Titel: Das Haus

Teil: 2/3

Autor: Shiva

Email: shiva@anime.de

Serie: Gravitation

Rating: PG 12

Warnings: Böse Geister, Spuk und Dämonen

Pairing: K/ Sakano (angedeutet)

30.10.03 Ks Visionen

Am nächsten Morgen sahen alle nicht sehr ausgeschlafen aus, denn nach dem Brand hatte keiner der Anwesenden mehr Ruhe gefunden. K war kurz davor, über seiner Müsli-Schale einzunicken und in der Milch zu ertrinken. Ryuichi war gerade noch in der Lage, ihm unter dem Tisch einen Fußtritt zu versetzen. „Nicht einschlafen, K!", griente er, als dieser hochschrak.

„Und? Was steht heute noch alles so an?", wollte Fujisaki wissen, der auch nicht ganz ausgeschlafen war. Sakano hob seinen Kopf ein wenig hoch, den der auf die Hände gestützt hatte, während er auf einem knusprigen Brötchen kaute.

„Ich denke, wir schauen uns erst mal eingehend das Haus an und schauen dann, wo und wie wir die Kameras und das alles stationieren können, wenn wir hier drehen."

Der Hausverwalter, der gerade einen Nachschub an frischer Backware auf den Tisch stellte, bemerkte wie nebenbei: „Aber bitte gehen sie nicht in die gesperrten Teile des Hauses, sie sind baufällig und könnten gefährlich sein. Ich selbst war seit Monaten nicht mehr im Westflügel. Daher sollten Sie sich dort auch nicht aufhalten. Der Ostflügel mit all seinen Ahnengalerien und dem Flügelraum steht Ihnen natürlich uneingeschränkt zur Verfügung. Den Weinkeller schließt das natürlich auch mit ein."

„Gibt's hier auch eine Folterkammer?", fragte Shuichi neugierig. Hills zwinkerte gutmütig.

„Ja, unten im Keller des Westflügels. Die ist aber nicht mehr in Benutzung.... Jedenfalls nicht regelmäßig." Als sich alle Augen entsetzt auf ihn richteten, begann er zu lachen und fiel in seine Muttersprache zurück.

„Just a joke. I tell it every time."

"Ja, wirklich sehr komisch", brummte K müde. Er glaubte zwar nicht, dass der Hausbesitzer die sprichwörtliche Leiche im Keller hatte, aber er war sicher, dass er sich diese Folterkammer mal ansehen wollte, Westflügel hin oder her. Er tauschte ein paar verstohlene Blicke mit Shuichi, der auch ganz nachdenklich dreinschaute.

Mr. Hills schien ihren stummen Wortwechsel bemerkt zu haben, denn er fuhr sogleich dazwischen: „Die Kammer ist nicht zur Besichtigung oder zu Dreharbeiten gedacht. Außerdem ist dieser Bereich für Sie und alle anderen außer den Bauarbeitern gesperrt!"

Sakano versuchte, die Lage schnell zu entschärfen. „Nein, ich denke die Räume die wir haben, werden mehr als ausreichend sein."

Kaum eine Stunde später standen sich K und Shuichi in der Eingangshalle gegenüber. Der Jüngere musste seinen Kopf in den Nacken legen, um K mit wissendem Blick und einem verschmitzten Grinsen in die Augen sehen zu können. Der Manager von Bad Luck nickte nur leicht und wie auf Stichwort begaben sich beide zum Eingang des Westflügels, der sich gleich mit einem langen Korridor an die Eingangshalle anschloss. Ein Stückweit war dieser noch begehbar, doch nach 10 Metern war die Welt mit Bretten vernagelt. Jedenfalls fast.

Die Absperrung war deutlich mit einem Eisengitter gekennzeichnet und K reckte den Hals darüber, um in die Weiten der Gänge lugen zu können. Und es waren wirklich weite Gänge. Da die Fenster, die den Flur säumten, lange nicht mehr geputzt wurden, fiel das strahlend helle Sonnenlicht von draußen nur in einem schmutzigen Gelbbraun ein und schuf eine düstere, schmuddelige Atmosphäre. Der Staub, der in der Luft hing, ließ den Korridor wie ein safranfarbenes Nebelfeld wirken.

