5. Kapitel

- Dunkelheit -

Juni 1997.

Er hatte einen Entschluss gefasst.

Voldemort war wieder da und seine Armee war groß.

Nicht groß genug, aber sie würde trotz allem eine Gefahr darstellen.

Draco wusste nicht, ob Dumbledore ihm Einhalt gebieten konnte.

Eines stand schon mal fest. Fudge würde es nicht tun können. Fudge war ein Verlierer. Ein Versager der höchst jämmerlichen Sorte und er würde sich freuen, wenn sein Vater ihn ins Jenseits befördern würde.

Wie geschockt Fudge doch sein würde.

Ein geglaubter Freund würde ihn töten.

Ja, Fudge glaubte doch tatsächlich, sein Vater – Lucius Malfoy – sei ein Freund der guten Seite. Wie entsetzt er doch sein muss, wenn sich das Gegenteil herausstellen wird.

Draco lächelte.

Er saß mit seinen Slytherinfreunden in einem Abteil des Hogwartsexpress.

Das sechste Schuljahr war zuende.

Ja, Fudges letzte Gewissheit wird sein, dass sein angeblicher Freund ein Feind ist und er sich die ganze Zeit geirrt hat. Seine letzte Gewissheit wird die sein, dass er einen großen Teil der Schuld darüber, dass die Welt in Dunkelheit gestürzt wird, mitgetragen hat.

Wie es wohl sein wird, wenn der letzte Gedanke im Leben ein Gedanke voller Entsetzten und Qual ist?

Draco wusste es natürlich nicht und er würde es auch nie erfahren.

Er selbst lebte schließlich nicht in Illusionen.

Er kannte nur die Dunkelheit.

Und Dunkelheit enttäuschte ihre Freunde niemals. Sie strahlte von Anfang an in voller Wahrheit, wie konnte sie also jemanden täuschen. Das war unmöglich.

Er dachte an Ginny.

Ob sie jemals wahre Dunkelheit erfahren würde?

Vielleicht, wenn sie den Verlust erfährt, der sie einholen würde, wie alles andere.

Irgendwann brechen auch Illusionen auseinander und die Lügen halten nicht länger stand, um die Wahrheit gefangen halten zu können.

Vielleicht erlebt sie es ja und dann würde sie sich sicher nicht länger der Dunkelheit verweigern können.

Der Wahrheit.

Zu wissen, dass das Leben eine Lüge ist und die Menschen Spielfiguren.

Zu wissen, dass es nichts gab, wofür es sich zu kämpfen lohnte, außer Macht.

Er erinnerte sich an die Mainnacht in der Heulenden Hütte. Wo er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm mitkommen würde.

An einen Ort ohne Macht. Und ohne Lügen.

Wäre das wirklich etwas für ihn gewesen?

Er bezweifelte es. So sehr ihm all das ankotzte, sosehr belächelte er die Welt mit dem Wissen, auf der Seite der Gewinner zu stehen.

Er hätte der Macht nicht den Rücken kehren können.

Er war ein Malfoy. Malfoy holen sich die Macht. Vernichten die Unschuld. Sind etwas Besseres.

Der Zug hielt pfeifend in London an und die Schüler Hogwarts stiegen samt Koffer aus.

Draco sah seine Eltern schon von Weitem.

Aber er suchte noch jemand anderen.

Dort.

Ihr feuerroter Haarschopf war nicht zu übersehen.

Auch sie hatte nach ihm Ausschau gehalten.

Er musste ihr es sagen. Sie lockte Gefühle aus ihm hervor. Gefühle, die er sich nicht leisten konnte. Er musste es verhindern. Dem ein Ende setzen.

Unauffällig kletterte er wieder in den Zug hinein, so, als ob er noch seine Koffer holen musste.

Ginny folgte ihm.

In einem leeren Gang blieben sie stehen.

„Es ist soweit", sagte er.

Zeit zum Abschied nehmen.

* * * * * * * * *

‚Stehen wir vor dem Ende?'

‚Vielleicht. Vielleicht stehen wir aber auch vor dem Anfang.'

‚Dem Anfang vom Ende?'

‚Du scheinst das Ende kaum erwarten zu können, nicht wahr.'

‚Ich fürchte mich vor dem Ende.'

‚Du musst dich nicht fürchten.'

‚Ich fürchte mich vor der Dunkelheit.'

