Disclaimer – siehe Kapitel 1
Kapitel 8 - ein Blick in die Vergangenheit
Aus den Trümmern unserer Verzweiflung
bauen wir unseren Charakter
~ Ralph Waldo Emerson ~
Sie war nicht tot. Dies war das erste, das sie registrierte, als die Umklammerung des traumlosen Schlafes sich allmählich von ihrem Bewusstsein löste. Das nächste, was sie wahr nahm, war, dass immer noch Stille um sie herum herrschte. Irgendwo, tief in ihrem Inneren hatte sie gehofft, dass dies alles nur ein schlechter Traum war, und sie diesen wie Schnee auf den Schultern mit dem Erwachen abschütteln könnte – das einzige Problem war, dass sie in dieser Nacht nicht geträumt hatte. Es war kein Gift gewesen, dass man ihr verabreicht hatte, soviel war klar. Und somit war auch klar, dass sie gestern Abend nicht alleine gewesen war. Zumindest Albus hatte sie an seinen Händen erkannt, und die Frau war vermutlich niemand anderes als Mdme Pomfrey gewesen. Die Frage jedoch, wer die dritte Person gewesen war, welche sie aufgehoben und zum Bett getragen hatte, blieb unbeantwortet. Ihr Verstand weigerte sich, sich an mehr zu erinnern als die einzelnen Fragmente, die sich unmöglich zu einem ganzen Bild zusammenfügen liessen.
Ihr Kopf schmerzte wie auch ihre Hände. Als sie zaghaft versuchte die Finger zu beugen, hielt sie abrupt den Atem an, als ein schmerzhaftes Ziehen in ihren Händen entlang der Sehnen und Knochen fuhr. Augenblicklich gab sie den Versuch auf, und fuhr mit der gedanklichen Untersuchung ihres Körpers fort. Ihr rechtes Knie schmerzte, aber sie konnte sich nicht erinnern, irgendwo dagegen gestossen zu sein. Auch ihr Rücken fühlte sich verspannt an, und sie glaubte immer noch entfernt den Nachhall der steinernen Wand in ihrem Rücken zu spüren. Ihr Magen brannte und zog sich kurz zusammen, doch sie ignorierte die Leere darin. Ihr Verstand, stellte sie fest, schien überraschend klar zu sein, auch wenn ihre Kopfhaut unangenehm pochte und mit jedem Herzschlag eine Welle dumpfen Kopfschmerzes durch ihr Gehirn rauschte.
Hermione erstarrte kurz als sie glaubte, zusätzlich noch erblindet zu sein, bis sie sich daran erinnerte, dass sie die Augen immer noch geschlossen hielt. Sie war nicht mehr müde, aber im selben Moment war sie auch noch nicht bereit dazu, dem neuen Tag und der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Ihr Mund war trocken und sie schmeckte etwas Bitteres auf der Zunge. Ob es daher rührte, dass sie sich gestern beinahe übergeben, die Zähne nicht geputzt oder einen übelschmeckenden Zaubertrank eingenommen hatte, schien im Augenblick nebensächlich.
Ihre Ohren. Feine, zarte Gebilde – ausgeklügelte Werke der Natur; komplex, faszinierend und einzigartig. Und doch, auch wenn es nicht sichtbar war, so dienten sie nur noch der Vervollständigung des Gesamtbildes. Eine Zierde, nichts weiteres. Aufgebracht hob sie ihre einbandagierten Hände und schlug sich wieder und wieder auf die Ohren, bis ein sanfter aber bestimmter Griff um ihre Handgelenke sie stoppte.
Sie hatte geglaubt allein zu sein, doch die Umklammerung ihrer dünnen Gelenke widersprach dem. Zögernd öffnete sie die Augen, nicht sicher, wen sie glaubte – oder hoffte – sehen zu werden. Die Erleichterung musste ihr im Gesicht gestanden haben, als Albus leise vor sich hin lachte und sie anblinzelte.
Einen kurzen Moment später nahm sein Miene wieder einen ernsteren Ausdruck an, als er aufrichtig fragte: "Wie geht es dir, Hermione?"