„Was meinst du, Shindou-kun?" Beide wussten, dass es sich dabei um eine rhetorische Frage handelte, denn sie wussten genauso, dass sie sich nun auf die Suche nach der Folterkammer machen würden. Doch um die Dinge absolut klarzustellen, erwiderte Shuichi: „Gehen wir rein."

Kurzerhand schwang K eines seiner langen Beine über die Absperrung. Sogleich zog er das andere nach und half Shuichi beim Überqueren des Gitters.

Die erste Hürde war somit genommen. K hatte kein gutes Gefühl. Er kam sich vor, wie jemand der ein Heiligtum geschändet hatte, war ihnen doch mehrfach verboten worden, hier vorzudringen.

Schnell schob er den Gedanken beiseite und genauso schnell huschten er und Shuichi um die nächste Ecke, außerhalb der Sichtweite, die man aus der Eingangshalle heraus hatte. Shuichi atmete in hörbarer Erleichterung aus.

„Jetzt können wir uns erst einmal sicher fühlen."

Doch K fühlte sich keineswegs sicher. Hier waren die Fenster noch verschmutzter und teilweise mit dunkler Folie abgeklebt, so dass noch weniger Licht einfiel. Und jetzt fiel K auch auf, warum es hier so ungemütlich wirkte. Es waren nicht nur die Lichtverhältnisse. An keiner der Wände hing auch nur ein einziges Bild. Dieser Korridor war nicht zu vergleichen mit seinem exakten Gegenstück im Ostflügel, wo die Ahnengalerie die Wände zierte. Aber auch das war es nicht allein. Hier lag etwas in der Luft, das er nicht erklären konnte. Er konnte es nur fühlen. Und es fühlte sich nicht gut an.

Am Ende des Ganges angekommen, fanden sie eine Rundbogentür, die anders als die anderen, mit Eisenbeschlägen versehen war. Rund um die Tür rankten sich Fresken von einem Geschöpf, das an einen Höllenhund erinnerte. K schüttelte sich bei der Erkenntnis, dass er ziemlich große Ähnlichkeit mit dem Geschöpf aus dem Wald hatte, außer den drei Köpfen natürlich.

Während K sich noch vor den Fresken fürchtete, zerrte Shuichi schon an dem Türknauf, der ebenfalls die Form eines Hundekopfes hatte. K war zu sehr in Gedanken versunken, um Shuichi fragen zu hören, ob er seinen Dietrich dabei hatte.

„K! Ich rede mit Ihnen!"

„Ah, gomen. Was hast du gesagt?"

„Ihr Dietrich?"

„Achso. Ja, sofort." Umständlich kramte er den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. „Willst du es versuchen, Shindou-kun?"

Der pinkhaarige Sänger nickte. Etwas ungeschickt, aber dennoch entschlossen steckte er das schlüsselähnliche Gebilde in das alte Vorhängeschloss und halb mit auf Ks Anweisung hin mit dem Metallstäbchen nach.

Gerade als das Schloss knackend aufsprang, legte sich eine eiskalte Hand auf Ks Schulter, so dass ihm die Nackenhaare zu Berge standen.

„Hab ich's mir doch gedacht, dass ich Sie beide hier finde."

Shuichi gab einen erschrockenen Schrei von sich, der aber auf halben Wege in seiner Kehle stecken blieb.

„Mr. Hills", stellte K erleichtert fest. Diese Hand war so kalt gewesen, dass sie dem Tod selbst hätte gehören können. Nun galt es, sich schnell eine Erklärung für diese Aktion hier auszudenken. Doch Shuichi kam ihm zuvor.

„Wissen Sie, Mr. Hills... Hiro hat seinen Hamster mitgebracht und der ist plötzlich verschwunden. Und Fujisaki-kun meinte, er wäre in den Keller gelaufen! Stimmt doch, oder K-san?"

Der Angesprochene hatte schon resigniert den Kopf gesenkt. Shindou war wirklich der schlechteste Lügner Japans.

„Soso", erwiderte der Hausbesitzer kichernd. „Dann wollen wir mal nach dem Hamster suchen." Er stemmte die schwere Tür auf und machte das Licht mit einem völlig verstaubten Schalter an.

„Na, wo haben wir ihn denn? Vielleicht hat er sich ja hier in einem von diesen Bildern versteckt?", grinste Mr. Hills.

