"Warum seid Ihr damit ausgerechnet zu mir gekommen?"

"Weil Ihr von Anfang an mehr wusstet, als ihr vorgabt, Amdir".

Der dunkelhaarige Elb schien für einen Moment wirklich überrascht zu sein, seinem Blick nach zu urteilen. Es war die erste ehrliche Reaktion, die Legolas an ihm erlebte. Doch bereits einen Augenblick später fiel der Magier in sein altes Muster zurück. "Ihr bezichtigt mich doch nicht etwa der Lüge, Prinz?", stichelte er und sah ihn lauernd an, "warum sollte ich euch in Hinsicht auf den Wächter belügen? Ich würde mir selbst genauso wie euch schaden!" Seine Worte waren so berechnend wie jede einzelne seiner Handlungen. Selbst der angedeutete Zorn in seiner Stimme war nichts als Theater. Jedoch hatte Legolas den Ostelben längst durchschaut. Er konnte förmlich sehen, wie es hinter der bleichen Stirn seines Gegenübers arbeitete, während er noch immer so tat, als wäre er in das Studium der Schriftrolle in seinen Händen vertieft. Eine Bibliothek war ein denkbar schlechter Ort, eine lautstarke Auseinandersetzung auszufechten, zu viele neugierige Augen und noch mehr Ohren würden ihre Worte mitverfolgen. Darum antwortete Legolas leise, in beiläufigem Tonfall, als würde er ihm eine Stärkung anbieten, während er scheinbar interessiert eine Reihe Bücher betrachtete: "Ich sagte nichts von einer Lüge, mein Freund. Doch Ihr habt uns die ganze Zeit über etwas verschwiegen. Und"- er sah den Ostelben noch immer nicht an, - "wagt es nun ja nicht, mit diesem dummen Spielchen fortzufahren. Ich bin vielleicht kein Magier, aber deswegen noch lange nicht blind. Ihr bergt ein Geheimnis, dessen Last euch erdrücken wird, wenn Ihr es nicht bald loswerdet." Amdir rollte das Schriftstück zusammen und schob es an seinen ursprünglichen Platz zurück. "Ihr solltet die Erzählungen Thorin Eichenschilds lesen", lächelte er nach einer langen Pause, "die zwergische Ausdrucksweise ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber seine Geschichten sind nichts desto Trotz aufregend zu lesen. Über die Mienen Morias berichtet er ganz besonders ausführlich...."

Legolas war nahe dran, den Magier zornig anzufahren, doch dann begriff er.

"Die Mienen Morias?", rief er aufgeregt, "finde ich sie dort? Ist Gena in Moria?!" Amdir hatte ihm den Rücken zugewandt und steuerte nun auf das Zentrum der Bibliothek zu. Dort befand sich ein rundes Loch im hölzernen Boden, durch welches der Stamm des Baumes wuchs. Eine Treppe, die aus der Rinde des besonders alten Baumriesen gemeißelt worden war, wand sich bis darum wie eine Schlange und endete nach etwa zwanzig Metern am Boden. Legolas musste dem Magier bis ganz nach unten folgen, um ihr Gespräch fortsetzen zu können. "In den aufgelassenen Mienen findet man einiges wieder, was als verschollen galt", meinte der Magier geheimnisvoll. Legolas mahnte sich zur Ruhe. Es war nun einmal die Art der Zauberer und Weisen mit rätselhaften Andeutungen um sich zu werfen, anstatt klare Antworten zu geben. Mithrandir war in diesem Punkt nicht anders gewesen. Nur hatte Mithrandir- oder Gandalf, wie er anders noch genannt wurde- nicht diese unausstehliche, heuchlerische Art gehabt. "Warum tut Ihr das?", fragte er nun anstatt weiter nachzubohren, denn er wusste, Amdir würde ihm nichts Näheres über Genas Verbleib verraten, selbst wenn er ihn am Kragen gepackt und geschüttelt hätte, "warum helft Ihr uns nicht so, wie es einem Erben der Istari würdig wäre?" Amdir blieb unerwartet stehen und fuhr ihn heftig an. "Mischt euch niemals", zischte er, "in die Angelegenheiten eines Zauberers ein, Prinz", und die Schärfe in seiner Stimme klang echt, "ich habe meine Gründe für das, was ich tue. Und auch für das, was ich nicht tue. Meine Aufgabe in dieser Angelegenheit ist noch nicht erledigt, doch was in diesem Augenblick geschieht, liegt in den Händen anderer". So wenig Legolas den Magier ausstehen konnte, so sehr erkannte er, dass dieser genau wusste, wovon er sprach. Immerhin hatte er ihm einen Anhaltspunkt gegeben- Moria. Er würde sofort mit einer Handvoll Männern aufbrechen, um die Mienen noch vor morgen Mittag zu erreichen.

