2. Kapitel
- Sehnsucht -
Dezember 1996.
Es war Weihnachten.
Die Zeit der Liebe und der Familie. Die Zeit der Freundlichkeit und des guten Gewissens.
Gott, wie er diese Zeit hasste.
Draco saß an einem Tisch in der Großen Halle, die gemäß des Anlasses, nämlich für den Weihnachtsball, geschmückt geworden war.
Alles um ihn herum lachte fröhlich und genoss den Abend. Viele tanzten, viele saßen und plauderten und die ersten Paare verdrückten sich in verlassenere Orte, wo sie ungestört sein konnten, wenigstens solange, bis Filch sie erwischte.
Draco kotzte das alles an.
Die Weihnachtszeit war ein Stempel der Heuchlerei, die diese der Welt aufgedrückt hatte. Nur weil Weihnachten war, glaubten plötzlich alle, besonders nett und zuvorkommend zu sein. Daran sah man schon ihren naiven Fehler. Wenn man wirklich ein nettes und zuvorkommendes Wesen war, bräuchte man nicht im Kalender Weihnachten festzulegen, um zu wissen, wann man es denn sein sollte.
Er selbst brauchte keinen Kalender, um zu wissen, wann er mal wieder besonders gehässig und gemein sein konnte. Er war es, wann immer er es wollte und wann immer es ihm gefiel, und er genoss es.
Wäre das Leben nicht ein Ort der Langeweile, wenn alle immer nur nett, zuvorkommend und hilfsbereit sein würden?
Eine über das ganze Gesicht strahlende Ginny Weasley schritt an ihm vorbei.
Ihre Blicke trafen sich.
Die Dunkelheit in ihren Augen war kaum zu sehen. Lange nicht mehr so stark wie vor ein paar Monaten auf dem Astronomieturm. Sie flackerte nur schwach in ihren Augen auf. Zu schwach, um sie zu beherrschen. Zu stark, als dass es keine Sehnsucht sein konnte. Unbewusst. Unbewusste Sehnsucht nach der Dunkelheit.
Ihm entging es nicht. Ihm würde nie, niemals Dunkelheit entgehen.
Ginnys Schritte verlangsamten sich, bis sie stehen blieb.
„Hallo Draco", sagte sie schüchtern. In ihren herbstlich wirkenden Augen strahlte es immer noch. Sie schien den Abend zu genießen.
Er hob eine Augenbraue. „Weasley", nickte er ihr höhnisch zu.
Es war das erste Mal seit dem unfreiwilligem Treffen auf dem Astronomieturm, dass sie Worte miteinander wechselten.
„Und für den nächsten Tanz gilt Damenwahl!", rief der Sänger der Band, ehe die Musik wieder ansetzte.
Ginny lächelte schwach. „Hast du Lust mit mir zu tanzen?" Dann sah sie ihn überrascht an, offensichtlich erstaunt über sich selber. Für einen kurzen Augenblick verhärteten sich ihre engelsgleichen Züge vor Schreck. Aber nur kurz, ein flüchtiger Augenblick in der langen, unendlich währenden Ewigkeit.
Draco spürte die anderen, feindseligen und überraschten Blicke der Slytherins, darüber, dass eine Gryffindor – noch dazu eine Muggelfreudin – es wagte, ihn anzusprechen.
Er grinste. „Warum nicht."
Er hörte Pansy nach Luft schnappen und sein Grinsen verstärkte sich.
Er führte sie auf die Tanzfläche und legte seine Hände auf ihre schmale Taille. Er war ein gutes Stück größer als sie und konnte auf ihre roten Locken hinabsehen, die wie Feuer wirkten.
Wie kaltes Feuer im feurigem Eis.
Ihre Arme umschlangen seinen Nacken, während sie sich zum langsamen Tempo der Musik rhythmisch bewegten.
Wenn sein Vater ihn sehen würde, musste Draco denken und er verkniff sich ein höhnisches Grinsen. Er würde schockiert sein. Trotz allem, dass die Weasleys eine uralte und reine Zaubererfamilie waren, war es doch ersichtlich, dass dieser Umstand aus einer Kette von Zufällen entstanden war. Denn muggelfreundlich war diese Familie schon seit jeher.
„Genießt du den Ball?", drang Ginnys weiche Stimme an sein Ohr.
Er sah spöttisch auf sie herab. Sie hatte den Kopf erhoben, um ihn ansehen zu können.
„Ein Abend der eher langweiligen Sorte, dazu da, um sich gemeinsam in Illusionen zu schwelgen, gestützt von den Säulen der Heuchlerei. Und du fragst, ob ich den Ball genieße?"