‚Fürchte nichts außer die Furchtlosigkeit, die aufkommt, wenn du nichts mehr zu verlieren hast.'

* * * * * * * * *

„Was wirst du jetzt tun?", fragte sie ihn.

Draco zuckte mit den Achseln und schaute sie irgendwie traurig aus seinen grauen Augen an.

Noch etwas lag in seinen Augen.

Dunkelheit.

Sie standen dicht voreinander.

Irgendwie wusste Ginny, dass sie Draco nicht so schnell wiedersehen würde. Sie hatten niemals darüber gesprochen, was während und nach den Ferien sein würde, wie es mit ihnen weitergehen würde – und nun bereute sie es.

„Werden wir uns wiedersehen?", fragte sie. Sie hoffte es.

Draco nickte. „Nach den Ferien."

Ginny schüttelte den Kopf. „Ich meine, werden wir uns richtig wiedersehen? Werden wir uns treffen?"

Draco legte den Kopf sanft zur Seite und maß sie mit seinen kühlen Blicken. „Ich fürchte, nein."

Ginny stockte der Atem. „Warum?" Ein Wirbelsturm voller Gefühle wuchs in ihrem Kopf heran. Wie eh und je durchfegte er ihren Körper, um anschließend die Tore zur Seele aufzubrechen. Gewaltsam. Mit stechendem Schmerz.

„Dir hat es doch auch immer gefallen."

Eigentümlich lächelte Draco sie an. Dann beugte er sich zu ihr herunter, zu ihrem rechten Ohr und flüsterte etwas. Sein kalter Atem streifte ihre Wange.

„Ich habe dich angelogen. So wie ich es immer getan habe. Das ist das letzte Lächeln, dass ich fälsche, um mit dir zusammen sein zu können. Ich habe versucht, alles zu machen, was du wolltest. Das ist das letzte Mal, dass ich die Schuld mit dir sein zu wollen, auf mich nehme. Alles fällt auseinander. Der Verlust ist nie etwas zu wissen."

Er richtete sich wieder auf.

Eine stumme Bitte des Verzeihens hatte sich in seine Augen geschlichen.

Verwirrt schaute Ginny ihn an.

‚Was soll das?'

„Angelogen? Wie meinst du das? Was ist so schlimm daran, dass wir uns nicht mehr sehen dürfen?"

Dann begriff sie.

Ihre Liebe zueinander hatte ihr Ende genommen. Es war kein Platz für sie in dieser Welt.

Obgleich es nie wirkliche Liebe gewesen war, ballte sich Wut in Ginny zusammen.

Ohnmächtige Wut auf diese Welt. Und nur ihre gelassene Ruhe verriet, dass sie innerlich hätte explodieren können.

Wie ein Vulkan.

Sie wusste nicht warum. Sie dachte nicht mehr daran, dass sie Draco genauso wenig geliebt hatte wie er sie. Ihr kam der Gedanke nicht, dass sie sich unbewusst in ihn verliebt hatte und die Aussicht auf das Ende ihr das Herz zu zerreißen drohte.

Sie dachte nicht mehr daran, dass ihre Liebe keinen Platz auf dieser Welt hatte. Voldemort war schließlich wieder da. Und sie und Draco würden auf verschiedenen Seiten stehen.

Wäre sie doch nur mit ihm geflohen.

Zu einem Ort irgendwo zwischen den Welten, in der man tun konnte, was man wollte. In der es keine Verbote gab. Keine Regeln, um in der Gesellschaft überleben zu können.

Sie spürte Dunkelheit.

Dunkelheit, die an ihre Seele zerrte und sich in den Tiefen ihres Herzens einnisten wollte.

Dunkelheit.

Ersehnte Dunkelheit.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Warum?", wisperte sie verzweifelt.

„Alles hat irgendwann mal ein Ende, Ginny", antwortete Draco beinahe gleichgültig.. „Das Leben ist nicht immer so schön, wie man es annimmt, nicht wahr?"

Wieder beugte er sich langsam zu ihrem rechten Ohr hinunter. „Es war eine schöne Zeit", flüsterte er.

Dann spürte sie wie seine kalten Lippen sich auf die ihren legten und er ihr einen sanften, letzten Kuss gab.

Dann ließ er sie zurück.

Allein. Mit der Dunkelheit.