Mit einem angedeuteten Kopfnicken wandte er sich zum Gehen. "Prinz", hielt ihn Amdir ein letztes Mal an, und seine Stimme klang ehrlich und versöhnlich, "tut nichts unüberlegtes. Dem Mädchen geht es gut, und es wäre unklug, sie durch voreilige Aktionen in Gefahr zu bringen." Legolas blinzelte ihm überrascht hinterher. Was er da eben gesagt hatte, schien er auch wirklich so gemeint zu haben! Kopfschüttelnd kehrte er zum Palast zurück. Natürlich dachte er über Amdirs' Wort nach. Doch was würde Gena mehr schaden: Eine voreilige Handlung oder gar keine? Für ihn stand außer Frage, was zu tun war. Obgleich die Sonne beinahe versunken war, hatte er keine Zeit zu verlieren. Auch nicht mit der bevorstehenden Versammlung. Aragorn und die anderen würden über seine Abwesenheit zwar verärgert sein, ihm aber sicher verzeihen.
* Sie musste zugeben, in dem Kleid sah sie um einiges königlicher aus, als sie es sich je zugetraut hatte.

Gena drehte sich, um sich von der Seite zu betrachten. In der Spiegelhalle war dies schließlich eine Leichtigkeit. Sanft strich sie über den weichen, grünen Stoff, der sich sofort wie feinste Seide an ihre Hand anschmiegte. Der Mantel, den ihr der Wächter damals in Lórien umgehängt hatte, war aus dem gleichen Material gemacht. Lórien...der Gedanke an den Wald schmerzte sie mehr, als sie sich erklären konnte, und sie verdrängte ihn hastig. Stattdessen sah sie sich gelangweilt im Saal um. Längst hatte sie jeden seiner Winkel gründlich erforscht und langsam, aber sicher, begann sie sich zu fragen, worauf der Wächter eigentlich wartete. Wie es aussah, schien er es nicht sonderlich eilig mit der Übernahme der Welt zu haben.

"Wie ich sehe, gefällt dir dein Kleid". Gena zuckte heftig zusammen und wirbelte erschrocken herum, um sich dem Wächter, der wieder einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht war, gegenüberzufinden. "In Sachen Höflichkeit müsst Ihr noch einiges dazulernen", murrte sie, nachdem sie tief durchgeatmet hatte. Der Wächter lächelte verschmilzt und fuhr ungehindert fort: "Grennrey liebte diesen Stoff. Er wird in Lórien aus den Fasern irgendwelcher Pflanzen hergestellt." "Ich glaube kaum, dass Ihr gekommen seid um euch mit mir über Textilien zu unterhalten", sagte Gena kühl und setzte dazu die finsterste Miene auf, zu der sie in der Lage war. "Da liegst du richtig. Ich nehme an, du hast deine Entscheidung gründlich überdacht?"

Gena schüttelte den Kopf. "Ich wüsste nicht, was es da zu überdenken gäbe. Ich habe euch meine Antwort bereits gegeben. Eher sterbe ich, als dass ich irgendetwas zu euren wahnwitzigen Plänen beitrage."

Er nickte. "Mit etwas in dieser Richtung habe ich gerechnet. Hast du Hunger?"