Obwohl sie ihn nicht hören konnte, so las sie die Frage aus seinen besorgten Augen ab. Stumm schüttelte sie den Kopf und bemühte sich vergebens, die aufwallenden Tränen zu unterdrücken. Sie fühlte sich trotz der durchgeschlafenen Nacht ausgebrannt und matt. Ihre Verzweiflung hatte ein Loch in ihr Herz gefressen, und sie glaubte, innerlich verbluten zu müssen. Wieso konnte man sie nicht mit ihrem Elend alleine lassen? Warum liess man sie nicht einfach sterben? Es wäre alles um so vieles einfacher.
Doch Albus schien nicht die Absicht zu haben sie sich selbst zu überlassen, und nahm Hermiones neue Tafel zur Hand. /Es ist bald Zeit für das Frühstück. Willst du dich nicht anziehen und mit mir nach unten gehen?/
Hermione starrte auf die schwarze Fläche, und es dauerte einen Moment, bis sich die Buchstaben vor ihr in ihrem Kopf zu Worten zusammenfügten und schliesslich einen Sinn machten. Sie biss sich auf die Unterlippe und machte keine Anstalten sich zu regen. Sie wollte nicht – sie konnte nicht. Beim blossen Gedanken etwas zu essen drehte sich ihr beinahe der Magen um, und sie schluckte hektisch, um den aufsteigenden Geschmack in ihrem Mund loszuwerden.
/Du kannst dich nicht ewig hier verstecken, Hermione/, fuhr er fort.
Entschlossen blickte sie ihn an und nickte, während ihre Lippen ein klares *Doch!* formten. Albus lächelte sie siegessicher an, bevor er ihr mit einem ebenso deutlichen *Nein* widersprach.
Als sie sich immer noch nicht rührte, seufzte er laut und klatschte in die Hände, was nur Sekunden später eine Hauselfe erscheinen liess. Er ordnete diese an, auf dem runden Tisch im Wohnzimmer ein Frühstück für zwei herzurichten. Dann stand er auf, erklärte Hermione knapp, dass er im anderen Zimmer auf sie warten würde, und wenn sie nicht innert 10 Minuten nachkäme, er sie eigenhändig aus dem Bett zerren und zwangsfüttern würde.
Obwohl seine Augen funkelten, so zweifelte sie keinen Moment, dass er es nicht ernst meinte. Kaum hatte er sich umgedreht, huschte sie auch schon aus dem Bett ins Badezimmer um sich einigermassen passabel herzurichten.
Den Blick in den Spiegel hätte sie sich ersparen können, denn die Person darin erkannte sie beinahe nicht und sie fuhr erschrocken zurück. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, welche blutunterlaufen, verklebt und verquollen waren. Ihre Wangen waren rot gefleckt und standen in starkem Kontrast mit dem Rest ihres Gesichtes, welches erschreckend bleich war. Ihre Haare, immer noch buschig wie eh und je, waren fettig, verfilzt und standen ihr noch wirrer als sonst vom Kopf ab. Trotz des schrecklichen Anblickes, den sie bot, beugte sie sich wieder näher zum Spiegel hin und starrte hinein, während sie beobachtete, wie sich Tränen in den Augen ihres Spiegelbildes bildeten und diese schliesslich überliefen. Es war, als ob sie neben sich stünde und einer fremden Person beim Weinen zuschaute.
Die zehn Minuten würden zu wenig sein, wenn sie noch länger vor dem Spiegel verharrte, und sie stellte sich Albus vor, wie er in ihrem Wohnzimmer auf und ab ging, wobei er zwischendurch stehen blieb um irgend etwas zu betrachten. Ihre Hände schmerzten nach wie vor, also entschied sie sich, den Verband nicht abzunehmen und sich statt dessen nur in die Dusche zu stellen, ohne sich wirklich zu waschen. Rasch entledigte sie sich ihrer Unterwäsche und huschte unter den Wasserstrahl, den sie so heiss einstellte, dass es sie gerade nicht verbrühte. Die Hitze stach ihr in die Haut und liess sie zusammenzucken, doch sie blieb beharrlich stehen.
