Da gab es natürlich einige Leute, die sich "Freunde" nannten und die sie in
den folgenden Wochen besuchen kamen. Studienkollegen, alte Freunde vom
Gymnasium und nahe Verwandte. Schon nach der ersten Woche hatte sich das
fade, kahle Krankenzimmer völlig verändert, denn Tisch, Nachtkästchen und
Fensterbrett waren gedrängt voll mit Vasen voller Blumen in allen Farben
und Formen. Jemand hatte ihr sogar einen kleinen Strauße hellblauer
Vergissmeinnichts neben das Bett gelegt. Jedes Mal wenn Gena diese Blumen
sah, wurde ihr schwer ums Herz, denn die zarten Blüten sahen den Tecyor aus
Lórien zum Verwechseln ähnlich.
Je gesünder und kräftiger sie wurde- und dies geschah mit einer geradezu
unheimlichen Geschwindigkeit, die den Ärzten zu rätseln aufgab- desto
trauriger und nachdenklicher wurde Gena.
Als sie nach einer kleinen Ewigkeit, so schien es ihr, endlich ihr Bett verlassen durfte, stand sie oft Stunden am Fenster und starrte nach draußen. Wie über Mittelerde war auch über diese Welt der Winter gekommen und vor einigen Tagen war bereits der erste Schnee gefallen. Das Wetter passte zu ihrer Laune. Ihr Leben erschien ihr grau und hoffnungslos wie die Stadt, die sie aus der Ferne beobachtete. Eine schmerzende Leere begann sich in ihrem Inneren auszubreiten, die sie nicht verstand, die ihr aber Angst machte. Kaiser stattete ihr regelmäßige "Besuche" ab, die aber eher Verhören glichen als solchen. Wer hinter ihr her sei, was sie denn getan habe, um den Zorn jener Leute auf sich zu ziehen, ob es denn gar eine Sekte sei. Sie wisse es nicht, erinnere sich nicht genau, habe wohl im Schock alles verdrängt, lauteten ihre plumpen Antworten darauf. Einmal war er aufbrausend geworden, hatte angefangen zu schreien und unsinnige Drohungen ausgestoßen, mit dem Ergebnis, dass sie die Schwester rief, die den Beamten augenblicklich aus dem Zimmer und zur Stationsleitung verfrachtete. Zwischen Schwester Klara und dem Kommissar war ein regelrechter Kleinkrieg entflammt, und Gena stand natürlich stets auf der Seite der liebenswerten Schwester mit dem etwas derben Humor.
Der Tag ihrer Entlassung rückte unaufhaltsam näher. Eines Morgens war es dann soweit.
Klara war so freundlich gewesen, ein paar ihrer alten Sachen aus der Wohnung ins Krankenhaus zu bringen. Doch trotz des warmen Pullovers und des gefütterten Wintermantels fror Gena erbärmlich, kaum dass sie einen Fuß nach draußen gesetzt harte. Fröstelnd hauchte sie in ihre Hände und rieb diese aneinander, dann suchte sie mit Blicken den Parkplatz vor dem Krankenhaus ab. Kaiser hatte ihr angeboten, sie nachhause zu fahren. Nachhause. Ihr Blick wurde leer. Die Stadt ihrer Geburt schien ihr auf einmal so abweisend und kalt wie nie zuvor. Sie freute sich nicht auf ihre Wohnung, im Gegenteil. Sie hatte Angst vor dem Moment, in dem sie sie betrat. Denn spätestens in jenem Moment würde der Alltag wieder seinen Einzug bei ihr halten. Sie wusste nicht, wie ihre Zukunft aussehen würde. Das Medizinstudium hatte sie beinahe abgeschlossen, möglicherweise würde sie es wieder aufnehmen, auch wenn sie Unmengen an Stoff versäumt haben musste. Trotzdem...sie hatte gesehen, wie Menschen durch Magie wieder zum Leben erweckt oder geheilt wurden- was an der Uni unterrichtet wurde hatte allerdings absolut nichts mit Magie zu tun. So wie diese ganze Stadt, diese Welt. Ihr fehlte