Gena starrte ihn verdutzt an. Das nannte sie einen fulminanten Themenwechsel. Eine neue Strategie um sie zu manipulieren? Wollte er ihr zeigen, wie nett er sein konnte? Wie lächerlich!. Natürlich hatte sie Hunger. Das wenige, was sie in den vergangenen Stunden zu sich genommen hatte, reichte beiweiten nicht, um ihre Eingeweide zum schweigen zu bringen. "Ich esse, wenn ich wieder zurück in Lórien bin", knurrte sie unwirsch.

Der Wächter machte ein bestürztes Gesicht. "Ich glaube kaum, dass du eine Ewigkeit überlebst, ohne Nahrung zu dir zu nehmen."

"Die Ewigkeit könnte in diesem Fall kürzer sein als Ihr ahnt", erwiderte Gena lächelnd.

"Wenn du damit auf deine Freundin, dieses Federvieh anspielen willst...", in seinen Augen blitzte es böse auf, doch Gena versuchte krampfhaft, sich nichts anmerken zu lassen, "...so muss ich dich enttäuschen. Sie hatte ein- sagen wir: unglückliches Zusammentreffen mit einem Pfeil."

Gena spürte, wie sie erblasste. "Ihr lügt! Sicherlich ist sie längst in Lórien angelangt und erstattet meinen Freunden Bericht. Denkt Ihr ich durchschaue eure billigen Psycho-Tricks nicht?!"

Der Wächter grinste unbeeindruckt, streckte seine Faust vor sich aus und öffnete sie. Ein wahrer Regen aus schwarzen Federn segelte daraus auf den glatten Spiegelboden.

"Bist du dir da auch wirklich sicher?" Fassungslos starrte Gena in sein Gesicht. Und im selben Moment wusste sie, dass er die Wahrheit sprach. Ihre letzte Hoffnung auf Rettung war damit zerstört.

Achas machte selbst im Tod ihrem Namen alle Ehre.

* Aragorn hätte vermutlich nichts von seinem unauffälligen Aufbruch gemerkt, hätte er ihm sein Vorhaben ins Gesicht gebrüllt, denn der König war frisch verliebt.

Arwen hatte einen gesunden Knaben zur Welt gebracht, und kaum hatte der König Gondors ihn in seinen königlichen Händen gehalten, war er als solcher nicht wiederzuerkennen gewesen.

Legolas hatte nur kurz vorbeigeschaut, um den beiden zu gratulieren, dann war er mit schlechtem Gewissen nach draußen geschlichen, wo drei weitere Elben bereits auf ihn gewartet hatten. An den Palastwachen vorbei und aus den Wald zu kommen hatte kein sonderlich großes Hindernis dargestellt, da sie genau gewusst hatten, was sie zu tun hatten. Das Reitpferd wieherte leise und stieß dem Prinzen unsanft gegen die Schulter. "Ich weiß, dass es dir nicht gefällt, aber du musst hier draußen auf mich warten, Calad", flüsterte er auf Sindarin und klopfte der Stute aufmunternd gegen den Hals. Sein Blick verlor sich in dem engen Tal, durch welches sie zu den Toren Morias geritten waren. Er und seine drei Begleiter, alles Grauelben aus dem Düsterwald, waren von der selben Düsternis empfangen worden wie die Gefährtschaft einst vor Jahren. Seit damals hatte sich hier wenig verändert. Trotzdem die Sonne hoch über ihren Köpfen schien, hingen dicke Nebelschwaden zwischen den Felsen und schwebten geistergleich über dem kleinen Bergsee vor ihm. Die dominierende Farbe war Grau. Am Ufer des Sees wuchsen etwas Schilf und einige immergrüne Pflanz, doch ansonsten war der Boden nackt und staubig. Irgendwo am gegenüberliegenden Ufer glaubte er für einen Augenaufschlag, eine Bewegung zwischen den Schilfrohren vernommen zu haben, redete sich aber ein, einer Täuschung zu unterliegen. Seine überreizten Nerven hatten ihm vermutlich einen Streich gespielt. Ein lautes Grollen hinter ihm zeugte vom Öffnen des riesigen Felsentores, welches ein paar fleißige Zwerge wohl einmal freigelegt haben mussten, nachdem es verschüttet worden war.