Erst als ihre Haut rot und wund war, gestattete sie sich, aus der Dusche zu steigen. Sie schnappte nach Luft, als die kühle Luft des Raumes ihre heisse Haut traf, doch es half ihr, etwas Klarheit in ihre wirren Gedanken zu bringen. Die Zeit schien stillgestanden zu sein, während sie im Krankenzimmer gelegen hatte, aber nun spürte sie, wie ihre Lebensuhr wieder zu ticken begonnen hatte. Das Leben war wie die Strömung eines Flusses, und egal ob sie nun wollte oder nicht, trieb sie im Wasser umher und wurde mitgeschwemmt. Doch auch wenn sie in dieser Hinsicht keine grosse Wahl hatte, so konnte sie trotzdem entscheiden an welches Ufer es sie treiben sollte und mit wem sie schwimmen wollte.
Irritiert schüttelte sie den Kopf um diese Gedankenkette loszuwerden und sich weiter anzuziehen. Alles zu seiner Zeit, so lautete die Devise ihrer Mutter, und auch wenn dieser Spruch sie früher manchmal zur Weissglut getrieben hatte, so haftete ihm in diesem Moment etwas seltsam tröstendes an. Beinahe genauso beruhigend war der Duft nach heissem Kaffe und frischen Brötchen, der sich vom Wohnzimmer zu Hermione hinschlich. Ihr Magen rumorte, was sie daran erinnerte, dass sie schon seit längerem nichts mehr gegessen hatte – doch gleichzeitig wurde ihr leicht flau, als sie sich vorstellte, einen Bissen Essen in ihren Mund zu schieben und darauf herum zu kauen.
Noch länger konnte sie den Gang ins Wohnzimmer jedoch nicht aufschieben, und sie ergab sich dem Zwang von aussen und begab sich zum kleinen Tisch, welcher unter seiner Last jeden Augenblick zusammen zu brechen schien. Albus lächelte ihr zu und wies auf den Sessel ihm gegenüber, während er gleichzeitig in ein Croissant biss.
Es fiel Hermione sichtlich schwer etwas zu essen, und sie musste sich geradezu zum Kauen und Schlucken zwingen. Hoffnungslosigkeit schnürte ihr die Kehle zu, und immer wieder musste sie innehalten um die Tränen zurück zu blinzeln. Der Geruch der Salbe, welche aus den Bandagen ihrer Hände stammte und sie in ihrer Nase kitzelte, jedes Mal wenn sie sich einen Bissen in den Mund schieben wollte, war ebenfalls wenig Appetit anregend.
Weder Albus noch sie bemühten sich um irgendein Gespräch während des Frühstücks, und Hermione war dankbar für die Stille – als ihr dieser Gedanke kam, hätte sie sich beinahe an ihrem Kaffee verschluckt und der alte Zauberer schaute sie fragend an. Doch sie schüttelte nur den Kopf und blickte wieder auf die Zimmerecke hinter Albus, die sie schon die ganze Zeit über angestarrt hatte.
Nachdem sie beide fertig gegessen hatten – Hermione zwar nicht viel, aber Albus schien trotzdem zufrieden damit zu sein – lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände. Obwohl sie seinen intensiven Blick auf sich spüren konnte, schaute sie nicht zu ihm. Es würde ein Blick auf die Wirklichkeit sein, und sie zweifelte, ob sie es im Moment ertragen könnte. Auch als er sich schliesslich bewegte, hielt sie angestrengt ihre Augen gesenkt und bemühte sich um ein gleichgültiges Gesicht.