In der Mitte des winzigen Raumes, stand eine große Staffelei, auf der ein zugehängtes Bild stand. Auch an den Wänden lehnten überall riesige verdeckte Bilderrahmen, deren Überwürfe aus Leinen mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren.

„Sie haben tatsächlich geglaubt, ich würde hier die sprichwörtliche Leiche im Keller haben, was?", lachte der ältere Mann belustigt.

„Dafür haben Sie ihr Geheimnis aber sehr gut hüten wollen", bemerkte Shuichi trocken.

„Ich will nur nicht, dass ihnen die Decke auf den Kopf fällt. Und das ist nicht ganz unmöglich, hier im Westflügel sind die Wände noch nicht verstärkt."

„Aha", war Ks einziger Kommentar dazu. „Darf man sehen, was auf diesen Bilder ist?"

„Wenn sie darauf bestehen", brummte der Hausbesitzer widerwillig, bevor er mit spitzen Fingern vorsichtig das grau gepuderte Tuch von dem Gemälde entfernte. K erstarrte.

Aus dem Bild stachen ihm zwei Augen entgegen, die ebenso blau waren, wie die seinen. Auch sonst hatte der altertümlich bekleidete Mann ähnliche Gesichtszüge wie er. Die hohen, ausgeprägten Wangenknochen, die lange gerade Nase und vor allem diese kleinen blauen Augen, die einen Hauch von Boshaftigkeit erahnen ließen. Oder war es nur Entschlossenheit? Bis auf sein blondes Haar, das im Gegensatz zu Ks zu einer Kurzhaarfrisur getrimmt war, hätte der Mann auf diesem Bild sein Bruder sein können.

„Das gibt's nicht!", entfuhr es Shuichi. „K, wann haben Sie dafür Modell gesessen?"

„Oh, Mr. K war das gewiss nicht. Dieses Gemälde ist über 200 Jahre alt. Der Mann, den Sie hier sehen, ist William Joseph Winchester."

Das war zuviel für K. Er stürmte an Shuichi und Hills vorbei, durch den Korridor, in die Eingangshalle. Dort rempelte er Sakano über den Haufen, bevor er hinaus ins Freie stürzte.

Der kalte Oktoberregen, der auf ihn hinab prasselte, störte ihn dabei nicht. In den Wald lief er nicht. Er würde sich hüten, noch einmal dieses verfluchte Gehölz zu betreten. Er rannte die Straße entlang, auf der sie hergefahren waren. Kurz bevor die kalte Herbstluft ihm die Lungen zu zerreißen drohte, blieb er stehen. Nass vom Regen, der sich mit dem kalten Angstschweiß auf seiner Haut vermischte, keuchte er: „Das ist... unmöglich."

K war auf die Knie gesackt und ließ sich sein heißes Gemüt vom Regen kühlen. Er rieb sich seine brennenden Augen.

Von weit her drangen vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, die die nasse Straße in einen Spiegel verwandelte. K musste blinzeln und innerhalb eines Augenschlags verschwamm die asphaltierte Straße vor seinem Gesichtsfeld. Es war, als würde er der Wirklichkeit immer weiter entrückt um in eine trübe Welt der Trugbilder entführt zu werden, ohne sich dagegen wehren zu können.

Die Straße, die eben noch vor ihm lag, verwandelte sich in einen graublauen See, von dessen Oberfläche pulsierend Nebelschwaden emporstiegen.

Nur wenige Augenblicke später war K ganz von Neben eingehüllt. An ein zurück war nun nicht mehr zu denken. K konnte sich nicht mehr bewegen. Er war nicht einmal mehr fähig, seine Lider zu schließen. So musste er sich das schaurige Spektakel ansehen, das sich abspielte. Als würden sie sanft von einer Kamera eingeblendet, erschienen zwei Männer am Rande des Sees, die sich zu unterhalten schienen.

Der eine war groß, breitschultrig und hatte kurze blonde Locken.

Auch wenn K es auf diese Entfernung nicht mit Sicherheit sagen konnte, war er sich sicher. Bei diesem großen Mann handelte es sich um William Joseph Winchester, seinem Ebenbild, das er vor ein paar Minuten auf einem Gemälde gesehen hatte.