"Herr, wir können hinein!", rief Laruénel, der jüngste seiner Begleiter. Er hatte die elbische Zauberformel gesprochen. Es bereitete ihm Unbehagen, den jungen Elb von nicht einmal fünfzig Jahren einer möglichen Gefahr auszusetzen. Aber er hatte vorsorglich Männer gewählt, die sein vollstes Vertrauen genossen, und Laruénel, den er schon von Geburt an kannte, war ihm dabei als eine gute Wahl erschienen. "Dann lasst uns gehen!", verlautete Legolas mit einem zuversichtlichen Lächeln, das einzig und allein dazu diente, seinen Begleitern und auch ihm selbst Mut zu machen. Er spürte, dass sie nicht weniger angespannt waren als er. Mit dieser Befreiungsaktion vertrauten sie ihm schließlich nicht weniger als ihr Leben an.

Er betrat neben Laruénel die Höhle. Da sie auch in der Dunkelheit ohne Probleme sehen konnten, brauchten sie keine Fackeln. Die Leichname der Zwerge, die nach dem großen Orkangriff vor Jahren hier gelegen hatten, waren entfernt worden. Trotzdem haftete der ganzen Höhle ein atemberaubender Gestank nach Unheil und Verwesung an. Ihm schauderte. "Das ist also das berühmte Moria", murmelte Laruénel wie zu sich selbst und schien äußerst beeindruckt zu sein von dem, was er sah. Dabei gab es hier nicht viel mehr als nackte Felswände und staubigen Boden. Wie ein kleines Kind lief Laruénel ein paar Schritte der Gruppe voraus, sich immer wieder interessiert nach allen Seiten umkehrend. Legolas runzelte missbilligend die Stirn, denn er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, und es wurde mit jeden Schritt stärker. "Laruénel, warte auf uns", befahl er streng.

Der Elb blieb wirklich stehen, sein Körper spannte sich, während seine Hand den Bogen darin fest umklammerte. Gewarnt hielten auch die anderen. "Was ist?", hauchte Legolas, gerade laut genug, um sicher zu sein, dass der Elb ihn gehört hatte. Laruénel zuckte mit den Schultern, wartete noch eine Sekunde zu und ließ seine Hand dann wieder sinken. Mit einem entschuldigenden Achselzucken drehte er sich zu ihnen um.

"Entschuldigt. Ich dachte, ich hätte einen Schatten gesehen. Aber..". Etwas zischte hinter ihm durch die Luft. Laruénels Reaktion war unglaublich schnell, doch völlig falsch: Anstatt sich zu ducken, drehte er sich um, mit dem Ergebnis, dass ihm der Pfeil direkt in den Hals fuhr. Die Wucht, mit dem ihn das Geschoss traf, ließ ihn meterweit zurücktaumeln und stürzen. Legolas und die beiden anderen Elben hatten die Lage blitzschnell erfasst. Für ihren jungen Begleiter gab es keine Rettung mehr, es galt, sich selbst in Sicherheit bringen. Der Gang bot nur hinreichend Deckung, sie mussten sich mit Felsnischen begnügen. Erelen und Ernatian, die beiden anderen, zielten mit zusammengekniffenen Augen in die Finsternis, während Legolas einen Blick auf Laruénel zu erhaschen versuchte. Sein Körper zuckte, doch nach einer Weile lag er still.