Ginny seufzte. „Du kannst niemals zufrieden sein, nicht wahr?"
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter.
„Nein, das ist nicht wahr. Ich stelle nur hohe Anforderungen. Dass du diesen Ball toll findest, war mir klar. Das muss hier ja reiner Luxus für dich sein."
Ginny sah ihn wieder an. Sie wirkte verletzt. „Ich habe dich nicht zum Tanzen aufgefordert, damit du wieder deine üblichen Sprüche rüberschieben kannst, Malfoy!" Sie hatte wütend ihre feinen Augenbrauen zusammengezogen.
Draco lächelte überlegen. Er verbiss sich tatsächlich eine höhnische Bemerkung. „Du willst ein Gespräch über ernstere Dinge, Weasley? So wie auf dem Astronomieturm? Aber warum? Warum willst du über Dinge sprechen, von denen du nichts verstehst?"
„Vielleicht verstehe ich sehr wohl etwas davon", entgegnete Ginny.
Aufmerksam sah er sie an. Die Dunkelheit in ihren Augen war wieder stärker geworden. Doch nur für ihn. Unwissende Augen würden die Dunkelheit noch nicht einmal erkennen, selbst wenn sie ihnen die geballte Faust in den Magen rammen würde.
„Dann beweise es mir", forderte er sie lächelnd auf.
* * * * * * * * *
‚Fürchtest du dich?'
‚Wovor soll ich mich denn fürchten?'
‚Vielleicht vor der Dunkelheit. Oder vor der Sehnsucht nach ihr.'
‚Droht sie mir denn?'
‚Sie könnte dich zum Fallen bringen.'
‚Das könnte sie. Aber dann würdest du mit mir fallen.'
* * * * * * * * *
Sie fragte sich noch immer, welcher Teufel sie geritten hatte, als sie Draco zum Tanz aufforderte.
Aber sie kam nicht umhin, sich eingestehen, dass es interessant war mit ihm zu reden, wenn er mal nicht gerade dumme Sprüche klopfte.
Ihre Gespräche wurden schnell tiefsinnig und von einer Art traurigen Aura umfasst, die sie bisher noch nie erlebt hatte.
Eine Aura, so kalt wie das Feuer und so feurig wie das Eis, mit einem Funken von der möglichen Wahrheit, der jederzeit bereit war zu explodieren. Wie ein Vulkan. Wie ein brodelnder Vulkan, der noch schlief. Tief und fest. Und der nicht viel benötigte, um geweckt zu werden.
Wer schläft, sündigt nicht.
Aber wer wacht, kann Sünden verhindern.
Was ist nun richtig und was ist falsch? Was ist schwarz und was ist weiß? Was ist Lüge und was ist wahr?
Sprach Draco die Wahrheit?
„Ich habe über deine Worte nachgedacht", sagte sie ihm, während sie weiter tanzten.
Das zweite Lied.
‚Wenn du an gut und böse glaubst, muss es doch in jedem Menschen sowohl Licht als auch Dunkelheit geben. Denk' darüber nach, wenn Dunkelheit deine Seele zu beherrschen beginnt. Und du wirst den Fehler eurer Logik erkennen.'
„Und?" Er sah sie aufmerksam an. Interessiert. Sogar neugierig. Aber es war nur sehr schwach in seinen kalten Augen zu erkennen. Gleichgültigkeit und ein wenig Arroganz dominierten noch immer im eisigen Grau.
„Natürlich hat jeder Mensch mehrere Seiten. Und wo Licht herrscht, ist Dunkelheit nicht weit. Aber es kommt immer auf den Willen desjenigen an, welches er regieren lässt. Ob Licht oder Dunkelheit über die Seele eines Einzelnen wacht, entscheidet nur derjenige allein."
„Und wer erklärt uns, was Licht und was Dunkelheit ist?"
Die Neugier war aus seinen Augen verschwunden. Die Verachtung auf seinen engelsgleichen Zügen verstärkte sich.
„Jeder weiß doch, was Licht und was Dunkelheit ist", erklärte sie verwirrt.
Ein Funke glomm in seinen Augen auf. Ein Funke, der versuchte, den Eisberg in seinem Herzen zum Schmelzen zu bringen, aber es war unmöglich.
Und er lächelte entwaffnend. Aber tückisch.
Der Funke erlosch.
„Nur weil allgegenwärtige Gesellschaften glauben, das Licht und die Dunkelheit definieren zu können, heißt es noch lange nicht, dass sie es richtig machen. Was heute Licht ist, kann morgen Dunkelheit sein. Sie definieren es so, wie es ihnen passt. Sie sind verlogen. Finde deine eigene Definition. Finde die Wahrheit."