Nun stand dieser Mann am Ufer des Sees mit einem Unbekannten, der einen ganzen Kopf kleiner war als William. Der andere Mann war brünett und hatte sein langes Haar zu einem Zopf in den Nacken gebunden. Beide trugen Jacketts mit hohen Krägen und darunter eine Weste. Man sah ihnen ihre Herkunft aus gutem Hause an, denn diese Gesellschaftskleidung war im 19. Jahrhundert nur für den Adel erschwinglich.

Von Adel ließ ihr Verhalten jedoch nicht zeugen. Ein heftiger Streit brach aus, in dem das Gesicht des fremden vor Wut rot anlief. Die Worte konnte K nicht hören, es war, als hätte jemand bei diesem Film den Ton abgestellt.

Schon begannen die beiden Herren sich zu schubsen. William war der erste, der die Hand gegen den anderen erhob. Ein kräftiger Faustschlag ins Gesicht ließ sein Gegenüber zu Boden gehen. Mit einem sadistischen Grinsen sagte er noch etwas, bevor er dem Braunhaarigen einen Tritt in die Magengrube verpasste, so dass er in der seichten Uferbrandung des Sees landete.

K wollte nicht mehr hinsehen. Er wollte aufstehen und wegrennen, doch keines seiner Glieder wollte sich rühren.

Zitternd musste er mit ansehen, wie der Mann, der ihm doch so ähnlich sah, den Unbekannten an seinen langen Haaren packte und ihn trotz dessen verzweifelten Widerstands unter Wasser tauchte.

Der Ertrinkende wehrte sich und versuchte, William zu Boden zu reißen. Doch der hatte einen festen, breitbeinigen Stand und fuhr unbeirrt fort. Mit dem letzten Zucken des Opfers kehrte der Ton in den Film zurück. Die Hand noch am Haarschopf des Toten blickte William auf. Er sah K direkt in die Augen, die genauso blau waren wie die seinen.

„Siehst du? Es war ganz leicht."

K wollte schreien. Er wollte schreien, bis seine Lucken platzen, doch er konnte nicht einmal den dicken Kloß im Hals herunterschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Im nächsten Augenblick war William verschwunden. Nur noch der Leichnam seines Opfer trieb zwischen den Schilfgräsern im See, die sich sanft im Wind wiegten.

Immer noch bewegungsunfähig wunderte sich K. Die Vision war doch vorbei, warum konnte er sich immer noch nicht rühren? Wollten die Geister der Vergangenheit ihn hier so lange festhalten, bis er zusammen mit der Leiche im See verrottete?

Schon im nächsten Moment wurde seine Frage auf schreckliche Weise beantwortet.

Die Leiche im See dachte gar nicht daran, zu verrotten, sondern regte zuckend ihre Glieder. Der Glaube, der Schrecken von eben ließe sich nicht mehr steigern strafte K Lügen. Denn nun kletterte der vermeintlich Tote ans Ufer zurück. Mit unkoordinierten Bewegungen steuerte er seinen weißlich grauen Leib auf K zu, der nun verzweifelt versuchte, aus seiner Starre zu entkommen. Je näher er kam, desto deutlicher wurde ihm, dass der Mann wirklich tot war. Seine Haare hingen ihm strähnig und nass vor das Gesicht, das eingefallen doch zugleich auf eine widerliche Weise aufgedunsen und runzlig war.

Ein Schritt näher und K konnte einen ekelerregenden Verwesungsgeruch riechen, der von ihm ausging. Noch ein Schritt näher und er erkannte, dass dem toten die Pupillen fehlten. Das gesamte Auge war weiß.

K wusste, er würde sterben, wenn er sich jetzt nicht befreien konnte. Dieser Zombie würde ihn dahinmetzeln.

Besagter Zombie hatte ihn nun erreicht. K saß vor ihm auf den Knien und sah zu ihm herauf. Der Tote atmete schwer und mit jedem Hauch drang der ekelhafte Geruch des Todes in Ks Nase.

„Du bist schuld!", krächzte der Tote mit heiserer Stimme.

K konnte nicht antworten, sein Körper konnte keine Bewegung tun.

*Nein, ich war es nicht!*, schrie er in Gedanken.

„Du bist schuld!", wiederholte der Kadaver vor ihm und erhob seien verfaulenden Arm gegen K.

Ein kräftiger Schlag ins Gesicht holte K wieder in die Realität zurück. Er saß völlig durchnässt auf der Straße, die zum Haus führte, vor ihm ein völlig aufgelöster Sakano, der ihm offensichtlich den Schlag verpasst hatte.