Erst nach Minuten verließen sie vorsichtig, mit gezückten Waffen ihre Deckungen. Sie konnten in der Finsternis weder etwas Verdächtiges hören noch sehen. Legolas ließ sich neben Laruénel sinken, während die beiden anderen mit gespanntem Bögen weiter die Höhle absuchten. Der Pfeil hatte seinen Hals präzise an der Luftröhre durchbohrt. "Orks?" fragte Erelen ohne sich umzuwenden. Er konnte ihm keine Antwort geben. Es war zwar die Art der Orks, aus dem Hinterhalt anzugreifen, aber wenn es wirklich ein Ork gewesen wäre- warum wimmelte es dann hier nicht schon von ihnen? "Nein", murmelte Legolas kopfschüttelnd und fühlte, wie sich sein Magen krampfte, als er die schreckliche Wunde an Laruénels Hals und die Unmengen an Blut, die er verloren hatte, erblickte. Er war daran erstickt. Der Blick seiner gebrochenen Augen ging starr an ihm vorbei in die Ferne. Legolas fröstelte. Man hätte denken mögen, Dutzende Schlachten, die er in seinem Leben geschlagen hatte, hätten ihm den Anblick eines Toten erleichtert, aber dem war nicht so. Dieses Mal war es Erelen, der ein kurzes, elbisches Gebet sprach, das einsam durch den kalten Gang hallte um irgendwo in der Dunkelheit zu verklingen. Danach erst wandte sich Legolas dem Geschoss zu. Es war schwarz gefiedert, wie die Pfeile der Orks, aber aus eindeutig hochwertigerem Material. Laruénel hatte einen metallenen Brustpanzer getragen, und man hätte seinen Tod auf einen Glückstreffer zurückführen können, doch man musste schon Riesenglück haben, um genau die verwundbare Stelle zwischen Schlüsselbein und Kinn zu erwischen. Oder, in Laruénels Fall, noch riesigeres Pech. Wäre er doch bloß ein paar Zentimeter zur Seite gewichen.... mit einer abgehackten Bewegung schloss er Laruénels Augen.

"Wollt Ihr umkehren, Hoheit?"

Legolas schüttelte energisch den Kopf. Umkehren? Damit Laruénels Tod völlig umsonst gewesen wäre? Diesen Triumph würde er dem Wächter nicht gönnen.

"Wir gehen weiter. Seid wachsam und lasst eure Bögen in den Händen! Ihr werdet sie brauchen."

Der Pfeil, schwarz und schlank, gab ihm das Gefühl, ihn bereits einmal gesehen haben zu müssen- aber offensichtlich begann sein Gedächtnis unscharf zu werden. Lautlos schlichen sie weiter, eng an die Wände der Miene gepresst, mit zum Zerreißen angespannten Nerven.
* "Wir hätten nie nach Lórien kommen dürfen", murmelte Arwen matt und strich ihrem schlafenden Kind zärtlich über den Kopf.

Aragorn, der am unteren Ende des Bettes saß, müde gegen einen hölzernen Bettpfosten gelehnt, sah seine Frau in stummen Einverständnis an. Sie waren hierher gekommen, damit die Geburt des Thronfolgers an einem sicheren Ort stattfand. Gondor war zwar in den letzten Jahren zu einem Reich geworden, durch das man ohne Ängste vor Überfällen reisen konnte. Dennoch hatten sie Drohungen bezüglich ihres damals noch ungeborenen Kindes erhalten, welche sie zu der Entscheidung gelangen ließen, in den goldenen Wald zu reisen.. Zumindest, bis die feigen Attentäter ausfindig gemacht waren. Sicher war sicher. "Dieses Menschenmädchen hat sich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt gewählt, um auf der Bildfläche zu erscheinen", murrte die Königin. Ihr sorgender Blick ruhte liebevoll auf dem Köpfchen des nun fast zwei Tage alten Jungen, welcher friedlich auf ihrer Brust schlief. Noch hatte er die typischen blauen Augen eines Neugeborenen und seine kleinen Hände öffneten und schlossen sich immer wieder, selbst im Schlaf. Noch schlief er friedlich und ruhig in ihren Armen. Noch. Arwen spürte, dass dieser Zustand der Ruhe und des Glücks nicht lange andauern würde. Etwas Düsteres braute sich zusammen, und wie unsereins dunkle Gewitterwolken am Horizont sich sammeln sieht, wusste sie, dass etwas geschehen würde. Und dass ihre Familie und sie gut daran getan hätten, Lórien so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. "Ich frage mich, wie es Legolas geht", murmelte sie gedankenverloren und sah aus dem Fenster. Aragorn schnaubte leise. Der sogenannte "Prinz" des Düsterwaldes hatte nicht einmal den Anstand besessen, sich zu verabschieden, als er sich mit drei Männern und diesem Magier aus den Staub gemacht hatte. Und so etwas schimpfte sich Freund. "Wer hätte geahnt wie närrisch dieser Elb sein kann, wenn es um ein Mädchen geht", knurrte er ärgerlich und sah ziemlich sauer aus. "Wenn es um die Liebe geht, geschehen die seltsamsten Dinge mit den Menschen", verteidigte Arwen ihren alten Jugendfreund, "tu nicht so als hättest du stets besonnen und überlegt gehandelt, damals."