Am Ende nahm er die Tafel zur Hand, schrieb etwas darauf und stand auf. Er ging zu ihr hinüber und fasste sie am Kinn, so dass sie gezwungen wurde, ihn anzublicken. Er konnte es in ihren Augen sehen, und mitfühlend blinzelte er ihr zu, bevor er ihr die Schiefertafel in die Hand drückte und den Raum verliess. /Ich nehme nicht an, dass du dein Mittagessen in der grossen Halle einnehmen willst, also werde ich eine Hauselfe hier vorbeischicken. Wie ich vernommen habe, erwartet Professor Snape dich heute Nachmittag, und er kann dich anschliessend zum Abendessen begleiten, auch um dir den separaten Zugang zur Halle zu zeigen. Ich würde mich freuen, wenn du einen Blick in die Bücher werfen würdest, welche ich dir mitgebracht habe. Bis heute Abend./
Hermione senkte die Tafel und stellte fest, dass in der kurzen Zeit, in der sie in Albus' Mitteilung vertieft gewesen war, die Hauselfen den Tisch bereits leer geräumt hatten. Die einzigen Gegenstände auf dem Tisch waren drei Bücher, von welchen Albus anscheinend gesprochen hatte. Neugierig rutschte sie in ihrem Sessel nach vorne und nahm sie zur Hand.
Das oberste war ein dünnes, in tiefrotes Leder gebundenes Buch, und der Titel war mit goldenen Lettern eingeprägt: 'HOGWARTS'. Hermione hatte geglaubt, jedes einzelne Buch zu kennen, welches je über Hogwarts geschrieben wurde, doch dieses war ihr gänzlich unbekannt. Vielleicht war es gerade erst herausgegeben worden? Denn es roch immer noch schwach nach Leder und es schien noch nicht durch viele Hände gegangen zu sein. Zaghaft schlug sie den Buchdeckel auf und strich die erste Seite glatt.
Sie presste kurz ihre Lippen zusammen als sie erkannte, was es war; das Arbeitsreglement für Angestellte der Schule. Im Moment war sie nicht in der Stimmung, sich darin zu vertiefen, und kurzerhand klappte sie es wieder zu und legte es auf den Tisch vor sich.
Das zweite Buch schien etwas vielversprechender zu sein, denn es war so dick wie ihr Handgelenk, an den Ecken leicht gebogen und in grünes Leder gebunden. Der Titel war nicht mehr zu erkennen, also schlug sie auch bei diesem Buch die erste Seite auf. Ihre Lippen schmälerten sich zu einem kaum erkennbaren Strich, und auch dieses Werk legte sie zur Seite: 'Umgang mit und Behandlung von Behinderten – Rechte und Pflichten – Gesetze und Richtlinien ... revidierte Version, 15. September 1867'
Beinahe hätte sie das dritte Buch ungeöffnet ebenfalls auf den Tisch zurückgelegt, doch irgendetwas hinderte sie daran. Es war in unscheinbares, braunes Leder gefasst, und von den Jahren und unzähligen Händen abgegriffen und fleckig. Der Einband fühlte sich glatt und weich an, als Hermione sachte mit den Fingern darüber fuhr, und sie fragte sich, von welchem Tier das Leder stammen könnte. Das Buch trug weder auf der Frontseite noch auf dem Rücken einen Titel, und nach kurzem zögern öffnete sie es.
Eine Notiz fiel hinaus, und Hermione bückte sich danach um sie vom Boden aufzuheben, bevor sie einen Blick auf die erste Seite des Buches warf. Sie erkannte Albus Handschrift augenblicklich, auch wenn er den Zettel nicht unterzeichnet hatte. /Dies hier ist ein altes Tagebuch, von dem ich überzeugt bin, dass es dir helfen wird, unsere Welt bis zu einem gewissen Grade zu verstehen und zu erkennen, wieso die Dinge hier so und nicht anders gehandhabt werden. Wenn du Fragen dazu hast, dann melde dich bitte, und ich werde versuchen, diese so gut wie möglich zu beantworten./
Hermiones Augenbraue hob sich überrascht. Wie konnte ein Tagebuch ihr dabei helfen, das Verhalten der Menschen gegenüber ihr zu verstehen? Nun, sie würde es nicht wissen, wenn sie es nicht las, also setzte sie sich bequem hin und begann zu lesen. Der erste Eintrag war über 800 Jahre alt, stellte sie mit Erstaunen fest, und dennoch war die Tinte kaum verblasst. Auf der inneren Seite des Buchdeckels standen verschiedene Namen untereinander geschrieben, jeder in einer anderen Schrift und Tinte. Beim letzten Namen stutzte sie und runzelte die Stirn, doch sie würde nicht vorgreifen und entschied sich, das Buch von Anfang an zu lesen.