dieser geheimnisvolle Glanz, der alles und jeden in Mittelerde umhüllt hatte, dieses Magische, das ihre Neugierde geweckt und sie fasziniert hatte. Sie vermisste die Vielfalt der Völker, den weichen Klang des Sindarin und die Diskussionen, die sie mit Aragorn und ihrem Lehrer Reypal geführt hatte. Endlich erblickte sie Kaiser, der winkend, die Hände wie sie aneinanderreibend auf sie zugelaufen kam. "Entschuldigen Sie, aber die Straßen sind spiegelglatt und Begriffe wie Split und Salz scheinen den hiesigen Straßenmeistereien ein nicht geläufig zu sein!" Er kam bei ihr an, atemlos und mit einem breiten Grinsen im Gesicht, das ihr ihn fast sympathisch machte. Fast. Er meinte es sicher nicht persönlich, doch alleine die Art, wie er vor jeder Befragung seinen Notizblock gezückt hatte, hatte sie zur Weißglut getrieben. Sie murmelte ein: "Ist schon gut" und ging schweigend neben ihm her zu seinem dunkelblauen BMW, das typische Fortbewegungsmittel gutverdienender Beamter. Nicht so protzig wie ein Mercedes, aber doch ein Hinweis auf beachtenswerte Einkünfte. Wenigstens hatte eine ordentliche Heizung, das war alles, was Gena im Moment interessierte. Sie fuhren los, langsam und vorsichtig. Gena presste ihr Gesicht gegen die beschlagenen Scheiben und beobachtete die kahlen Linden, welche die kaum befahrene Straße zwischen Krankenhaus und Stadt säumten, an ihnen vorüberziehen. Ihre grauen Stämme erinnerten sie an die Mallornbäume und an die Schlacht, in der alles niedergebrannt worden war. Ja, sie erinnerte sich verschwommen an das, was geschehen war, und auch wenn es Grennrey gewesen war, welche die Schuld trug, so fühlte sie sich doch elend und unendlich schuldig. All diese armen Bäume! Ganz zu schweigen von den vielen Toten! Es war eine solch unsinnige Verschwendung von Leben gewesen, diese ganze grauenvolle Schlacht.
"Gibt es keine Abkürzung zu Ihrer Wohnung? Ich habe keine Lust, die ganze Stadt zu durchqueren bei dem zähen Verkehr. Da werden wir Morgen noch nicht dort sein." Sie nickte und nannte ihm eine Abkürzung, die durch einige kleinere Siedlungen am Stadtrand führte.
Plötzlich packte sie ihn am Arm. "Halt!"
Kaiser trat augenblicklich auf die Bremse und verbrachte die folgenden Sekunden damit, sich ans Lenkrad zu klammern, um den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. "Sind Sie irre? Was soll das?!", regte er sich auf, als sie zum Stillstand gekommen waren. Gena schnallte sich ab und stieg aus dem Wagen, Kaisers Proteste ignorierend. War hinter dem Baum dort nicht eben jemand gestanden? Sie war sich ganz sicher, etwas grau aufblitzen gesehen zu haben. Doch dort war nichts. Bloß eine dünne Schicht Neuschnee und einige gefrorene Grashalme. Keine Fußabdrücke, kein aufgewühltes Erdreich und schon gar kein Fremder, der sich hinter dem Stamm versteckt hielt. Hastig stieg sie wieder ein und lächelte entschuldigend. "Verzeihung. Ich glaubte, etwas gesehen zu haben." Der Kommissar sah sie an als wäre sie komplett verrückt. Sie zuckte noch einmal verzeihungshaschend mit den Schultern und schließlich fuhren sie weiter. Da war etwas gewesen. Ihr Puls hatte sich noch immer nicht beruhigt. "Könnten wir einen kleinen Umweg machen?", fragte sie vorsichtig. Kaiser schwieg, schien aber keine Einwände zu haben. "Fahren Sie zum Friedhof. Ich möchte das Grab meiner Freundin besuchen."