Aragorn grinste gequält, wurde aber sofort wieder ernst. Ja, natürlich war er in seinen jüngeren Jahren so manches Risiko eingegangen um seiner geliebte Arwen seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Und er hätte sich vermutlich alleine gegen die Götter gestellt, wäre es Arwen wie Gena ergangen. "...aber er ist über Dreitausend Jahre alt!", entgegnete er und machte eine hilflose Geste mit den Händen, "da kann man doch einen gewissen Grad an innerer Ruhe und Reife von ihm erwarten, findest du nicht?"

Arwen lachte leise. "Als ob das Alter etwas damit zu tun hätte, Estel. Er wäre gegangen, selbst wenn Sauron selbst sich ihm in den Weg gestellt hätte." Aragorn wurde plötzlich ganz mulmig zumute bei diesen Worten. Wer wusste, vielleicht war es ja genau jener, der hinter alldem hier steckte....wenngleich das schlichtweg unmöglich war. Als Arwen ihm forschend in die Augen sah, wich er ihren Blick aus und tat, als blicke er nachdenklich aus dem Fenster. In Wirklichkeit wollte er nicht, dass sie wusste, was er dachte. Er wollte sie nicht beunruhigen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie Lórien verließen. Doch konnte er es mit seinem Gewissen vereinbaren, seine Freunde so im Stich zu lassen? Nein. Im Gegensatz zu seinem elbischen Freund würde er hier bleiben, wenn es darauf ankam. Wenn er wenigstens eine Botschaft hinterlassen hätte, in der sein Ziel verzeichnet war. Aragorn hatte mit dem Gedanken gespielt, dem Prinzen einen Trupp Krieger hinterherzuschicken, es sich dann aber anders überlegt.

Sollte dieser verliebte Narr die Abreibung bekommen, die ihm zustand.

Nur langsam verflog seine Wut. "Was ist eigentlich mit Gena und dir?", fragte er wie nebenbei, und sah dabei auf seinen Sohn nieder. Noch hatte er noch keinen Namen. Seine Ohren waren leicht angespitzt und seine Haut hell wie die seiner Mutter. Doch sein Haar war schwarz wie das seine.

"Ich weiß es nicht", gab Arwen zu. Er spürte, dass sie sich nicht wohl fühlte. Der Junge regte sich unruhig im Schlaf. "Ich weiß, dass sie mich nicht leiden mag. Etwas an ihr....ich spürte das Chaos, das sie in diese Welt bringen würde, glaube ich." *

"Es sieht ganz so aus, als würden wir Besuch bekommen".

Der Wächter ließ seine Hand wieder sinken und starrte irgendwo an ihrer Schulter vorbei ins Leere, doch Gena hatte trotzdem das Gefühl, dass er sehr wohl etwas sah.

Besuch? Genas Herz begann schneller zu klopfen. Also hatte sie doch Recht gehabt! Achas war unbehelligt in Lórien angelangt und nun kamen sie, um sie zu holen. Allerdings...hatte sie ihnen nicht ausgerichtet, sie sollen warten? Egal, Hauptsache sie käme endlich aus diesem verfluchten Kasten raus!

