier mit einem Male ein Ende bereiten können.

Stattdessen starrte sie ihn bloß dumpf an, unfähig zu auch nur einem einzigen klaren Gedanken außer: "Wie soll etwas so Schönes nur so böse sein?"

Und das war er wirklich, schön.

Es gab keinen Ausdruck, der besser zutraf. Sein rabenschwarzes Haar schimmerte im Licht der Sonne, sein Gesicht hatte hohe Wangenknochen und war von edlem Schnitt, seine Haut war blass und makellos wie die aller Elben, seine Augen mit dichten Wimpern umrandet. Trotz der spürbaren Kälte, die von ihm ausging, strahlte der Wächter noch etwas Vertrauenseinflößendes aus, was so gar nicht zu dem, was Galadriel über ihn erzählt hatte, passen wollte. Er war nicht immer böse gewesen.

Noch immer lächelnd hob er den Mantel auf und reichte ihn ihr erneut. "Du kannst ihn behalten."

Gena zögerte lange, dann streckte sie die Finger nach dem dunkelblauen Umhang aus und nahm in an sich. Dabei berührten sich seine Finger und die ihren für den Bruchteil einer Sekunde und sie musste sich zusammenreißen, um ihre Hand nicht erschrocken zurück zu ziehen. Ein intensives Gefühl der Vertrautheit durchfloss sie, aber bloß für eine Sekunde, dann wich sie erneut einen Schritt zurück. Er lächelte wissend, und sie begriff, dass diese Berührung Absicht gewesen war.

Denn dann erschallte irgendwo im Hintergrund eine Stimme, die ihren Namen rief. Beim nächsten Augenaufschlag war alles wieder wie zuvor. Der Wind wehte frisch durch den Wald und versetzte die Laubdächer der Bäume in Bewegung, Vögel zwitscherten munter und die eisige Kälte war verschwunden.

Das einzige, was an ihr unheimliches Treffen erinnerte, war der weiche Mantel in ihren Händen.

Legolas rannte plötzlich auf sie zu, den Bogen in den Händen , einen Pfeil auf der Sehne.

"Gena!", rief er schon von weiten, "ist bei dir alles in Ordnung?!"

Sie blinzelte irritiert und nickte zögernd, als Legolas vor ihr stehen blieb und sich besorgt umsah.

"Du warst plötzlich verschwunden", erklärte der Prinz und senkte Pfeil und Bogen, "und ich bekam auch keine Antwort, als ich nach dir rief."

Ihre Verwirrung schien ihr deutlich anmerkbar zu sein, denn nach einer kurzen Pause fragte er besorgt: "Geht es dir gut? Du zitterst ja!"

Sollte sie ihm vom dunklen Wächter erzählen?

Gena sah in Legolas besorgtes Gesicht und entschied sich dagegen. Sie wollte ihm nicht unnötig Sorgen bereiten. Außerdem hätte es ohnehin keinen Unterschied gemacht, denn darüber hinaus wusste sie nicht einmal selbst so richtig, was da eben passiert war.

"Es geht mir gut", versicherte sie, obgleich sie selbst in ihren eigenen Ohren unglaubwürdig klang.

Sie fühlte sich nicht gut, und man sah ihr den vergangenen Schrecken sicherlich an.

Legolas seinerseits spürte, dass sie nicht weiter reden konnte oder wollte, was ihm schwer auf dem Herzen lastete. Vertraute sie ihm denn nicht? Er hatte geglaubt, er wäre ein Freund für sie, vielleicht sogar etwas mehr.

Fragend wies er auf ihren Mantel. Er konnte schwören, dass sie den vorhin noch nicht getragen hatte. "Woher hast du den?"

Gena brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er meinte. Sie hatte sich den Mantel umgehängt und überrascht festgestellt, dass er sich äußerst gut und irgendwie...richtig auf ihren Schultern anfühlte. Als wäre dies der Platz, an dem er ursprünglich gehörte.

"Ein Geschenk Aragorns", murmelte sie ausweichend und strich gedankenverloren über das blaue Samt, in der Hoffnung, er würde ihr diese kleine Notlüge abnehmen. Wie es aussah, tat er es, denn er zuckte, nachdem er kurz und vielsagend die Stirn gerunzelt hatte, mit den Achseln und reichte ihr seine Hand. "Wir sollten uns beeilen. Die Sonne steht bald im Zenit".

Ach ja, Galadriel erwartete sie im Thronsaal zusammen mit diesen beiden fremdländischen Elben, Amdir und Alagos.

Etwas in ihr sträubte sich plötzlich unglaublich beim bloßen Gedanken, in den Palast zurück zu kehren und sie musste sich fast dazu zwingen, Legolas Hand zu ergreifen.

"Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde in deiner Nähe sein", versprach Legolas und schenkte ihr ein warmes Lächeln.

Sie erwiderte es dankbar und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den Palast. Lange noch kreisten ihre Gedanken um die Begegnung im Wald.