3. Kapitel

- Lügen -

April 1997.

Es war finster in den Kerkern.

Obgleich helle Fackeln an den Wänden die Dunkelheit vertrieben, schafften sie es doch nie ganz. Etwas Finsternis blieb immer zurück und fraß sich langsam, aber unerbittlich in den inneren Kern des Herzens. Von dort hatte es freien Zugang zur Seele.

Draco merkte, wie Ginny fröstelte. Sie fröstelte immer, wenn sie sich heimlich in den Kerkern trafen.

Es waren harmlose Treffen.

Sie trafen sich, um zu reden.

Er musste sich zugestehen, dass er es genoss, mit ihr zu reden. Auch wenn sie völlig die Lügen der Zaubererwelt und der damit verbundenen Gesellschaft glaubte und eine völlig andere Denkweise hatte als er, war es ein angenehmes Gefühl, mit ihr zu reden. Vielleicht war gerade diese Tatsache das Faszinierende. Schließlich standen sie auf verschiedenen Seiten und gerade das dadurch entstehende Verbotene war fesselnd, anziehend und auf einer nüchternen Art und Weise leidenschaftlich zugleich.

Ihm gefiel, wie sehr sie über ihre Gedanken nachdachte und wie sie versuchte, seine Argumente zu widerlegen.

„Warum müssen wir uns immer hier treffen?", fragte sie gerade. Sie sah ihn aus ihren großen Augen missmutig an. Ihre langen, gebogenen Wimpern gaben ihr etwas Unschuldiges.

„Ich befürchte, es würde großes Gerede geben, wenn wir uns in aller Öffentlichkeit zeigen würden", sagte er trocken.

„Dabei reden wir doch nur. Über unsere Gedanken. Weder du noch ich geben uns die Möglichkeit zu spionieren oder sonst was."

„Spionieren?" Er sah sie fragend an. Das Thema Voldemort und seine Pläne wurde bei ihnen selten angesprochen. Voldemort diente bei ihr nur als Fallbeispiel für das Böse, er selbst erwähnte ihn nie.

Auch Voldemort war schließlich nur eine Schachfigur von vielen. Vielleicht war er eine der wichtigeren Figuren, aber er war austauschbar. Wie die Meisten.

„Na ja, ich könnte dich ausspionieren wollen, was dein Vater so plant. Und Voldemort. Genauso, wie du mich ausspionieren könntest. Das würde man vielleicht denken."

„Das mag sein. Wahrscheinlich ist aber eher, dass man uns eine Affäre anhängen und deine Freunde sich von dir abwenden würden."

Er sah sie lauernd an.

Genüsslich stellte er fest, wie sie nickte und somit in seine Falle hineintappte. „Und diese Leute bezeichnest du als Freunde?"

Ginny blinzelte verwirrt. „Wie meinst du das?"

„Wenn sie deine Freunde wären, würden sie sich niemals von dir abwenden. Egal, was du tust. Sie würden es nicht gutheißen, es dir auszureden versuchen, aber sie würden sich nicht von dir abwenden."

„Und das sagt mir jemand, der Freunde hat?" Ginny klang plötzlich höhnisch.

Draco biss sich auf die Unterlippe. „Ich habe keine Freunde. Ich glaube nicht an Freundschaften."

Sie wurde nachdenklich. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, ob sie sich abwenden würden. Aber ich vermute es. Du bist bei meinen Freunden zu sehr verhasst. Du bist ein Feind."

„Aber wahre Freunde lassen nie jemanden in Stich. Sie sind nur deine Freunde, weil du so bist, wie sie. Weil ihr dieselbe Denkweise habt, weil ihr auf derselben Seite steht. Wärest du anders, wären sie nicht deine Freunde."

„Du bist anders und wir schaffen es auch, im vernünftigen Ton miteinander zu reden. Und das seit Monaten", warf sie ein.

„Wir sind aber keine Freunde", sagte er hart.

Ginny seufzte. „Weil du keine haben willst."

Sie kam einen Schritt näher. „Willst du denn niemals Licht in deine Dunkelheit lassen?"

„Und wozu?"

Er wich nicht zurück.

Aufmerksam sah sie ihn an. Er merkte, wie sie versuchte, seine wahren Gefühle und Gedanken zu ergründen.

