4. Kapitel
- Kälte -
Mai 1997.
Die Heulende Hütte schien der perfekte Ort für ihre heimlichen Treffen zu sein.
Nicht nur um zu reden. Auch, um sich zu lieben. Mit eiskalter Leidenschaft.
Niemand traute sich in die Heulende Hütte, ganz gleich, dass das Heulen längst aufgehört hatte. Sie wurde gemieden, sie galt als unheimlich, als verboten.
Verboten war so gesehen auch ihre Liebe zueinander. Körperliche Liebe.
Sie liebten sich nur körperlich. Der Reiz nach Verbotenem war einfach zu stark, als dass sie sich ihm widerstanden hätten.
Es war eine Regel der Gesellschaft, nie jemanden zu lieben, der auf einer anderen Seite stand.
Draco lachte innerlich höhnisch auf. Und wer es doch tat, wurde ausgestoßen. So einfach war das. Und so schnell konnte es gehen.
Aber niemand würde sie erwischen.
Er spielte mit einer von Ginnys roten Locken und betrachtete ihr friedliches Gesicht.
Sie lagen nebeneinander auf ihrem Nachtlager in ihrem Liebesnest und eine Decke verbarg ihre nackten Körper.
„Ginny?", fragte er.
„Hm?" Sie sah ihn aus halbgeschlossenen Lidern an.
„Würdest du mit mir kommen?" Er stützte sich auf die Ellenbogen.
Ginny machte große Augen. „Wohin?"
Draco zuckte mit den Achseln und machte eine vage Geste. „Irgendwo hin. Ich weiß es nicht. Hauptsache, es ist weit, weit weg."
Ginny lachte. „Ich würde gerne mitkommen." In ihren Augen strahlte es.
„Wirklich?"
Ginny nickte. „Nichts wäre mir lieber."
„Aber?"
„Aber wir können doch nicht einfach alle hier zurücklassen. Man würde uns vermissen."
„Wenn rauskäme, dass du mit mir durchgebrannt bist, wird dich niemand mehr vermissen, glaube mir", prophezeite Draco und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Warum willst du fliehen?" Sie sah ihn aufmerksam an.
Er wusste es nicht.
Er wusste nur, das er manchmal alles satt hatte. Das Kämpfen. Das Streben nach Macht. Die heuchlerische Gesellschaft. Die verlogenen Versuche einiger Helden das Licht zu erhalten. Die Menschen, die von Freundschaft, das Böse und das Gute redeten und in Wahrheit keine Ahnung davon hatten.
„Wir leben nur einmal. Warum sollen wir unser Leben also nicht genießen? Statt immer nur versuchen, das Richtige zu machen, damit man sich moralisch richtig verhalten hat. Was ist schon Moral? Was nützt es uns, uns einen Platz im Himmel zu sichern, wir kommen doch alle in die heißersehnte Hölle. Also, warum sollten wir nicht durchbrennen?"
„Ich... ich weiß es nicht. Wir sind verantwortlich für die Dinge, die geschehen. Alle Menschen sind dafür verantwortlich. Und es wäre schlimm, wenn jeder sich vor der Verantwortung drücken würde."
„Es gibt genug Leute, die sich darum kümmern."
„Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich fortgehen würde."
„Warum lasst ihr eigentlich immer zu, dass euer Gewissen eure Taten beherrscht? Lächerlich."
Ginny biss sich auf ihre Unterlippe. „Ich weiß, dass dir so etwas wie ein Gewissen fremd ist, Draco. Aber akzeptiere, dass ich so etwas habe."
„Höchst bedauerlich. Du versuchst für etwas zu kämpfen, was es nicht gibt."
„Was gibt es nicht?"
„Das Gute."
„Natürlich! So wie es das Gute gibt, gibt es auch das Böse..."
„Es gibt kein Gut und kein Böse."
Natürlich gab es sie nicht. Es gab nur Macht. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, gut und böse definieren zu willen. Offensichtlich hatte es ebenso wenig Sinn, Ginny genau dies klar zu machen.
Oh ja, sie hätte ganz groß werden können. Draco maß Ginny mit einem höhnischen Blick. Ja, sie hätte eine der ganz Großen werden können. Aber sie war zu sehr in das Netz der Lügen und Illusionen verstrickt, als dass sie daraus einen Ausweg finden würde. Ihre Gedanken waren zu sehr von den festgefahrenen Definitionen beherrscht. Sie war ein Kind der Gesellschaft und würde niemals wirklich frei sein können.
„Wir kommen immer in Windeseile auf diesen Punkt zurück", murmelte Ginny.
Sie fröstelte.
„Ist dir kalt?", fragte Draco.
‚Spürst du sie etwa? Die Kälte? Kälte konnte sich nur dann festsetzen, wenn das Herz von Dunkelheit regiert wurde. Aber dein Herz wird nicht von Dunkelheit regiert. Es wird von Lügen und Illusionen beherrscht.'