Sie war so vertieft in ihre Lektüre, dass sie gar nicht bemerkte, wie um zwölf Uhr eine Hauselfe auftauchte und das Mittagessen servierte. Automatisch griff sie nach der Gabel und schob sich Bissen um Bissen in den Mund, ohne recht zu schmecken, was genau sie ass. Ihre Augen waren auf die akkurate Handschrift Duncan Malachors fixiert und saugten seine Worte wie ein Schwamm auf.
Er hatte das Buch in Alt-Englisch verfasst und es bereitete Hermione anfangs Mühe, gewisse Worte oder Sätze zu verstehen. Ohne Zauberstab und Stimme konnte sie keinen Übersetzungszauber wirken, doch sie war entschlossen genug, das Tagebuch auch ohne fremde Hilfe lesen zu können, und so war der Intervall, in dem sie die Seiten umblätterte, ausgesprochen lange. Mit der Zeit jedoch viel es ihr immer leichter, seine eigentümlich Art des Schreibens zu verstehen, und sie wurde vollständig in den Bann der Geschehnisse von damals gezogen.
Schon bald verstand sie, wieso Albus ihr genau dieses Buch zu lesen gegeben hatte, denn es begann mit dem Tag, an dem Duncan das erste Mal einen Blick auf Maude geworfen hatte. Sie hatten sich beide Hals über Kopf ineinander verliebt, und nur Monate später hatten sie sich – ohne die heutigen Vorbehalte gegenüber Behinderten – mit dem Segen der Familie verlobt.
Voller Faszination las sie Duncans Beschreibungen, wie seine Frau ihr Leben mit ihrer Behinderung gemeistert hatte. Sie mochte zwar physisch erblindet gewesen sein, doch konnte sie mehr sehen wie manch einer mit gesunden Augen. Als Ausgleich für ihren fehlendes Augenlicht waren ihre übrigen Sinne verfeinert und sensibel: Am Klang der Stimme konnte sie die Stimmung des Sprechers augenblicklich erkennen, eine Verschiebung des Luftzuges genügte ihr, um eine Veränderung im Raum anzukündigen und alleine der Geruch eines Menschen in ihrer Nähe liess sie ihn mühelos identifizieren.
Für einen Moment senkte Hermione das Tagebuch und starrte an die Wand ihr gegenüber, vollkommen in ihren Gedanken vertieft. War es dies, was sie am Abend zuvor gespürt hatte, als sie an der Wand bei den Fenstern gesessen hatte? Reagierten ihre übrigen Sinne bereits jetzt auf ihr geraubtes Gehör und passten sich den Umständen an? Ihr Magen verknotete sich wieder, doch Hermione schluckte die aufsteigenden Emotionen hinunter und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre.
Maude war eine resolute, ehrgeizige Frau gewesen und Duncan hatte teilweise Mühe gehabt, mit ihr mitzuhalten. Doch gleichzeitig war sie eine ausgeglichene, hilfsbereite Persönlichkeit, und als ihre gemeinsame Tochter zur Welt gekommen war, wandelte Maude sich erneut und wurde zu einer liebenden und fürsorglichen Mutter, wie man sich nur vorstellen konnte.
Sie hätte die Frau gerne kennen gelernt, jedoch als sie zu der Stelle im Tagebuch gelangte, wo das Unglück mit ihrer Tochter beschrieben wurde, schnappte Hermione erschrocken nach Luft und hielt den Atem an. Die Hoffnungslosigkeit über ihre eigene Situation wandelte sich teilweise zu Mitleid für diese unbekannte Familie, welche einen Schicksalsschlag erlitten hatte, den Hermione nicht einmal ihren Feinden wünschen würde.