Sogleich fand K seine Sprache wieder.

„Sakano...", sagte er nur und starrte den Mann mit der Brille entgeistert an.

Der Angesprochene war, wie er selbst, völlig durchnässt, außer Atem und zudem noch aufgeregt.

„Ja ich. Was zur Hölle war mit dir los? Du warst zwei Minuten lang wie weggetreten."

K raffte sich mühsam auf, denn langsam spürte er den Asphalt unangenehm kalt unter sich.

„Ich weiß es nicht", erwiderte er mit leerem Blick.

Sakano verzog die Mundwinkel, sagte aber nichts. Er konnte spüren, dass da etwas war, trotzdem schien es ihm besser, nicht weiter nachzufragen. Wenn K etwas belastete, würde er schon selbst anfangen zu reden.

Doch K redete nicht.

Ungeachtet Sakanos wildem Klopfen schloss er sich in ihrem gemeinsamen Zimmer ein und zog die Vorhänge zu. Er wollte allein sein, niemanden sehen und schon gar nicht mit jemandem sprechen.

„Lass mich in Ruhe!", schrie er Sakano durch die Tür zu.

„Das ist genauso mein Zimmer! Und ich will mich jetzt umziehen. Ich bin vollkommen durchnässt!"

K schwieg.

„Lass mich jetzt rein!", brüllte der Ausgeschlossene und trat gegen die mit Schnitzereien verzierte Tür.

K regte sich nicht. Der Tumult draußen nahm ein jähes Ende. Sakano hatte aufgegeben. Ein Teil von ihm hoffte, dass sich sein Arbeitskollege nicht über die Brüstung der Empore stürzen würde. Doch da er keinen Aufprall vernahm, verwarf er den Gedanken wieder und wandte sich seinen eigenen dunklen Grübeleien zu.

Was war heute Nachmittag auf der Landstraße geschehen? Was wäre gewesen, wenn Sakano nicht plötzlich aufgetaucht wäre und ihn aus seiner Trance gerissen hätte?

„Du wärst gestorben", erwiderte eine Stimme neben ihm. K wagte es nicht, den Kopf zu drehen. Nein, das war nicht real, das konnte es gar nicht geben!

„Du hast mich doch mit eigenen Augen gesehen", sagte die Stimme. Er kannte sie nur zu gut, er hatte sie heute schon einmal gehört.

„Verschwinde", wimmerte K und hielt sich die Ohren zu. Diese Stimme war nicht wirklich und wenn er hinsehen würde, wäre dort nichts außer seinem Nachttisch und einem Fenster mit rotem Vorhang. Er zwang sich, hinzusehen und drehte seinen Kopf mit einem Ruck zur Seite. Vor ihm stand die Leiche aus dem Teich.

„Stirb!" Mit ihrem fauligen Arm schlug sie nach K. Dieser rollte sich reflexartig über das Bett und entkam dem Hieb des toten Mannes. Aus den knochigen Fingen wuchsen lange spitze Krallen.

„Ich kriege dich ja doch, du Bastard."

„Das werden wir sehen!", rief K und zog seine Waffe aus seinem Schulterholster, das er über den samtbezogenen Stuhl gehängt hatte.

„Zu langsam", griente die Leiche, die jetzt aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Plötzlich stand sie neben ihm. Gezielt schlug sie ihre klauen in Ks Arm, der aufschrie und seine Waffe fallen ließ.

Im Ausgleich dafür packte K den Stuhl und schleuderte ihn herum, um ihn seinen Gegner an den Kopf zu schlagen. Doch das Möbelstück glitt ungebremst durch den ätherischen Körper des Geistes hindurch.

Dafür traf er fast Sakano. Nur im letzten Moment hatte der schwarzhaarige Mann sich ducken können.

„Bist du irre? Was sollte das?" Sakano war wütend.

K erwiderte nichts, setzte nur langsam den Stuhl auf den Boden. Der Geist war verschwunden, als wäre er nie da gewesen.

„Ich habe einen Geist gesehen", sagte er schließlich in ruhigem Tonfall.

„Es gibt keine Geister", entgegnete Sakano trocken. Die Wut brodelte zwar noch immer in seinem Inneren, doch er beherrschte sein Mienenspiel.

„Hier schon."

