Kapitel 4:
Mea Culpa
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Severus' Gedanken waren so weit fort, wie schon lange nicht mehr, als er mit einem Stapel Bücher unter dem Arm die Kerkertreppe hinaufstieg. Er bemerkte nicht einmal das gleißend helle Sonnenlicht, das ihn blendete, obwohl er die Augen ganz automatisch schloß.
„Ich bin ein einziges Mal in meinem Leben einem Menschen begegnet, der mich sofort berührt und mit sich fortgerissen hat. Es hat mir nichts gebracht, außer Leid und Qualen. – Ich habe mir selbst geschworen, daß das nie wieder passieren wird und ich werde es nicht zulassen, daß es nun doch passiert. Haben Sie mich verstanden, Miss Granger?"
Severus fluchte. So eine Dummheit! Warum dachte er einfach nicht nach, wenn er mit Hermine sprach? Eine einfache Abfuhr hätte es auch getan, aber er mußte ihr in seiner Unbesonnenheit praktisch auf die Nase binden, was der wirkliche Grund für seinen inneren Aufruhr war. Jetzt war es doch nur noch eine Frage der Zeit, bis Hermine alles herausfand, vor allem, weil sie von den Fotos wußte.
Er preßte wütend die Lippen zusammen. Wenn er nicht noch immer auf so kindliche Art und Weise an den Geistern seiner Vergangenheit hängen würde, wäre es nie so weit gekommen. Gerade er, der doch dafür bekannt war, einfach alles von sich wegschieben zu können, was auch nur im Entferntesten etwas mit Emotionen zu tun hatte! Warum war gerade er nicht in der Lage, dieses eine Mal wirklich so zu sein?!
Severus spürte einen unangenehmen Stich in der Herzgegend, der ihn unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück brachte. - Weil er den Geist liebte, ohne ihn nicht leben konnte. Wenn er die Erinnerung an Lily losließ, sie aus seinem Leben für immer verbannte... dann war er wirklich tot, für immer verloren. Dann war er nichts.
Und Severus wußte nur zu gut, wie erbärmlich diese Erkenntnis war. Wie falsch. Und wie wenig Lily das gewollt hatte. Er konnte sie praktisch vor sich sehen, die grünen Augen von Trauer erfüllt. Er konnte hören, wie sie zu ihm sagte, daß er sich das nicht antun sollte, daß er weitermachen sollte. Aber wie konnte er weitermachen? Wie konnte er leben, wenn er in seinem Leben nichts sah, was wirklich lebenswert war?
Ein bitteres Lächeln hob seine Mundwinkel leicht nach oben.
Er bog um die Ecke in den nächsten Korridor ab, prallte jedoch schwungvoll gegen ein Hindernis, das er übersehen hatte und fand sich im nächsten Moment auf dem Fußboden wieder.
„Verflucht noch einmal!" rief er aus und blickte in die Richtung, in der das Hindernis stehen mußte – und erstarrte. Nur einen knappen Meter vor ihm saß Harry auf dem Boden und hatte das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Nur mit Mühe schaffte Severus es, seine eisige Maske wieder in Position zu bringen, bevor Harry ihn ansah.
„Es tut mir leid, ich hab nicht..." er hielt inne, als er sah, wen er da umgerannt hatte und sofort legte sich auch über die Züge des jüngeren Mannes Abweisung und so etwas wie kindlicher Trotz.
„...aufgepaßt!" beendete Snape den Satz für ihn, seine Stimme kalt und beherrscht, kaum lauter als ein Flüstern und doch schneidend und klar. „Wie immer, Potter." Elegant wie eine große schwarze Raubkatze kam Severus wieder auf die Beine und blickte mit einem spöttischen Grinsen auf den Jungen herab, der ihn mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit anstarrte.