Kaiser war, ein erstaunliches Feingefühl an den Tag legend, am Friedhofstor stehen geblieben, nachdem er ihr die Richtung gewiesen hatte. Kare war in einem Familiengrab beigesetzt worden, Chris hingegen am hintersten Ende des geraden Kiesweges, der den Friedhof in zwei Teile teilte, bei den neu ausgehobenen Gräbern. Alleine diese Tatsache bereitete ihr ein unglaublich schlechtes Gewissen und das Bild des toten Liebespaares kam ihr wieder in den Sinn. Alte Schuldgefühle, die ihr ein Leben lang bleiben würden, regten sich und bereiteten ihr ein scheußliches Gefühl. Lange stand sie reglos vor Kares Grab und weinte still in sich hinein, bevor sie zu Chris' Grabstätte weiterging. Im Gegensatz zu dem anderen Grab stand an seinem bloß ein einfaches Holzkreuz. Kein Marmorrahmen umfasste die frisch gefrorene, dunkle Erde und bloß ein einziger, zerfallener Kranz mit einer weißen Schleife darum lag auf dem länglichen Hügel. Wer hätte ihm auch schon Blumen bringen sollen? Seine Lieben waren ja schließlich nicht von dieser Welt. Er hatte gewusst, dass es so enden würde, als er sich für ein Leben hier entschieden hatte. Ein Leben, das wegen ihr viel zu kurz gewesen war. Mit einem lauten Schluchzen brach sie in die Knie, barg ihr Gesicht in beiden Händen und stotterte sinn- und zusammenhangslose Entschuldigungen. "Vergib mir!", rief sie plötzlich, so laut, dass Kaiser am Tor überrascht aufsah, "oh bitte, vergib mir! Wie kann ich es nur je wieder gut machen?!"
"Indem du die Vergangenheit ruhen lässt und in die Zukunft siehst", antwortete eine Stimme.
Gena erschrak bis aufs Mark, denn für einen Moment bildete sich ein, die Stimme sei aus dem Grab gekommen. Dann erkannte sie sie wieder. Sie richtete sich auf, und drehte sich langsam um, aus Angst, dass dies bloß ein Traum oder Einbildung war und im nächsten Moment alles vorbei sein könnte. Er hatte sich nicht verändert. Natürlich nicht- er war ja immerhin ein Elb. "Legolas...bist du es wirklich?!" Er nickte, ein warmes Lächeln im Gesicht, das ihr Herz erwärmte und sie die herrschende Kälte um sie vergessen ließ. "Ich bin gekommen, um dich zu holen", sagte er und fasste ihre Hand- wie gut sie sich durch seine Nähe plötzlich fühlte- "es gibt viel zu tun für uns." Sie blinzelte verwirrt. "Zu tun?" "Mein Volk braucht nun einen starken Führer. Ich werde das Erbe meines Vaters antreten, und du sollst mir dabei helfen." Ihm helfen? Moment, das ging jetzt aber schnell! "Nein, nein, nein!", rief sie erschrocken, "du siehst doch, was beim letzten Mal herausgekommen ist! Ich bin die letzte, die über dein Volk herrschen kann, nach alldem was passiert ist! Außerdem bin ich ein Mensch!" "Du bist meine Königin", meinte der Prinz ernst, "und niemand wird an meiner Wahl zweifeln. Vorausgesetzt natürlich, du bist damit einverstanden". "Womit?", fragte sie dumpf und riss überrascht die Augen auf, als Legolas plötzlich vor ihr in die Knie ging und ihr dabei fest in die Augen sah. Während er sprach, umfasste er mit beiden Händen fest die ihren. "Gena- wie auch immer du noch heißt"- er grinste- "willst du, und wer auch immer du noch sein magst- mich zu deinem Mann nehmen? Unser gemeinsames Leben wird von kurzer Dauer sein, doch ich schwöre dir, es jeden Tag aufs Neue mit Liebe zu füllen. Es soll dir an nichts fehlen- bloß deine Heimat kannst du nie wieder betreten." Gena lächelte, gerührt und amüsiert über diesen ungewöhnlichen Antrag. "Wenn es weiter nichts ist...meine Heimat ist Lórien und wenn ich in den Wald zurückkehre, erspart es mir ohnehin eine Menge Unannehmlichkeiten. Darum lautet meine Antwort: Ja. JA!" Sie lachte fröhlich und fiel ihm um den Hals, so heftig, dass sie beide auf dem matschigen Boden landeten. Mit funkelnden Augen küsste sie ihn auf die Wange. Legolas lachte erleichtert und sah ihr tief in die Augen. "Die Situation kommt mir irgendwie bekannt vor", scherzte er und sah sie auf vielsagende Weise an. Gena brauchte Sekunden um zu verstehen. Dann lächelte sie sanft, nahm seine Hände und drückte sie sanft gegen den Boden, ganz so wie damals am See. "Bloß damals habe ich auf das hier vergessen...". Sie grinste breit, fing seinen Blick und erlaubte sich, tief in das Meer seiner Augen einzutauchen. Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Lippen.
