Draußen war es stürmisch.

Gena erwachte mit einem leisen Schrei und sah sich um. Dies war nicht mehr das Zimmer, in welches sie gegangen waren, dies war ein Ort, der nur in ihren Träumen existierte. Der Raum, in dem sie sich befand, war hell erleuchtet durch zahlreiche Kerzen und Laternen, die man an den Wänden entlang aufgestellt hatte. Zwei Fenster, davor weiße, seidenen Vorhänge, vom Wind aufgebläht. Ein weiterer Blitz zerriss draußen die Nacht, aber nicht ein Geräusch war zu vernehmen.

Sie sah, wie die Flammen der Kerzen flackerten, als der Wind durch das Zimmer blies und wie das Licht, welches sie spendeten, im selben Rhythmus über die Wände tanzte, und spürte sogar die Kälte unter ihre Decken kriechen. Aber sie hörte nichts. Es war die selbe Totenstille wie auf der Lichtung zuvor, dieselbe beunruhigende Stille, die sie nervös und ängstlich machte.

Alagos war nichts anderes als das elbische Wort für Sturm. Möglicherweise war das ein Hinweis. Sie stand auf, und erschrak wie schwer ihre Glieder waren und wie anstrengend und ermüdend der Weg bis zur Tür war. Sie führte direkt nach draußen. Gena musste kurz stehen bleiben und Atem schöpfen, bevor sie sie öffnete. Es war, also wolle sie etwas- jemand davon abhalten, den Raum zu verlassen. Als sie einen Schritt nach draußen in die unwirtliche Kälte der Dunkelheit gemacht hatte, verspürte sie das absurde Verlangen, umzukehren und wieder in das weiche Bett zu steigen. Doch das durfte sie nicht. Sie musste das tun, was Galadriel und die beiden Magier ihr aufgetragen hatten. Ihrem Schicksal gegenübertreten.

Tapfer tat sie einen weiteren Schritt in den Sturm hinaus. Eine kräftige Windböe ließ sie einen Augenblick lang schwanken und für Sekunden sah sie nichts, denn der Regen fiel in Strömen und dicht wie eine Mauer vom schwarzbewölkten Himmel. Die Arme schützend vor den Kopf haltend, den Oberkörper nach vorne gebeugt ging sie weiter, Schritt für Schritt. Was war ihr Ziel? Sie wusste es nicht. Sie folgte bloß einem Gefühl, mit dem festen Glauben daran, dass Galadriel und die anderen nur das beste für sie wollten und dass alles gut werden würde. Tief in sich trug sie noch immer die Hoffnung, dass sie eines Tages aufwachen würde, und das hier alles bloß ein übler Nachtmahr gewesen war.

Noch immer war es unmöglich, weiter als einen Meter zu sehen, zum einen, weil der Regen ihre Sicht noch immer wie ein silbriger, nasser Vorhang abschirmte, zum anderen, weil es so dunkel war. Der Himmel war so tiefschwarz, dass Gena sich für einen Moment fragte, ob er je die Sonne gesehen hatte. Dies war also ein Ort aus ihren Träumen? Wie tief mussten die Magier in ihr Bewusstsein eingedrungen sein, um eine solch trostlose Umgebung zu finden!

Mit jedem Schritt fühlte sie sich schwächer und ausgelaugter, bald schon musste sie ihre Augen mit Gewalt aufhalten, die Kraft, ihre Arme als Schutz vor Regen und Wind zu heben, fehlte ihr schon längst. Ihre Beine schienen Zentner zu wiegen, ihre Lider waren schwer wie Blei.

"Halte dich an etwas fest, das dir Kraft gibt"

Ihre Gedanken zogen sich zäh und langsam, aber sie klammerte sich an die erstbeste positive Erinnerung, die ihr in den Sinn kam und versuchte verzweifelt, daraus Kraft zu schöpfen. ......Sie ließ eine seiner Hände los, verlagerte ihr Gewicht zur Seite und ließ ihre Finger über sein Gesicht gleiten. Sie fuhr seine perfekten Augenbrauen nach, seine Ohren, berührte sanft seine Wange und formte sacht die Konturen seiner Lippen nach. Alles an ihm war perfekt, die Form seines Gesichtes, sein Haar, jede winzige Kleinigkeit schön und vollendet ins Detail, seine Haut wies keine einzige Unebenheit auf, nicht einen dunklen Schatten....... Es funktionierte. Sie ballte beide Hände zu Fäusten und sah entschlossen nach vorne, wo ihr ungewisses Ziel lag. Sie würde es schaffen. Sie musste es schaffen, wenn sie je wieder die Person sein wollte, die sie einst war. Gena Ransberg. Eine durchschnittliche junge Frau mit einem durchschnittlichen Leben in einer durchschnittlichen Stadt. Keine Magie, keine Weltentore, keine Orks, keine blutigen Kämpfe. Keine Freunde, für deren Tod sie verantwortlich war. Sie würde es schaffen, und nichts und niemand würde sie davon abhalten können.