„Es ist schließlich nicht das erste Mal, machen Sie sich also nicht die Umstände, sich bei mir zu entschuldigen. Ich bin es gewohnt." Wut wallte in Harry auf und wenn er sich nicht sofort wieder ins Gedächtnis gerufen hätte, daß Snape als ehemaliger Todesser – noch dazu einer der besten und hochrangigsten von ihnen – seine Kräfte sicherlich bei weitem übertraf, wäre er in diesem Moment auf den verhaßten Mann losgegangen.
Mit einem leisen Schnauben stand auch Harry wieder auf und fixierte sein Gegenüber, in der Hoffnung, daß er in der Lage war, seinen Blick hart und seine Stimme kalt und fest zu halten.
„Sie haben ebenso wenig aufgepaßt wie ich, aber eine Entschuldigung von Ihnen wäre wohl zu viel verlangt an Höflichkeit!" Snape lächelte Harry schief an und legte seine Hände auf seinem Rücken ineinander. Seine typische Lehrerhaltung, streng und drohend.
„Immer noch der alte Kindskopf. Ich bin schon gespannt auf den Tag, an dem Sie endlich die Welt der Erwachsenen entdecken, Potter." Harry ballte die Hände zu Fäusten. Nur mit Mühe konnte er sein Zittern verbergen. Nur ein paar einfache Worte und Snape hatte ihn so weit, daß er eine Dummheit begehen wollte. Ein oder zwei Sätze und er war am Boden, genau da, wo dieser alte verbitterte Kerl ihn haben wollte.
Doch er konnte nichts dagegen tun. So oft er sich auch einredete, daß nichts, was Snape zu ihm sagte, ihn in irgendeiner Weise treffen konnte, es funktionierte nicht. Snapes Worte brannten sich stets wie Feuer in seine Haut und machten es ihm schlichtweg unmöglich, ruhig und gesammelt zu bleiben.
„Ich bin nie ein Kind gewesen, Snape, auch wenn Leute wie Sie so etwas nicht sehen und es lieben, Kinder mit ihren seelischen Grausamkeiten zu quälen. – Ich habe in meinem Leben zu viel gesehen und zu viel erlebt, um noch immer ein Kind zu sein!!" Snapes Augen glitzerten merkwürdig, als er den jungen Mann, dessen Wut nun unübersehbar aus seinem Gesicht und von seinem ganzen Körper abzulesen war, ansah. Kein Lächeln, kein Hohn und kein Spott, keine der bekannten Emotionen stand in diesem Moment auf dem blassen Gesicht geschrieben, das schon mehr als ein paar Falten bekommen hatte in den vergangenen Jahren. Das einzige, was Harry erkannte, war tiefer, düsterer Ernst.
„Nichts weißt du, Kind." Antwortete Snape nach einer scheinbaren Ewigkeit, seine Stimme gleichzeitig schneidend kalt, aber auch weich und dick wie Samt. „Die wirklich schlimmen Zeiten stehen dir noch bevor und du hast nicht die geringste Ahnung." Harry öffnete den Mund, als wolle er etwas entgegnen, doch die Worte kamen einfach nicht heraus, gerade so als hätten sie sich in seinem Kopf verbarrikadiert. So berechenbar Snape manchmal für ihn war, genauso sehr überraschte er Harry auch immer wieder, genau wie in diesem Moment.
Snape erkannte sofort, daß er wieder einmal erst geredet hatte, bevor er überhaupt ans Denken kam. Das entwickelte sich langsam zu einer echten Plage! Ohne es seinem Gegenüber zu zeigen, verfluchte er sich zum wiederholten Male dafür, daß er sich plötzlich nur noch so schlecht unter Kontrolle hatte und viel zu oft preis gab, was er unter normalen Umständen nicht einmal einem Albus Dumbledore anvertraut hätte.
Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich ein wenig.
„Ich habe zu viel zu tun, um meine Zeit mit Plaudern zu verschwenden, Potter! Sie entschuldigen mich?" schnappte er und ließ den verdutzten Harry mitten auf dem Korridor stehen.