"Dürfte ich fragen, was hier los ist?!" Kaisers Stimme überschlug sich beinahe und sein Kopf war trotz der Kälte rot angelaufen. Sie beide sahen verwundert zu ihm auf, ein klein wenig verärgert über die Unterbrechung. "Wer ist das?", verlangte der Kommissar zu wissen und machte eine ungeduldige Geste mit der Hand, "und was soll das hier? Finden Sie das nicht etwas unpassend, Frau Ransberg?" Ja, es war wahrlich ein wenig ungewöhnlich, sich auf einem Friedhof zu verloben. Lächelnd erhob sie sich zuerst, danach Legolas. "Also? Ich warte auf eine Erklärung!" Lange sah sie ihn nachdenklich an, dann räusperte sie sich, verschränkte die Arme vor der Brust und murmelte: "Im Grunde kann er mir jetzt ja nichts mehr anhaben". Zwischen Kaisers Brauen entstanden zwei tiefe Zornesfalten. "Was wollen Sie damit sagen? Wer ist dieser Mann?" "Ich glaube nicht, dass sie das wirklich wissen wollen", behauptete Gena ernst. "Hören Sie, junge Dame, hören Sie auf mit ihren lächerlichen Spielchen und...." Den Rest des Satzes konnte er nicht mehr fertig ausführen, da Genas Faust in seinem Gesicht landete. Befriedigt sah sie, wie er bewusstlos zu Boden fiel. "Musste das sein?", fragte Legolas skeptisch und beugte sich besorgt zu dem Ohnmächtigen hinab, "es ist ziemlich kalt hier draußen". Gena nickte. "Es musste sein. Und nun lass uns gehen. Nun hat er etwas, woran er zu nagen haben wird."
Als sie nach einer kleinen Ewigkeit, so schien es ihr, endlich ihr Bett verlassen durfte, stand sie oft Stunden am Fenster und starrte nach draußen. Wie über Mittelerde war auch über diese Welt der Winter gekommen und vor einigen Tagen war bereits der erste Schnee gefallen. Das Wetter passte zu ihrer Laune. Ihr Leben erschien ihr grau und hoffnungslos wie die Stadt, die sie aus der Ferne beobachtete. Eine schmerzende Leere begann sich in ihrem Inneren auszubreiten, die sie nicht verstand, die ihr aber Angst machte. Kaiser stattete ihr regelmäßige "Besuche" ab, die aber eher Verhören glichen als solchen. Wer hinter ihr her sei, was sie denn getan habe, um den Zorn jener Leute auf sich zu ziehen, ob es denn gar eine Sekte sei. Sie wisse es nicht, erinnere sich nicht genau, habe wohl im Schock alles verdrängt, lauteten ihre plumpen Antworten darauf. Einmal war er aufbrausend geworden, hatte angefangen zu schreien und unsinnige Drohungen ausgestoßen, mit dem Ergebnis, dass sie die Schwester rief, die den Beamten augenblicklich aus dem Zimmer und zur Stationsleitung verfrachtete. Zwischen Schwester Klara und dem Kommissar war ein regelrechter Kleinkrieg entflammt, und Gena stand natürlich stets auf der Seite der liebenswerten Schwester mit dem etwas derben Humor.