In Duncans Schrift konnte sie seine Verzweiflung über das Ereignis erkennen, denn sie wurde unregelmässig und manchmal waren die Sätze nichts anderes als eine wildwütige Aneinanderreihung von Worten. So war sie auch weniger erstaunt darüber, als der letzte Eintrag von ihm im Tagebuch auch sein Abschiedsbrief war, und die Tränen, die sie nun weinte, galten nicht nur ihrer Situation sondern auch dem Leiden, dass Duncan und seine Familie ertragen musste – aber es galt auch denen, die sich in der gleichen Lage wie sie befanden, damals wie auch heute.
Die nächsten Seiten waren leer, und Hermione war kurz davor, das Tagebuch zu schliessen, bevor ihr einfiel, dass Duncan Malachors Name nicht als einziger Name im Innern des Buchdeckels aufgeführt war. Neugierig blätterte sie weiter, bis sie auf einen Eintrag in einer anderen Handschrift stiess. Es war Ian Malachor – der Bruder von Duncan – der von der Zeit nach dem Selbstmord berichtete; wie es seiner Familie ging, aber auch wie die Welt sich veränderte. Nur wenige Seiten waren von ihm über eine grosse Zeitspanne beschrieben worden, und wieder folgten einige leere Seiten.
Danach hatte ein gewisser Malcolm Holmes seine Spuren im Tagebuch hinterlassen, ihm folgte ein Ian McDuff und dann ein Patrick Sarles. Hermione brauchte eine Weile bis sie endlich verstand, was diese Männer verband – denn es war nie eine Frau, die in das Buch geschrieben hatte - doch die Eintragungen von Ralph O'Neill brachten Klarheit:
... heute morgen ist das Schönste Ereignis eingetroffen, dass sich ein Ehemann nur wünschen könnte; meine Frau hat uns eine Tochter geboren. Sie ist das süsseste Ding, das ich je gesehen habe, mit Haut so weich wie das Federkleid einer Nachtigall und Haaren so fein wie Elfenstaub. Sie hat geschrieen wie am Spiess, das Gesicht fest zusammengekniffen, und dennoch habe ich schon jetzt die sanften Gesichtszüge ihrer Mutter darin erkennen können. Für einen kurzen Moment sind wir die glücklichsten Eltern auf Erden gewesen – bis die Hebamme uns mit drei Worten aus allen Wolken gerissen hat. 'Sie ist blind', hat sie gesagt, und hat als Beweis die Augenlider der Kleinen hochgezogen, damit wir es selbst haben sehen können... es scheint mir beinahe wie ein Fluch zu sein, der auf der weiblichen Linie unserer Familie lastet, der für Generationen verschwindet, nur um plötzlich wieder aufzutauchen. Ich frage mich, ob Maude wirklich die erste gewesen war, oder ob wir schon länger so bestraft werden... Die Hebamme hat uns nahegelegt, die Kleine zur Adoption frei zu geben, doch wie kann sie von uns verlangen, unser eigen Fleisch und Blut zu verleugnen und herzlos weggeben? Sie hat mich misstrauisch angeschaut als ich ihr das gesagt habe, hat sich umgedreht und ist gegangen – sie hat sich nicht einmal darum bemüht, die Nabelschnur zu durchtrennen. 'Nicht mehr lange', hat sie mir aber noch zugeflüstert, 'und solche Monster werden vom Antlitz der Welt verschwunden sein.' Und ich habe ihr hinterher gerufen, dass solange unsere Familie existiert, wir auch für die Rechte von Menschen wie unserer Tochter kämpfen würden. Ich weiss nicht, ob sie es noch gehört hat.
Hermione war schockiert über diese Ereignisse, doch noch schien der Vater des blinden Kindes das Tagebuch noch nicht weitergegeben zu haben.