"Nun? Was habe ich euch gesagt?", rief sie triumphierend und lief zum Tor hin. Natürlich sah sie nichts, aber immerhin wusste sie, dass irgendwo weit über ihr jemand war, der von ihrem Hiersein wusste. Als keine Antwort kam, wandte sie sich wieder dem Wächter zu. Er stand, gelassen wie immer da und zuckte mit den Schultern. "Es sind bloß drei. Einer davon ist dein Elbenfreund, Legolas". Er sah sie wissend an, mit einem leicht anzüglichen Lächeln auf den Lippen. Dann, schlaghaftig ernst werdend, fuhr er fort: "Mein Diener wird sich ihrer annehmen. Er ist ein ausgezeichneter Schütze. Er hat schon..." - Er brach ab, schien einen Moment lang zu lauschen und ein niederträchtiges Lächeln begann seinen Mund zu umspielen- "Oh, ich habe mich geirrt. Jetzt sind es nur noch zwei."

Ihr Herz begann schmerzhaft gegen ihre Brust zu hämmern. Doch sie verbat sich, an das eventuell Geschehene zu denken. "Es werden weitere kommen", rief sie zornbebend und wies mit ausgestrecktem Finger durch das Tor, "Dutzende starke Krieger, wenn nicht Hunderte! Und wenn sie versagen, werden Galadriel, Amdir und andere mächtige Magier sich gegen euch stellen, und ich werde ihnen dabei helfen! Ihr seid vielleicht mir überlegen, aber gegen uns alle gemeinsam habt Ihr keine Chance! Darum lasst mich gehen! Was bringt es euch, mich noch länger hier gefangen zu halten?!" Sie verstummte plötzlich, als sie begriff.

"Eine Welt lässt sich weit bequemer erobern, wenn man sie auf einen Schlag an sich reißen kann, nicht wahr?", meinte der Wächter. Er hatte recht. Mit Aragorn würde er den mächtigsten König der Menschen vernichten und hatte somit mit relativ wenig Widerstand auf menschlicher Seite zu rechnen. Und durch den Tod oder die Gefangennahme von Galadriel, Celeborn und Elrond würde er sich den Rest des Weges ebnen. Ohne ihre größten Führer stellten auch die wenigen Elben Mittelerdes keine ernstzunehmende Gegner mehr da. Natürlich waren da noch die Grauelben, doch der Tod ihres Thronfolgers würde sie stark verunsichern. Möglicherweise würde ein Großteil des schönen Volkes danach Mittelerde den Rücken kehren und in die unsterblichen Lande segeln, und den anderen ihrem Schicksal überlassen. Mit dem verbliebenen Widerstand von Seiten der Zwerge und anderer Völker würden die Armeen des Wächters zweifelsohne problemlos fertig werden, und eine weitere Welt würde im Schatten versinken....Mittelerde wie sie es kannte würde aufhören zu existieren. "Natürlich gäbe es da noch immer eine Alternative, bei der deine Freunde unbeschadet davonkommen würden", las der Dunkelelb ihre Gedanken, "und du kennst sie. Verbünde dich mit mir, und ich verspreche dir, nachsichtig mit ihnen zu sein." Lange versuchte sie ihn mit Blicken zu durchbohren und wünschte ihm alles Schlimme, was sie sich im Moment auszumahlen imstande war, an den Hals.

"Nicht, solange noch ein Funken Verstand in meinem Gehirn glimmt", fauchte sie schließlich.