„Um mal die andere Seite kennen zu lernen. Wie willst du der Dunkelheit dienen, wenn du das Licht nicht kennst?"

Er funkelte sie an. „Ich diene nichts und niemandem, Weasley. Ich habe es wohl kaum nötig, zu dienen."

„Verzeih'." Sie lächelte. „Aber du kannst dich dem Licht nicht ewig verweigern."

„Das Licht, so wie du es nennst, hat so wenig Interesse an mir, wie ich an ihm."

Sie standen dicht voreinander und sahen sich an.

„Ich brauche keine Lügen, um mich wohl zu fühlen", fuhr er fort.

„Welche Lügen?"

„Eure Lügen. Die Lügen der Freundschaft, die Lügen über das Gute, die Lügen über einfach alles Erdenkliche, was du mit deinen Gedanken erfassen kannst."

„Lügen, he."

„Es ist fast schon bedauerlich, dass du den Fehler eurer Logik immer noch nicht erkannt hast."

In ihren Augen glitzerte es verärgert auf. „Vielleicht bist du derjenige, der sich irrt."

* * * * * * * * *

‚Ich verstehe dich nicht.'

‚Ich dich auch nicht.'

‚Sind wir Freunde?'

‚Vielleicht. Vielleicht sind wir aber auch Feinde.'

‚Ich misstraue dir. Du lügst, sobald du den Mund aufmachst.'

‚So wie du.'

‚Du verkleidest die Wahrheit in dunkle Schatten.'

‚Ich weiß. Und dafür liebst du mich.'

‚Nein. Dafür hasse ich dich.'

* * * * * * * * *

Ginny konnte wieder die tanzenden Schatten in seinen Augen sehen.

„Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, was wahr und was falsch ist."

Er runzelte die Stirn. „Falsch ist, dass ihr ständig versucht, solchen Begriffen Definitionen zu geben."

Sie lächelte. Irgendwie hatte sie keine Lust mehr zu reden.

Nicht, dass sie nicht gerne mit Draco redete. Es gefiel ihr und obgleich sie es sonst niemandem erzählt hatte, gestand sie es sich selbst ein.

Aber heute... es war töricht, was ihr durch den Kopf ging. Dumm. Naiv. Verboten.

Doch es kümmerte sie nicht.

Die Gespräche mit Draco hatten sie verwegen gemacht.

„Reden wir nicht mehr darüber", sagte sie leise.

Draco nickte langsam. Auffordernd blickte er sie an.

Sie lächelte.

Die Fackeln tanzten in ihrem Licht und warfen große, hektische Schatten.

Zögernd beugte Draco sich zu ihr hinab, während sie ihm ihr Gesicht entgegenhielt.

Einen Augenblick kam es Ginny so vor, als wolle Draco sich wieder abwenden. Aber das tat er nicht. Stattdessen sahen sie sich tief in die Augen.

„Ich denke manchmal, wenn man zu tief in Glas schauen würde, würde man sich selbst verlieren", sagte sie und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Wieder dachte sie an Schnee, jetzt, wo Draco so dicht vor ihr stand.

„Ich denke, das ist wahr..." Er beugte sich vor, steifte ihre Lippen mit den seinen und Ginny schloss die Augen und verlor sich.

Ein eisiges Prickeln durchlief ihren Körper, als sie sich zu einem immer leidenschaftlicher werdenden Kuss fanden.

Seine Lippen waren kalt und ihre kleine, schnelle Zunge kam seiner entgegen.

Wie von selbst umschlang sie ihre Arme um seinen Nacken und seine Hände legten sich auf ihre Taille.

Die Welt um sie herum schien in ihnen zu versinken.

Die Finsternis im Kerker schien größer zu werden. Die Schatten in dem kühlen Raum schienen wilder zu tanzen. Die Fackeln an den Wänden schienen heller zu werden.

Und doch war es falsch, was sie da taten.

Es war unsinnig. Niemals könnten sie eine Beziehung führen, also, warum tat sie das hier.

Aber sie hörte auch nicht auf damit.

Im Augenblick gab es nur sie, Draco und diesen Kuss.

Sie küssten sich immer inniger und Ginny ignorierte die Alarmglocken in ihrem Kopf, die ihr Gewissen ausgelöst hatte.