* * * * * * * * *
‚Lieben wir uns?'
‚Ich bezweifle es.'
‚Warum tun wir es dann?'
‚Um zu trotzen.'
‚Der Welt?'
‚Ich denke schon.'
‚Oder vielleicht nur der Kälte?'
‚Du meinst, die Kälte, die die Welt regiert? Vielleicht.'
‚Vielleicht wollen wir beiden ja trotzen.'
‚So oder so. Wir würden ja doch nur verlieren.'
* * * * * * * * *
Ginny antwortete nicht auf Draocs Frage. Ihr war kalt, ja. Ihr war immer kalt, wenn sie mit Draco zusammen war. Selbst in einer lauen Mainacht wie dieser.
Er hatte sie nachdenklich gemacht.
So wie er es immer machte.
Würde er wirklich fliehen wollen? Oder wollte er sie nur testen? Er war so unergründlich, nie konnte man sehen, was er wirklich dachte. All' seine Gesten wurden von einer Art Gleichgültigkeit beherrscht, dass es schwierig war, seinen wahren Gedanken auf die Spur zu kommen.
Würde sie denn wirklich nicht mitgehen wollen?
Natürlich würde sie.
Ihr Herz hatte vorhin einen Hüpfer gemacht, als er sie gefragt hatte. Einen Hüpfer voller Freude.
Sie würde mitgehen wollen.
Aber ihre Stimme der Vernunft versuchte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen.
Es hätte keinen Sinn, wenn sie fliehen würden. Sie selbst würde sich immer mit der Frage quälen, ob man sie vermissen würde. Ob sie nicht besser da geblieben wäre. Ob man ihre Hilfe benötigte.
Ganz gleich, ob es eine große oder eine kleine Hilfeleistung war, die man von ihr benötigte. Eine Geste der Hilfsbereitschaft reichte schon aus, um ein dankbares und glückliches Funkeln in den Augen ihrer Freunde und Familie hervorzurufen.
Aber was war, wenn Draco recht hatte?
Wenn man sie nicht vermissen würde? Wenn sie nur so lange Freunde hatte, so wie sie so dachte wie sie?
Wenn es gar kein Licht und keine Dunkelheit gab?
Ginny schüttelte den Kopf und versuchte ihre Zweifel loszuwerden.
Natürlich gab es sie. Sowie es Gut und Böse gab. Es würde immer das Eine sowie das Andere geben. So wie es Tag und Nacht geben wird.
„Voldemort rüstet auf", drang Dracos leise Stimme an ihr Ohr.
Sie sah auf. Etwas verwirrt. Und alarmiert. Sie sprachen nie über Voldemort und seine Pläne.
„Was willst du damit sagen?", horchte sie auf.
„Das es nicht mehr so einfach wird."
„Mit der Welt? Mit dem Kampf? Oder mit uns?"
Draco lächelte.
Ein Lächeln, was seine Augen nicht erreichte.
Ginny fragte sich, ob es überhaupt ein Lächeln gab, was seine Augen jemals erreichen konnte.
Offenbar nicht.
Vielleicht war der Weg zu weit, um das Ziel jemals erreichen zu können.
So sehr wie Menschen vergeblich nach Unsterblichkeit streben mochten, sosehr versuchte vielleicht das Lächeln seine eisgrauen Augen zu erreichen.
„Mit uns", antwortete er. „Es ist nicht für uns bestimmt, dass wir uns treffen."
„Aber wir haben es doch die ganze Zeit getan."
„Es wird gefährlicher." Draco sagte es in einem Ton, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
„Du willst nicht mehr, dass wir uns sehen, nicht wahr?"
„Nein, das ist es nicht." Er spielte wieder mit einer ihrer roten Locken. „Wir müssen nur aufpassen."
Ginny lächelte erleichtert. „Aber natürlich passen wir auf." Sie küsste ihn auf die Stirn, während ihre Hand sich in seine silberblonden Haare vergrub. „Wir passen doch immer auf."
Sie sah ihn an. Kälte hatte sich in seine Augen geschlichen, eine Kälte, die stärker war als die Arroganz und Gleichgültigkeit.
„Was ist mit dir?", fragte sie.
Draco schüttelte leicht den Kopf. „Nichts", sagte er sanft.
Er zog sie näher zu sich und küsste sie auf dem Mund.
Sie ließ ihn gewähren.
Sein Kuss wurde fordernder und er drückte sie auf das Nachtlager zurück.
Ginny schloss die Augen.
Sie dachte an Schnee, als sie Dracos kalte Lippen spürte.
Und an die Kälte, die seine Augen beherrschte.
Ob es solch' eine Kälte gab, die die Welt regierte?