Der Tag ihrer Entlassung rückte unaufhaltsam näher. Eines Morgens war es dann soweit.
Klara war so freundlich gewesen, ein paar ihrer alten Sachen aus der Wohnung ins Krankenhaus zu bringen. Doch trotz des warmen Pullovers und des gefütterten Wintermantels fror Gena erbärmlich, kaum dass sie einen Fuß nach draußen gesetzt harte. Fröstelnd hauchte sie in ihre Hände und rieb diese aneinander, dann suchte sie mit Blicken den Parkplatz vor dem Krankenhaus ab. Kaiser hatte ihr angeboten, sie nachhause zu fahren. Nachhause. Ihr Blick wurde leer. Die Stadt ihrer Geburt schien ihr auf einmal so abweisend und kalt wie nie zuvor. Sie freute sich nicht auf ihre Wohnung, im Gegenteil. Sie hatte Angst vor dem Moment, in dem sie sie betrat. Denn spätestens in jenem Moment würde der Alltag wieder seinen Einzug bei ihr halten. Sie wusste nicht, wie ihre Zukunft aussehen würde. Das Medizinstudium hatte sie beinahe abgeschlossen, möglicherweise würde sie es wieder aufnehmen, auch wenn sie Unmengen an Stoff versäumt haben musste. Trotzdem...sie hatte gesehen, wie Menschen durch Magie wieder zum Leben erweckt oder geheilt wurden- was an der Uni unterrichtet wurde hatte allerdings absolut nichts mit Magie zu tun. So wie diese ganze Stadt, diese Welt. Ihr fehlte dieser geheimnisvolle Glanz, der alles und jeden in Mittelerde umhüllt hatte, dieses Magische, das ihre Neugierde geweckt und sie fasziniert hatte. Sie vermisste die Vielfalt der Völker, den weichen Klang des Sindarin und die Diskussionen, die sie mit Aragorn und ihrem Lehrer Reypal geführt hatte. Endlich erblickte sie Kaiser, der winkend, die Hände wie sie aneinanderreibend auf sie zugelaufen kam. "Entschuldigen Sie, aber die Straßen sind spiegelglatt und Begriffe wie Split und Salz scheinen den hiesigen Straßenmeistereien ein nicht geläufig zu sein!" Er kam bei ihr an, atemlos und mit einem breiten Grinsen im Gesicht, das ihr ihn fast sympathisch machte. Fast. Er meinte es sicher nicht persönlich, doch alleine die Art, wie er vor jeder Befragung seinen Notizblock gezückt hatte, hatte sie zur Weißglut getrieben. Sie murmelte ein: "Ist schon gut" und ging schweigend neben ihm her zu seinem dunkelblauen BMW, das typische Fortbewegungsmittel gutverdienender Beamter. Nicht so protzig wie ein Mercedes, aber doch ein Hinweis auf beachtenswerte Einkünfte. Wenigstens hatte eine ordentliche Heizung, das war alles, was Gena im Moment interessierte. Sie fuhren los, langsam und vorsichtig. Gena presste ihr Gesicht gegen die beschlagenen Scheiben und beobachtete die kahlen Linden, welche die kaum befahrene Straße zwischen Krankenhaus und Stadt säumten, an ihnen vorüberziehen. Ihre grauen Stämme erinnerten sie an die Mallornbäume und an die Schlacht, in der alles niedergebrannt worden war. Ja, sie erinnerte sich verschwommen an das, was geschehen war, und auch wenn es Grennrey gewesen war, welche die Schuld trug, so fühlte sie sich doch elend und unendlich schuldig. All diese armen Bäume! Ganz zu schweigen von den vielen Toten! Es war eine solch unsinnige Verschwendung von Leben gewesen, diese ganze grauenvolle Schlacht.
"Gibt es keine Abkürzung zu Ihrer Wohnung? Ich habe keine Lust, die ganze Stadt zu durchqueren bei dem zähen Verkehr. Da werden wir Morgen noch nicht dort sein." Sie nickte und nannte ihm eine Abkürzung, die durch einige kleinere Siedlungen am Stadtrand führte.
Plötzlich packte sie ihn am Arm. "Halt!"