Heute sind sie gekommen und haben Elisandra mitgenommen. Einfach so, ohne Vorwarnung. Ich habe versucht mich ihnen in den Weg zu stellen – und da hat einer von ihnen seinen Zauberstab gezückt und mir gedroht, dass ihm jedes Mittel gestattet sei um an mir vorbeizugelangen. Meine Frau hat als erste erkannt, dass wir auf verlorenem Posten stehen, und so haben wir zugesehen, wie diese Männer sie weggetragen haben. Derjenige, welcher mich bedroht hat, ist mit einem schmierigen Lächeln auf den Lippen zu mir getreten und hat mir eine Schriftrolle überreicht. Es ist ein neues Edikt gewesen, erst seit zwei Tagen operativ, und dennoch wird es anscheinend mit grösstem Eifer durchgesetzt... Sie ist weg, und ich weiss, dass wir sie nie wieder sehen werden.
Hermione spürte den Schmerz in ihrer Brust in den Worten dieses Mannes widerhallen. Wenn all diese Männer versucht hatten, gegen die unrechtmässige Behandlung Behinderter anzukämpfen und es nicht geschafft hatten – wieso sollte denn ausgerechnet sie etwas erreichen können?
'Windmühlen', dachte sie abschätzig, 'es ist wohl eher wie Treibsand!'
Sosehr sie sich fürchtete weiterzulesen und dabei mehr über die Schicksale anderer Familien in anderen Zeiten erfuhr, so schaffte sie es dennoch nicht, das Buch aus der Hand zu legen. Schliesslich gelang sie zu den Eintragungen, an denen sie am meisten interessiert war. Es war die Handschrift eines Kindes, doch die etwas krakeligen Buchstaben sprachen schon damals von der geschwungenen Handschrift des Zauberers, den sie heute kannte.
...Ich kene die Geschichte unserer Familie – meine Mum hat mir alles erzält – und auch ich wil meinen Beitrag dazu leisten, das es nicht in vergesenheit geräht: Wir versteken sie in meinem alten Zimmer und Vater hat mir gesagt, das ich es nimandem erzälen darf. Wenn sie erst einmal alt genug ist, sagen sie, könen sie sie uns nicht mehr wegnemen...
...Es tut mir so leid ich habe es nicht gewolt und ich habe es meiner Mum gesagt aber sie weint nur und hört mir nicht zu und Vater starrt mich nur mit traurigen Augen an und sagt nichts. David war es, er hat mich profozirt und irgendiwe ist es mir so rausgesrutscht und ich habe aber nicht gedacht das er mir glaubt aber er hat es getan. Sie haben sie geholt aus meinem alten Zimmer und, dabei ist sie erst vier monate alt. Zu jung, sagt mein Vater. zu jung um sie zu beschüzen. meine Mum sagt es ist nicht meine schuld aber ich weiss genau das es meine Schuld ist. und wieso tut es so weh wen ich daran denke?...
Hermione weinte nun bitterlich vor sich hin. Plötzlich schien alles einen Sinn zu ergeben. War dies der Grund, weshalb Albus so vehement darum gekämpft hatte sie hier zu behalten? Um vergangenes Unrecht wieder gut zu machen? Weil wenigstens sie alt genug war, um nicht spurlos zum Verschwinden gebracht werden zu können? Gab er sich etwa immer noch die Schuld daran, was vor so langer Zeit mit seiner Schwester geschehen war?
Mit tränengetrübten Augen blickte sie vom Buch auf. Sie hatte nicht bemerkt, wie viel Zeit bereits vergangen war, doch die Sonne strahlte nun golden durch das Fenster auf ihre beinahe leeren Bücherregale und auf eine kleine Pendeluhr, die vergessen auf einem der Tablare stand.
Der Schreck durchfuhr sie wie ein Blitz und liess sie ruckartig aufstehen, das Tagebuch polterte vergessen auf den Boden. Es war bereits halb fünf – sie hätte in diesem Moment bei Snape im Büro sein sollen. Hastig zog sie ihre offene Robe zusammen und stand bereits im Durchgang zum Korridor, als sie nochmals umkehrte, hastig ihre Schiefertafel an sich nahm und ihren Zimmerschlüssel einsteckte, bevor sie davon stürmte und durch die Gänge in Richtung Kerker rannte.