„Was meinen Sie damit, Snape?!" rief Harry dem älteren Zauberer hinterher, als er sich wieder ein wenig gefaßt hatte, doch Severus antwortete ihm nicht. Er war viel zu aufgewühlt und mußte aus der Nähe des Jungen verschwinden, bevor etwas in ihm losbrach, das er nicht aufhalten konnte.
Aber es war doch nun einmal so! Was wußte Harry schon? Er hatte seine Eltern verloren, doch er war noch so klein gewesen, daß er sie nicht gekannt hatte oder besser, sich nicht mehr erinnerte. Alles, was er von ihnen hatte, waren ein paar alte Fotos und Erzählungen von Leuten wie Hagrid und Dumbledore. Er wußte nicht wirklich, welche Mutter er in Lily verloren hatte und er würde auch nie erfahren und glauben, welch ein vertrauensseliger Dummkopf sein Vater gewesen war. Brillant, was die Zauberei anging, gerissen, wenn es darum ging, nachts durch das Schloß zu streichen und irgendwelche Dummheiten auszuhecken, aber nichtsdestotrotz ein vertrauensseliger Dummkopf, der es nicht geschafft hatte, seine Familie zu schützen.
Er war bei den Dursleys aufgewachsen, die zweifellos zu den widerwärtigsten Menschen gehörten, die Snape kannte – und er kannte wahrhaftig eine Menge von dieser Sorte. Aber was waren die Dursleys gegen Voldemort? Oder gegen den Kampf, den Harry unweigerlich früher oder später kämpfen mußte? Severus dachte an die alte Legende von dem Jungen, der das Böse von der Welt wischen würde, um ihr den Frieden wieder zu geben und lächelte bitter.
Diese Legende war Unsinn. Sicher, sie sprach von einem Kind aus einem alten Zauberergeschlecht und die Snapes waren weiß Gott keine Familie aus der jüngeren Generation, aber daß Harry überlebt hatte, war nichts weiter gewesen als Zufall. Wenn der Junge den Ernst der Lage nicht erkannte, dann würde der Junge, der überlebte bald in seinem Grab liegen, einen Meter und achtzig tief auf dem Friedhof hinter dem Verbotenen Wald. Severus preßte die Lippen zusammen, seine Mundwinkel zuckten nervös.
Das würde er sicherlich nicht zulassen. Und wenn er all seine Willenskraft und Energie aufbringen mußte, er würde Harry auf den richtigen Weg lenken. Er mochte es nicht wissen und niemals erfahren, aber in Severus' Leben hatte es all die Jahre, seit dem Tag, an dem er von Harrys Geburt erfahren hatte, eine goldene Regel gegeben, die alle seine Entscheidungen, all sein Handeln, seine Pflichten und Aufgaben klar definierten. Zuerst kam immer Harry, dann Severus. Und so würde es bleiben, bis zu dem Tag, an dem Harry sicher war und es für ihn an der Zeit war, die Welt und damit auch seinen Sohn zu verlassen.
Severus fuhr sich übers Gesicht. Nicht zum ersten Mal in der letzten Zeit wünschte er sich nichts mehr, als daß dieser Tag nicht mehr allzu fern war.
Als er die Bibliothek betrat, hob er kurz die Hand zum Gruß. Madam Pince blickte auf, hob dann ebenfalls leicht die Hand und wandte sich wieder ihrem Buch zu, in das sie vertieft gewesen war. Sie war das Schweigen Severus' gewöhnt. Als Schüler hatte er noch hin und wieder einige Worte mit ihr gewechselt und auch wenn er nie ein Sonnenschein unter den Schülern gewesen war, seine Liebe zu Büchern und Wissen hatten doch bewirkt, daß er für die alte Bibliothekarin einer der liebsten Schüler war. Sie wußte einfach, daß man ihm ein Buch anvertrauen konnte und er es als das behandelte, was es war. Ein wertvoller Schatz.