Kaiser trat augenblicklich auf die Bremse und verbrachte die folgenden Sekunden damit, sich ans Lenkrad zu klammern, um den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. "Sind Sie irre? Was soll das?!", regte er sich auf, als sie zum Stillstand gekommen waren. Gena schnallte sich ab und stieg aus dem Wagen, Kaisers Proteste ignorierend. War hinter dem Baum dort nicht eben jemand gestanden? Sie war sich ganz sicher, etwas grau aufblitzen gesehen zu haben. Doch dort war nichts. Bloß eine dünne Schicht Neuschnee und einige gefrorene Grashalme. Keine Fußabdrücke, kein aufgewühltes Erdreich und schon gar kein Fremder, der sich hinter dem Stamm versteckt hielt. Hastig stieg sie wieder ein und lächelte entschuldigend. "Verzeihung. Ich glaubte, etwas gesehen zu haben." Der Kommissar sah sie an als wäre sie komplett verrückt. Sie zuckte noch einmal verzeihungshaschend mit den Schultern und schließlich fuhren sie weiter. Da war etwas gewesen. Ihr Puls hatte sich noch immer nicht beruhigt. "Könnten wir einen kleinen Umweg machen?", fragte sie vorsichtig. Kaiser schwieg, schien aber keine Einwände zu haben. "Fahren Sie zum Friedhof. Ich möchte das Grab meiner Freundin besuchen."
Kaiser war, ein erstaunliches Feingefühl an den Tag legend, am Friedhofstor stehen geblieben, nachdem er ihr die Richtung gewiesen hatte. Kare war in einem Familiengrab beigesetzt worden, Chris hingegen am hintersten Ende des geraden Kiesweges, der den Friedhof in zwei Teile teilte, bei den neu ausgehobenen Gräbern. Alleine diese Tatsache bereitete ihr ein unglaublich schlechtes Gewissen und das Bild des toten Liebespaares kam ihr wieder in den Sinn. Alte Schuldgefühle, die ihr ein Leben lang bleiben würden, regten sich und bereiteten ihr ein scheußliches Gefühl. Lange stand sie reglos vor Kares Grab und weinte still in sich hinein, bevor sie zu Chris' Grabstätte weiterging. Im Gegensatz zu dem anderen Grab stand an seinem bloß ein einfaches Holzkreuz. Kein Marmorrahmen umfasste die frisch gefrorene, dunkle Erde und bloß ein einziger, zerfallener Kranz mit einer weißen Schleife darum lag auf dem länglichen Hügel. Wer hätte ihm auch schon Blumen bringen sollen? Seine Lieben waren ja schließlich nicht von dieser Welt. Er hatte gewusst, dass es so enden würde, als er sich für ein Leben hier entschieden hatte. Ein Leben, das wegen ihr viel zu kurz gewesen war. Mit einem lauten Schluchzen brach sie in die Knie, barg ihr Gesicht in beiden Händen und stotterte sinn- und zusammenhangslose Entschuldigungen. "Vergib mir!", rief sie plötzlich, so laut, dass Kaiser am Tor überrascht aufsah, "oh bitte, vergib mir! Wie kann ich es nur je wieder gut machen?!"
"Indem du die Vergangenheit ruhen lässt und in die Zukunft siehst", antwortete eine Stimme.