Sakano seufzte, schob seine Brille hoch und massierte sich entnervt den Nasenrücken. „Was mache ich nur mit dir? Ich habe dich noch nie so erlebt. Ich weiß nicht, inwieweit ich dir noch trauen kann und ob du noch richtig bei Verstand bist."

Er setzte die Brille wieder richtig auf die Nase und sah K in die Augen. „Ich mache mir Sorgen!"

„Ich mir auch."

Der Schwarzhaarige ließ nicht locker. „Was war heute Nachmittag los? Und was war das eben?"

K antwortet nicht und wandte seinem Gesprächspartner den Rücken zu. „Lass mich in Ruhe."

„Verdammt, rede mit mir!", schrie Sakano und packte k unsanft am Arm. Dieser zuckte vor Schmerz zusammen.

Erschrocken zog Sakano seine Hand zurück und bemerkte, dass sie voller Blut war. Ein Kälteschauer bahnte sich den Weg von seinen Schultern den Rücken hinunter. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, wusste er doch, dass K hier die ganze Zeit allein im Zimmer war. Jetzt wusste er auch, dass er die ganze Zeit über die falschen Fragen gestellt hatte. Fragen, auf die K nicht antworten konnte und wollte. Jetzt würde er die einzig richtige Frage stellen.

„Was hast du gesehen?"

Sakano hatte K den Arm verbunden und ihm stillschweigend zugehört. Als sein Arbeitskollege zu dem Teil mit der Leiche am See kam, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Was wäre geschehen, wenn er nicht dazwischengekommen wäre?

Bei diesem Gedanken fiel sein Blick auf Ks bandagierten Arm. Hätte es so weit kommen können, dass diese Kreatur ihn hätte umbringen können? Die Verletzung war ihm Beweis genug, dass K nicht gelogen hatte. Es war gefährlich hier für ihn.

„Ich habe Angst", endete K. „Furchtbare Angst." Verzweiflung lag in seinen Augen. Er sah so bedauernswert aus, dass Sakano ihn einfach in den Arm nehmen musste.

„Es wird alles gut", flüsterte er. „Wir reisen ab. Noch heute."

K erstarrte in seinen Armen. Er schob Sakano von sich und sah ihm mit entschlossener Miene an.

„Niemals."

Die Augen Sakanos verengten sich. „Willst du hier sterben?"

„Nein. Aber ich werde nicht klein beigeben. Schon gar nicht bei so einem Möchtegern-Gespenst."

Verständnislos sah Sakano ihn an. „Ich denke, du hast Angst?!"

„Hab ich auch. Aber meine Hartnäckigkeit ist stärker." Nun zeigte sich doch tatsächlich ein Grinsen auf Ks Gesicht.

„Meine aber nicht. Es wäre vernünftiger..."

„Nicht wegzulaufen. Man darf dem Feind nie seine Schwäche zeigen, wenn man gewinnen will." K zog sich ein frisches Hemd an.

Ratlos kratzte sich Sakano am Kopf. „Nach dem, was du erzählt hast, bin ich mir nicht sicher, ob du gewinnen kannst..."

„Jetzt schon, da ich weiß, dass ich nicht verrückt bin. Diese Wunde ist der Beweis dafür, dass ich keine Halluzinationen habe. Diese Geister sind real und ich werde mich ihnen stellen."

„Ich frage mich nur, warum nur du sie siehst."

„Komm mit, ich zeigs dir."

K führte Sakano in die Ahnengalerie im Ostflügel. Vor einem bestimmten Bild blieb er stehen.

Es zeigte einen Mann, der seine langen braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Er trug einen edlen Gehrock, ein weißes Hemd mit Rüschenbesatz am Kragen und einen Zylinder unter seinem linken Arm.

„Das ist der Mann, der im See ertränkt wurde. Hier ist er freilich noch etwas jünger, doch das ist er, ohne Zweifel."

„Ernest John Cummingdale", las Sakano das Schild unter dem Bild vor. „1782 bis 1803. Er ist nur 27 Jahre alt geworden."

„Das liegt daran, dass ich ihn ersäuft habe", brummte K.

„Was?", entfuhr es dem kleineren der Beiden. „Du sagtest doch es sei dieser William Winchester..."

„Kennst du meinen vollen Namen?", unterbrach K. Als Sakano den Kopf schüttelte fuhr er fort.