Der Sturm war vorbei. Er schwächte nicht etwa ab und verzog sich langsam. Er war von einem Augenblick auf den anderen verschwunden. Sie blinzelte verwirrt. Ihre Kraft war zurückgekehrt, ihre Müdigkeit wie weggewischt. Für einen Moment hüllte sich alles um sie herum in Dunkelheit, dann stand sie plötzlich inmitten eines kleinen Wohnzimmers. Straßenlärm. Abgestandene Luft. Zigarettengeruch. Ein Schluchzen. Die Wohnung war sehr klein und vollgestellt mit dunklen, altmodischen Möbeln. Sie selbst stand auf einem dicken, gefälschten Perserteppich. Vor ihr befand sich eine abgewetzte, braune Polstergarnitur. Eine Frau lag darauf, zusammengekauert in embryonischer Haltung . Ihre Schultern zuckten . Gena konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber sie hörte ihre Schluchzer und dazwischen zusammenhangslose, gestammelte Worte. Neben ihr saß ein Mann, dunkles, kurzes Haar, in Kleidern, die vor zwei Jahrzehnten einmal modern gewesen sein mussten. Er hatte eine Hand auf die Schulter der Frau gelegt und versuchte offensichtlich, ihr Trost zu spenden.

"...uns damit abfinden", hörte sie ihn sagen. Die Frau reagierte mit einem noch lauterem Schluchzen, schniefte und stotterte etwas von einem grausamen Schicksal. Gena verstand bloß die Worte: "Die Ärzte müssen sich geirrt haben..."

Etwas in Gena erstarrte zu Eis, als sie die Frau sprechen hörte. Diese Stimme.... plötzlich läutete ein Telefon im Nebenraum. Der Mann stand auf, ging in einen anderen Raum. Man hörte seine gedämpfte Stimme, dann plötzlich schnelle Schritte. Er blieb im Türrahmen stehen, wartete, bis die Frau zu ihm hinsah, dann sagte er mit bebender Stimme: "Das Krankenhaus". Er schien Kraft für die folgenden Worte zu sammeln.

" Sie lebt. Die Ärzte können sich nicht erklären, was geschehen ist."

Er machte eine Pause, sichtbar überwältigt von seinen Gefühlen. Die Frau richtete sich langsam auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und starrte ihn einfach nur an.

"Sie lebt", wiederholte der Mann und seine Stimme versagte endgültig.

"Meine kleine Tochter", hauchte die Frau, "Gena lebt".

Genas Herz stockte. Sie erwachte.

Sie sah die fremden Gesichter der beiden Ostelben, welche die ganze Zeit über ihre Schläfen berührt hatten, nun aber überrascht zurückgewichen waren und sie anstarrten. Hatten sie gesehen, was Gena gesehen hatte?

Jemand hielt ihre Hand. Sie wandte den Kopf und blickte in Legolas Augen, die dunkel vor Angst und Sorge waren.

"Legolas!", flüsterte sie mit zittriger Stimme und setzte sich am Bett auf.

"Schhhht. Dinen ! [Still!]", verlangte er und nahm ihre zweite Hand, stets den Augenkontakt mit ihr beibehaltend.

Sie gehorchte und spürte eingetrocknete Tränen auf ihren Wangen. Sie hatte geweint? Das sah ihr nicht ähnlich. Sie weinte nur selten.

War das, was sie gesehen hatte, Realität gewesen? Oder bloß ein schlimmer Scherz, den ihr Grennrey oder diese beiden seltsamen Elben spielen wollten?

Nie hatten ihre Eltern ihr von einem ähnlichen Vorfall erzählt.

Gena merkte, dass sie wieder zu weinen begonnen hatte. Sie fühlte sich schwach und müde . Offensichtlich kostete es ihrem Körper größere Kraft soweit in ihren Geist vorzudringen, als sie erwartet hatte. Aber auch geistig fühlte sie sich schlaff, sonderbar ermattet und unkonzentriert. Widerstandslos ließ sie sich von Legolas in die Arme nehmen und musste sich eingestehen, dass es gut tat, ihn bei sich zu haben.

"Was du gesehen hast, war für dich allein bestimmt", hörte sie Galadriels Stimme sagen. Sie wusste, dass die Magierin lautlos neben das Bett getreten war, wollte aber nicht zu ihr aufsehen, aus Angst, die Kontrolle über sich zu verlieren.

Die Tür wurde geöffnet, eine Dienerin kam und reichte ihr einen Becher Wasser. Gena trank gierig aus. Als die Dienerin das Zimmer verlassen hatte, fragte Galadriel: "Fühlst du dich kräftig genug, weiterzumachen?"

Gena nickte und wollte bejahen, als plötzlich Legolas ihre Hand fester drückte und bedeutend den Kopf schüttelte. Sie verstummte augenblicklich und sah fragend zu ihm auf. Er hatte sich an Galadriel gewandt: "Verzeiht, meine Dame, aber sie ist trotz allem ein Mensch und schnell ermüdet. Lasst sie ruhen, damit sie wenigstens heute Abend an Aragorns und Arwens Hochzeit teilnehmen kann." Die Hochzeit! Darauf hatte sie ganz vergessen!

Galadriel sah alles andere als erfreut über diesen Vorschlag aus, nickte aber schließlich und deutete den beiden Ostelben, zu gehen. Gena sah Amdir und Alagos schon längst nicht mehr. Ihre Gedanken waren abgeschweift und geistig befand sie sich längst nicht mehr in dem Zimmer.

Galadriel starrte sie noch Sekunden lang ausdruckslos an, dann verließ auch sie den Raum.

"Soll ich gehen? Willst du alleine sein?"

Es dauerte einige Sekunden, bis seine Worte bis zu Gena durchdrangen. Sie starrte ihn erst sekundenlang unverwandt an, dann schüttelte sie den Kopf, zog die Decke bis an ihren Hals herauf und schmiegte sich zögernd an seine Seite. Legolas legte einen Arm um ihre Schultern und strich mit der anderen Hand zärtlich über ihr Haar.

Irgendwann bemerkte er, dass sie eingeschlafen war.