Sie glaubte, ein Räuspern gehört zu haben, aber sie war viel zu vertieft in den verbotenen Küssen, als dass sie es wirklich wahrnahm.

Das Einzige, was Vernunft wirklich lähmen konnte, war Leidenschaft in all ihren Formen.

Diesmal war es die Leidenschaft des Feuers und des Leichtsinns, was den Vulkan fast zum Ausbrechen brachte.

Aber jemand hinderte den Vulkan daran.

„Ich bezweifle, dass die Kerker Hogwarts der richtige Ort für eure offensichtlich ungehemmten Leidenschaften sind", drang Snapes ölige Stimme an ihr Ohr und sie und Draco prallten erschrocken auseinander.

Jetzt war es soweit. Man hatte sie erwischt.

Entsetzt starrte Ginny ihren Zaubertranklehrer an, der sich vor ihnen aufgebaut hatte und sie und seinen Schützling mit missbilligen Blicken bedachte.

„Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, Mr Malfoy", tat Snape seine Meinung kund. Er durchbohrte Draco mit seinem unergründlichem Blick.

„Sir", sagte Draco überrascht. Dann rang er sich zu einem Lächeln ab. Voller Hohn. Er hatte sich vollendend unter Kontrolle. „Das Erreichbare ist eben nicht genug für mich."

„Nicht?", wiederholte Snape. „Soso." Er wandte sich zu Ginny und funkelte sie aus seinen schwarzen Augen wütend an. „Aber das ist noch lange kein Grund für Sie, sich hier herumzutreiben. Zehn Punkte Abzug für Gryffindor."

„Aber", fing Ginny an zu protestieren, irgendwie machte die Anwesenheit Dracos sie mutig, aber Snape schnitt ihr Widerspruch mit einer energischen Geste ab.

„Und wenn Sie nicht gleich von hier verschwinden, ziehe ich Gryffindor so viele Punkte ab, dass sich das Haus bis Weihnachten nicht davon erholt hat."

Ginny glaubte dem kalten Zaubertrankmeister aufs Wort.

Rasch schob sie sich an ihm vorbei und eilte hinaus.

Sie hörte, wie Draco ihr folgte.

„Erzählt er es herum?", fragte sie ihn, als sie zusammen nach oben gingen.

Draco schüttelte den Kopf. „Snape sagt schon nichts."

Ginny war erleichtert.

Sie redeten nicht über den Kuss. Aber Ginny wusste, es würde nicht der Letzte bleiben.

Aber warum, wenn sie sich doch nicht wirklich liebten?

Warum diese Küsse voller Lügen, und doch geboren aus Leidenschaft?

Die Gedanken kreisten in ihren Kopf herum und verwirrten sie. Sie wuchsen zu einem Wirbelsturm heran, der durch ihren Körper fegte und die Toren zur Seele aufbrach.

Ungehindert fegte er durch ihre Seele und hinterließ eine dunkle Leere, die sie so wenig verstand wie der Kuss von vorhin.

Ihre Vernunft fand keine logischen Erklärungen dafür, aber ihre Gefühle fernab von Nüchternheit wisperten ihr aus dem Unterbewusstsein zu, dass Liebe keine Logik kannte.

Sie betraten die Große Halle. Sie redeten nicht mehr und hielten einen Abstand, der für Unwissende dem Zufall zugeschrieben werden würde.

Es war Zeit fürs Abendessen.

„Du schon wieder", zischte jemand und ein erboster Ron baute sich vor Draco und Ginny auf. „Schon wieder hängst du bei meiner Schwester ab."

Offenbar schrieb er nichts dem Zufall zu.

„Ron", begann Ginny, aber ihr Bruder beachtete sie gar nicht.

„Was willst du immerzu bei ihr?" Ron blitzte Draco wütend an. „Es reicht schon, dass diese Beobachtung mir Weihnachten und Silvester verdorben hat. Ich schlage vor, du kommst Ostern wieder und zündest unser Haus an."

Draco grinste hämisch. „Eine gute Idee, Weasley. Das ist ja schon in zwei Wochen. Ich werde darauf zurückkommen."

Ginny zog Ron von Draco weg und setzte sich am Gryffindortisch.

Aber wenn Liebe keine Logik kannte, schoss es ihr durch den Kopf, taten es Hass und Faszination auch nicht. Vielleicht taten es Lügen ebenso wenig.