„Claude K. Winchester."

Als Shuichi beim Abendessen fragte, was mit K losgewesen sei, dass er so aus dem Keller gestürmt war, wurde er mit einer dämlichen, aber wirkungsvollen Ausrede abgespeist.

K konnte gut lügen und so fiel es Shuichi gar nicht auf, dass sein Manager nicht die Wahrheit sagte, als er beteuerte, ihm sei plötzlich übel geworden.

„Aber Shindou-kun hat wirklich recht, William Winchester sieht Ihnen wirklich ähnlich, K-san", schmunzelte Tohma.

Noriko schob sich gerade ein Stück Räucherfleisch in den Mund. „Nur, dass William besser aussieht."

K warf Noriko einen böse Blick zu, die ihm daraufhin die Zunge rausstreckte.

„Wie die kleinen Kinder", brummte Yuki Eiri.

„Vielleicht ist dieser Mann ihr Vorfahr?", warf Fujisaki ein.

Hiro ging sofort darauf ein. „Das wäre doch eine Recherche wert, was meinen sie?"

Shuichi nickte eifrig dazu.

„Nein", sagte K bestimmt. Ich lebe in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit."

„Sie möchten wirklich nicht wissen, wer für ihre Existenz verantwortlich ist?", wunderte sich Tohma.

Sakano hatte bis jetzt geschwiegen. „Lassen Sie ihn doch, wenn er es nicht möchte..."

Hiro zuckte mit den Schultern. „Na gut, wenn es Sie nicht interessiert, dann aber mich. Ob er Ihr Ahnherr ist oder nicht, ich möchte mehr über diesen Mann wissen. Was sagt ihr, fahren wir morgen in die Stadtbibliothek?"

„Klar doch!", rief Shuichi. Fujisaki nickte. Auch Tohma fand diesen Vorschlag gut.

Noriko lehnte ab. „Ich ziehe es vor, die Fahrt in die Stadt zu nutzen, um mir einen schicken Regenmantel zu kaufen. Kann man hier scheinbar gut gebrauchen."

„Macht von mir aus, was ihr wollt", knurrte K. Er hoffte nur, dass sie nichts herausfanden.

Der einzige, der sich die ganze Zeit sehr ruhig verhielt, war Ryuichi. Anders als sonst hatte er nicht seine kindliche Maske aufgesetzt sondern blickte ernst und nachdenklich drein.

Vor dem Schlafengehen machten es sich alle noch einmal im Salon bei einer Tasse Tee gemütlich.

„Mir fällt gerade auf, dass morgen Halloween ist!", sagte Tohma mit bedeutungsschwangerer Stimme.

Shuichi war vollauf begeistert. „Jaaaaa, lasst uns eine Party feiern!"

„Ich hab mein Häschenkostüm dabei", murmelte Ryuichi nachdenklich.

„Aber nein, Sakuma-san", berichtigte Fujisaki. „Sie müssen sich als etwas verkleiden, wovor man sich fürchtet."

Der infantile Sänger überlegte kurz und erwiderte sogleich erfreut: „Gut, dann verkleide ich mich als Nori-chan wenn sie wütend ist."

K setzte ein böses Grinsen auf. „Der war gut. Und so zutreffend."

Noriko ihrerseits griff in das Dekokörbchen, das auf dem kleinen runden Tisch stand und zog K den größten der darin befindlichen Zierkürbisse über den Kopf.

„Das war noch zutreffender, Mr Winchester!"

K packte Noriko unsanft am Handgelenk und funkelte sie an. „Nenn mich nie wieder so."

Erschreckt wich die Frau mit den violett gefärbten Haaren zurück. „Tut mir Leid", murmelte sie, bevor sie sich wieder setzte. Doch das mulmige Gefühl in ihrer Magengrube blieb. „Man kanns auch übertreiben", setzte sie noch dazu.

„Wisst ihr, warum Halloween eigentlich Halloween heißt?", warf Hiro in den Raum, um die Situation zu entschärfen.

„Das weiß doch jeder", knurrte Yuki, sich eine Zigaretten anzündend. Shuichi, der ang an den Autor gekuschelt auf dem Canapé saß sagte: „Also ich weiß es nicht…"

„Shindou-kun…", entfuhr es Fujisaki mit einem Anflug von Unglauben.