Ihr Zimmer befand sich zwar nicht in unmittelbarer Nähe zu den Kellergewölben, aber auch nicht allzu weit davon entfernt. Der Nachmittagsunterricht schien soeben beendet worden zu sein, denn die Korridore waren überfüllt mit Schülern aller Altersstufen. Hermione war so in Eile, dass sie kaum bemerkte, wie sich die Menge vor ihr teilte wie das Meer vor Moses.
Als sie schliesslich im Kerker ankam, wäre sie beinahe mit ihren früheren Klassenkameraden zusammengestossen, welche gerade aus dem Zaubertränke-Zimmer strömten. Unglauben mischte sich mit Überraschung in deren Mienen, doch sie hatte keine Zeit für lange Erklärungen. Seltsamerweise konnte sie weder Ron noch Harry entdecken, doch plötzlich trat Neville aus der Menge und legte ihr die Hand auf die Schulter. Seine Lippen formten für sie unverständliche Worte, während Mitleid und Verständnis standen in seinem Gesicht geschrieben. Hastig schüttelte sie den Kopf und sagte *später, Neville*, bevor sie weitereilte. Sie wusste nicht, ob er sie verstanden hatte, aber dafür hatte sie keine Zeit.
Das nächste, an was sie sich erinnern konnte, war, dass sie der Länge nach auf dem Boden lag und beinahe mit ihrem Kopf gegen die Wand geprallt wäre. Als sie sich auf die Seite wälzte um ihre schmerzenden Hände unter sich hervor zu ziehen, blickte sie in das höhnisch lachende Gesicht von Draco Malfoy, umringt von seinen Slytherin-Freunden, welche augenblicklich in sein Lachen einstimmten. *Ups*, sagten seine Lippen und mit gespielt übertriebener Geste hielt er sich die Hand vor den Mund während seine Augen sich weiteten, als ob er erschrocken über ihren Sturz wäre.
Plötzlich aber veränderte sich dessen Miene zu echter Überraschung, und überstürzt wandte sich die Gruppe ab und eilte davon. Als Hermione hinter sich blickte um zu schauen, was den unerwarteten Rückzug der Slytherin-Hooligans ausgelöst hatte, blickte sie in ein grimmiges, blasses Gesicht in dem ein Augenpaar wie zwei schwarze Diamanten funkelte.
Snape hielt ein Stück Pergament hoch, auf dem mit Grossbuchstaben geschrieben stand 'SIE SIND SPÄT, MISS GRANGER!', bevor er es wieder zusammenrollte, einsteckte, und ihr die Hand reichte um ihr aufzuhelfen.
Hermione streckte ebenfalls ihre Hand aus, zuckte aber im letzten Moment zurück und stemmte sich dann aus eigener Kraft und unter stummen Geächze hoch. Snape blickte sie noch einen Augenblick länger an, und sie war sich nicht sicher, ob es Enttäuschung gewesen war, die für den Bruchteil einer Sekunde in seinen Augen aufgeblitzt war, bevor sie wieder unlesbar wurden. Mit einer knappen Bewegung seines Kopfes forderte Snape sie auf ihm zu folgen, und ohne sich umzublicken ob sie es auch tat, schritt er zu seinem Büro.
TBC...
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Im Moment lese ich gerade 'Nineteen Eighty-Four' von George Orwell – vielleicht ist dies der Grund, wieso plötzlich die Idee aufgetaucht ist, dass das Ministerium Neugeborene und Kleinkinder bis zu einem gewissen Alter einfach so verschwinden lassen kann. Auf jeden Fall habe ich mich wieder einmal zu ausführlichen Erläuterungen nicht relevanter Details hinreissen lassen – ich hoffe aber, es ist trotzdem nicht zu langatmig/langweilig geworden. Wenn ja, dann tut's mir leid... aber ändern werde ich es nicht mehr ;-))