Der Wächter nickte einsehend, dann packte er sie blitzschnell am Unterarm und schlang seinen Mantel um sie. Gena wollte schreien, da ließ er sie auch schon wieder los. Fluchend stolperte sie einige Schritte nach vor und setzte an zu einigen lautstarken, undamenhaften Beschimpfungen, als ihr einige Dinge gleichzeitig auffielen: Sie befanden sich nicht mehr in dem seltsam irrealen Spiegelraum, sondern auf einem mächtigen Felsenvorsprung eines äußerst hohen Berges. Wo sie waren konnte sie nicht sagen, sie sah bloß gewaltige Gesteinsmassen, welche den Raum bis zum Horizont vollständig ausfüllten, spitze Berggipfel mit Eis überzogen und dazwischen bodenlose, schwarze Schluchten. Weder Tag noch Nacht herrschten an diesem grausig kalten Ort, sondern ein ungutes Zwielicht, und keine Farbe konnte man erkennen, selbst die wenigen Bäume in den flacheren Schluchten waren schwarz und grau. Eiskalter Wind zerrte an ihrem Kleid und den Haaren und ließ ihre Zähne klappern, während er anderswo pfeifend die scharfen Kanten der Felsen umwehte. "Wo sind wir?", fragte sie wie taub und etwas ängstlich, denn die Landschaft hatte etwas von einem Albtraum an sich. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese düstere Landschaft sich in Mittelerde befinden sollte. Der Wind riss ihr die Worte aus dem Mund und trug sie mit sich davon, dennoch schien der Wächter sie verstanden zu haben. Auch seine Haare und der schwarze Mantel umtanzten seine Gestalt wie eigenständige Wesen, vom Wind in ungleichmäßige Bewegung versetzt. Er sprach nicht, sondern kam immer näher, bis er ganz dicht vor ihr stand und Gena ernsthaft etwas befürchtete, das sie nervös stimmte.

Aber der Elb sah ihr bloß kurz in die Augen, dann nahm er sie an beiden Schultern und zwang sie mit sanfter Gewalt, sich umzudrehen.

Zuerst begriff sie nicht, was er damit bezwecken wollte.

Ihr Blick glitt über das tiefhängende Firmament, dann, etwas darunter über weit entfernte, flachen Lande und weilte schließlich auf der mit Tausenden kleinen Felsen übersäten Ebene Hunderte Meter unter ihren Füßen, die sich zu beiden Seiten mehrere Kilometer hinzog.

Sie starrte lange dumpf in die schwarze Masse aus Steinen. Dann verstand sie. Es waren keine Felsen.

Es war ein einziges, gigantisches Heer. "Du sprachst von Vernunft", flüsterte der Wächter an ihrem Ohr, und sie spürte ihn lächeln, "dann überlege logisch: Wenn ich dieses Heer nach Mittelerde schicke- sag, wer wird ihm ernsthaft etwas entgegensetzen können?" Sie war zu keinem Wort imstande, doch es war auch nicht nötig, etwas zu sagen. Die Antwort auf seine Frage befand sich unter ihnen, in jeden einzelnen dieser finsteren Krieger. Wo, fragte sie sich schaudernd, wo in aller Welt hatte er eine solche Menge an Kämpfern auftreiben können? Wie viele Welten hatte er aufsuchen müssen, um ein solches Heer auf die Beine zu stellen? Er würde diese gigantische Ansammlung von Orks, Urûks und zahllosen anderen, dunklen Völkern, deren Namen noch kein Mensch zuvor gehört hatte, auf Mittelerde loslassen, mit ihr oder ohne sie. Es war bloß eine Frage der Zeit. Niemand würde ihn mehr aufhalten können, dazu war es nun zu spät.

In ihrer Freude über den Niedergang Saurons hatten die Völker Mittelerdes eines vergessen: Dass sein Geist unsterblich war, und sein Wille zu zerstören ungebrochen.

Die Zerstörung des einen Ringes hatte ihn für lange Zeit geschwächt- und in diesem Körper eingeschlossen zu sein, stellte eine zusätzliche Behinderung dar- aber die, die ihm treu geblieben waren, hatten ihm dabei geholfen, neue Armeen um sich zu scharren. Und nun stand die Rache bevor.

N a c h w o r t : *Schluchz* heul * Langsam glaub ich selbst nicht mehr an ein Happy- End :( :( !!!