Gena erschrak bis aufs Mark, denn für einen Moment bildete sich ein, die Stimme sei aus dem Grab gekommen. Dann erkannte sie sie wieder. Sie richtete sich auf, und drehte sich langsam um, aus Angst, dass dies bloß ein Traum oder Einbildung war und im nächsten Moment alles vorbei sein könnte. Er hatte sich nicht verändert. Natürlich nicht- er war ja immerhin ein Elb. "Legolas...bist du es wirklich?!" Er nickte, ein warmes Lächeln im Gesicht, das ihr Herz erwärmte und sie die herrschende Kälte um sie vergessen ließ. "Ich bin gekommen, um dich zu holen", sagte er und fasste ihre Hand- wie gut sie sich durch seine Nähe plötzlich fühlte- "es gibt viel zu tun für uns." Sie blinzelte verwirrt. "Zu tun?" "Mein Volk braucht nun einen starken Führer. Ich werde das Erbe meines Vaters antreten, und du sollst mir dabei helfen." Ihm helfen? Moment, das ging jetzt aber schnell! "Nein, nein, nein!", rief sie erschrocken, "du siehst doch, was beim letzten Mal herausgekommen ist! Ich bin die letzte, die über dein Volk herrschen kann, nach alldem was passiert ist! Außerdem bin ich ein Mensch!" "Du bist meine Königin", meinte der Prinz ernst, "und niemand wird an meiner Wahl zweifeln. Vorausgesetzt natürlich, du bist damit einverstanden". "Womit?", fragte sie dumpf und riss überrascht die Augen auf, als Legolas plötzlich vor ihr in die Knie ging und ihr dabei fest in die Augen sah. Während er sprach, umfasste er mit beiden Händen fest die ihren. "Gena- wie auch immer du noch heißt"- er grinste- "willst du, und wer auch immer du noch sein magst- mich zu deinem Mann nehmen? Unser gemeinsames Leben wird von kurzer Dauer sein, doch ich schwöre dir, es jeden Tag aufs Neue mit Liebe zu füllen. Es soll dir an nichts fehlen- bloß deine Heimat kannst du nie wieder betreten." Gena lächelte, gerührt und amüsiert über diesen ungewöhnlichen Antrag. "Wenn es weiter nichts ist...meine Heimat ist Lórien und wenn ich in den Wald zurückkehre, erspart es mir ohnehin eine Menge Unannehmlichkeiten. Darum lautet meine Antwort: Ja. JA!" Sie lachte fröhlich und fiel ihm um den Hals, so heftig, dass sie beide auf dem matschigen Boden landeten. Mit funkelnden Augen küsste sie ihn auf die Wange. Legolas lachte erleichtert und sah ihr tief in die Augen. "Die Situation kommt mir irgendwie bekannt vor", scherzte er und sah sie auf vielsagende Weise an. Gena brauchte Sekunden um zu verstehen. Dann lächelte sie sanft, nahm seine Hände und drückte sie sanft gegen den Boden, ganz so wie damals am See. "Bloß damals habe ich auf das hier vergessen...". Sie grinste breit, fing seinen Blick und erlaubte sich, tief in das Meer seiner Augen einzutauchen. Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Lippen.
"Dürfte ich fragen, was hier los ist?!" Kaisers Stimme überschlug sich beinahe und sein Kopf war trotz der Kälte rot angelaufen. Sie beide sahen verwundert zu ihm auf, ein klein wenig verärgert über die Unterbrechung. "Wer ist das?", verlangte der Kommissar zu wissen und machte eine ungeduldige Geste mit der Hand, "und was soll das hier? Finden Sie das nicht etwas unpassend, Frau Ransberg?" Ja, es war wahrlich ein wenig ungewöhnlich, sich auf einem Friedhof zu verloben. Lächelnd erhob sie sich zuerst, danach Legolas. "Also? Ich warte auf eine Erklärung!" Lange sah sie ihn nachdenklich an, dann räusperte sie sich, verschränkte die Arme vor der Brust und murmelte: "Im Grunde kann er mir jetzt ja nichts mehr anhaben". Zwischen Kaisers Brauen entstanden zwei tiefe Zornesfalten. "Was wollen Sie damit sagen? Wer ist dieser Mann?" "Ich glaube nicht, dass sie das wirklich wissen wollen", behauptete Gena ernst. "Hören Sie, junge Dame, hören Sie auf mit ihren lächerlichen Spielchen und...." Den Rest des Satzes konnte er nicht mehr fertig ausführen, da Genas Faust in seinem Gesicht landete. Befriedigt sah sie, wie er bewusstlos zu Boden fiel. "Musste das sein?", fragte Legolas skeptisch und beugte sich besorgt zu dem Ohnmächtigen hinab, "es ist ziemlich kalt hier draußen". Gena nickte. "Es musste sein. Und nun lass uns gehen. Nun hat er etwas, woran er zu nagen haben wird."