Ginny lachte verwirrt auf. „Ich nenne dir nur ein Beispiel für die Richtigkeit meiner Definitionen, Malfoy. Voldemort ist ein schwarzer Magier und ein Verfechter der Dunkelheit. Ein Lord der Finsternis. Dumbledore hingegen ist ein Zauberer der weißen Magie und ein Kämpfer des Lichts."
Draco schien sich nicht von ihren Argumenten beeindrucken zu lassen.
Eigentümlich sah er sie mit gleichgültigem Blick an. „Wenn das Licht das Gute symbolisiert, warum nennst du Dumbledore dann einen Kämpfer? Sind Kämpfe denn nicht eher schlecht? Fordern Kriege nicht unschuldige Opfer und werden geboren aus Grausamkeit? Du überzeugst mich keineswegs, Weasley. Und Dumbledore ist allerhöchstens ein Versager."
„Ein Versager? Warum denn das? Außerdem muss man manchmal zu härteren Methoden greifen, um das Gute zu erhalten. Sie sollten die letzten Mittel sein, sind aber nicht abzulehnen. Das Böse lässt uns schließlich oftmals keine andere Wahl."
Draco lächelte lauernd. „Nicht wahr, man schlägt die vermeintlichen Feinde am Besten mit den eigenen Waffen... ."
Schatten huschten durch das klare Grau seiner Augen und begannen einen Tanz. Einen Tanz der Dunkelheit. Zum ersten Mal glaubte sie zu wissen, was man in seinen Augen wirklich lesen konnte. Dunkelheit. Und die Sehnsucht nach ihr. Arroganz und Gleichgültigkeit mochten nur die Vorboten, die Wächter seiner wahren Gefühle sein, dahinter verbarg sich vielleicht dunkle Sehnsucht.
„Und Dumbledore ist ein Versager, weil er die Macht zu ignorieren versucht. Wahre Zauberer verbünden sich mit der Macht. Wahre Kämpfer beherrschen die Macht."
„Macht ist längst nicht alles im Leben, Malfoy. Macht ist nicht wichtig."
„Wie willst du ohne Macht das erhalten, was du als das Gute zu bezeichnen pflegst?"
„Macht mag ein Teil des Ganzen sein. Aber Macht ist nicht das Ganze. Es ist nur ein Puzzlestück von vielen."
„Und was ergeben die Puzzlestücke, wenn man es zusammengesetzt hat?"
Ginny zuckte mit den Schultern. „Das Leben?"
Draco lächelte wieder. Diesmal war es nicht mehr kalt, es wirkte beinahe ehrlich, wenn es seine Augen erreicht hätte. „Eine interessante Ansichtsweise, Weasley."
„Ginny?"
Ron hatte Mühe zu atmen, als er Ginny und Draco eng aneinander tanzen sah.
Er und Hermione tanzten ebenfalls und waren durch Zufall in ihre Nähe gekommen.
„Ginny! Wieso tanzt du mit Malfoy?"
Ron blieb stehen und ließ Hermione los. Er war hochrot.
„Dein Aufpasser", stellte Draco hämisch fest. „Ich hab' auch welche."
Draco und Ginny blieben stehen und ließen sich los.
Sie verdrehte die Augen. „Ron, reg' dich bitte wieder ab und tanz' um Himmels Willen weiter. Sie gucken schon alle."
„Das ist mir egal! Wie kannst du nur mit Malfoy tanzen? Er ist ein Arschloch! Ein Riesenarschloch um genau zu sein! Ein... ein... ein Slytherin!" Er sprach das letzte Wort in einem Ton aus, als ob es keine schlimmere Beleidigung geben würde.
„Weasley, wenn du so weiter machst, bekommst du noch einen Herzinfarkt", spöttelte Draco.
Hermione hatte ihre Hand beschwichtigend auf Rons Arm gelegt. „Ron, komm', ich will mit dir tanzen und nicht mit Malfoy streiten."
Sie zog ihn entschlossen mit sich mit zum anderen Ende der Tanzfläche und schaffte es sogar, die Aufmerksamkeit des Jungen wieder auf sich zu lenken.
„Wie rührend", fuhr Draco an Ginny gewandt fort. „Er könnte es wirklich nicht ertragen, nicht wahr?" Er verbeugte sich knapp und höfisch und maß sie mit spottendem Blick, ehe er sich entfernte.
Ginny begab sich zu einem der Tische, wo ein paar Gryffindors ihres Jahrganges saßen und starrte Draco nachdenklich hinterher.
Was könnte Ron nicht ertragen? Dass sie weiterhin mit Draco tanzte? Dass sie mit ihm redete? Oder dass sie mit ihm etwas anfing...