Das dritte Mitglied von bad Luck räusperte sich. „Nun gut, Shuichi, dann werde ich es für meinen besten Freund noch einmal erklären. Halloween ist die Nacht vor Allerheiligen, zu altenglisch All Hallows Eve. Der Ursprung liegt in dem keltischen Glauben, dass an Samhain, die Grenzen zwischen den Welten sehr dünn seien und es den Toten gewährt sei, wieder in die hiesige Welt zurück zu kehren. Um die Geister zu erschrecken, verkleidete man sich mit Tierfellen und –köpfen. Auch wurden kleine Opfergaben ausgelegt, die sogenannten treats, die auch heutzutage noch bei den verkleideten Kindern sehr beliebt sind. Und um die Geister glauben zu machen, in dem Haus lebe schon ein Geist, hat man Kürbisse und Rüben ausgehöhlt und beleuchtet ins Fenster gestellt… Tja, das ist so weit alles."

Shuichi sah Hiro mit leuchtenden Augen an. „Was du alles weißt. Und was ist, wenn man sich nicht verkleidet oder Opfergaben ausgelegt hat und nicht mal einen Kürbis beleuchtet hat?"

Hiro verzog sein Gesicht zu einem diabolischen Grinsen. „Dann kommt in der Nacht ein kleiner Dämon zu dir, der sich auf deine Brust setzt und dir im Schlaf den Atem raubt, bis du tot bist."

„Whaaa Hiro, das ist gemein! Jetzt hab ich Angst!" Shuichi war den Tränen nah.

Yuki schlang einen Arm um seinen Geliebten, auch wenn diese Geste wenig zärtlich, sondern eher wie ein Würgegriff aussah. „Baka. Es gibt keine Geister. Ich beschütze dich."

Wenn ihr wüsstet, dachte K für sich. Entnervt stand er auf und verließ den Salon, er wollte sich diese Diskussion über Geister nicht mehr anhören, seine leibhaftigen Begegnungen hatten ihm gereicht.

Ryuichi folgte ihm auf dem Fuße und hielt K auf, bevor er in seinem Zimmer verschwinden konnte.

„K…", druckste er herum.

„Was ist los, Ryuichi?"

„Wer war der blonde Mann, der heute den ganzen Abend neben dir stand?"

„Gute Nacht, schlaf gut", sagte Sakano und löschte das Licht.

An Schlaf war gar nicht mehr zu denken. Unruhig wälzte er sich schlaflos im Bett hin und her wachgehalten von unheimlichen Geräuschen und sich bewegenden Schatten. Ryuichis Frage hatte ihm heute den Rest gegeben. War noch nicht genug passiert? Dieser Mann, von dem Ryuichi gesprochen hatte… war das wirklich William? Und warum zur Hölle konnte Ryuichi ihn sehen? Er würde morgen noch einmal ausführlich mit ihm reden müssen. Lange grübelnd lag er noch wach, nicht wissend, dass es Sakano neben sich genauso ging.

Doch der Schlaf trieb ihn unbarmherzig in einen erschöpften Dämmerzustand. Plötzlich spürte er, wie sich wie ein eisernes Band um seine Brust schnürte. War dies der Dämon, von dem Hiro erzählt hatte? Mühevoll öffnete er die Augen und sah ihn auf sich sitzen, den kleinen schwarzen Dämon mit spitzen Zähnen in seinem faltigen Gesicht, der einem so lange den Atem raubt, bis man stirbt. Nach längerem Hinsehen veränderte sich das Gesicht des Dämons und wurde zu dem von Ernest Cummingdale.

K keuchte, wachte aus seinem Albtraum auf und spürte, dass er immer noch keine Luft bekam. Panik ergriff ihn.

Nein, es war kein Geist, keine übernatürliche Macht. Beruhigt stellte er fest, dass seine Luftnot durch Sakanos Hand ausgelöst wurde, die sich im Schlaf über sein Gesicht gelegt hatte. Sanft hob er sie hoch, küsste sie sacht und legte sie wieder von sich hinunter. Allerdings nicht ohne Sakano anschließend fest in die Arme zu nehmen. Im Schummerlicht ihres Zimmers schlief er friedlich. Sein ruhiger Atem streifte K's Wange. Er strich ihm zärtlich über sein schwarzes Haar, bevor ihn Sakanos gleichmäßige Atemzüge in einen entspannten Schlaf entließen.