Doch nach seiner Rückkehr nach Hogwarts war der bis dato ruhige, düstere Severus noch düsterer und schweigsamer geworden und Madam Pince hatte es nur allzu bald aufgegeben, ihre Zeit mit Konversationsversuchen zu verschwenden.
Harry rannte im Kreis in Hermines Wohnzimmer herum, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und noch immer vor Wut schnaubend wie ein Büffel.
Hermine saß in ihrem großen Sessel vor dem Kamin, den Kopf auf ihre Hand gestützt und sah ihm mit einem amüsierten Lächeln dabei zu, wie er seine Runden zog.
Nach seinem Zusammentreffen mit Severus war er ohne Umweg zu ihr gekommen und hatte ihr alles erzählt. Hermine hätte gelogen, wenn sie behauptet hätte, daß sie nicht schon seit Wochen darauf gewartet hatte, daß es endlich zum ersten Zwischenfall zwischen den beiden kam. Aber anders als Harry war sie nicht empört über das, was Severus gesagt hatte. Selbst Harry mußte doch zugeben, daß es bis zu der Stelle, an der er seinen Spott hatte fallen lassen, alles Standard gewesen war, nichts was Harry nicht schon von früher kannte, nichts, was er nicht hatte erwarten müssen, wenn er nach Hogwarts zurückkehrte. Und die wenigen Worte, die aus der Reihe gefallen waren... Hermine schüttelte leicht den Kopf. Sie waren weder ein Angriff auf Harry gewesen, noch glaubte sie, daß Severus es herabwertend gemeint hatte.
Doch daß Harry das nicht sah oder sehen wollte, war ebenso wenig überraschend. Er haßte seinen ehemaligen Lehrer zu sehr, um im Bezug auf ihn noch in irgendeiner Weise einen klaren Blick zu haben.
„Reg dich wieder ab, Harry." Sagte sie schließlich nach einer halben Ewigkeit, als sie es doch leid war, ihm weiter beim im Kreis laufen zuzusehen. Harry blieb abrupt stehen und ihre Blicke trafen sich. Hermine erkannte nur zu deutlich, wie sehr Harry noch immer mit sich kämpfte, nicht auszuflippen, obwohl er ihr schon alles erzählt hatte und sich jetzt doch eigentlich besser fühlen sollte.
„Was heißt hier, ich soll mich abregen? Findest du das etwa okay?" Hermine hob leicht die Schultern.
„Ich sehe nicht, warum du dich darüber aufregst. Ich meine, wir kennen das doch nur so von ihm. Ich an deiner Stelle würde ruhiger an die Sache gehen. Laß seine Worte doch zur Abwechslung einfach mal an dir abgleiten, hm?" Hermine lächelte, doch er erwiderte es nicht, wie sie gehofft hatte. Harry blickte sie noch immer regungslos an und in seinen Augen lag nun etwas, was selbst Hermine dort noch nie gesehen hatte. Ihm brannte etwas auf der Seele, was ihm scheinbar nicht über die Lippen kommen wollte.
„Raus damit." Forderte sie ihn sanft auf, doch Harry schüttelte den Kopf.
„Ich will mich nicht auch noch mit dir streiten." Hermine hob überrascht die Augenbrauen. Das war nun doch eine interessante Wendung, denn sie sah nicht so ganz, worüber sie hier ernsthaft streiten konnten. Oder hatte sie eine wichtige Stelle des Gespräches vielleicht verpaßt?
„Harry, ich hab keine Lust, mit dir zu spielen. Jetzt sag schon, so schlimm wird es schon nicht sein." Harry nahm seinen Kreislauf wieder auf und Hermine verzog ein wenig genervt das Gesicht. Warum machten manche Männer es einem eigentlich extra schwer? Und warum wurde immer behauptet, daß es die Frauen waren, die nie mit der Sprache herausrückten?
„Du hast gut reden!" platzte es plötzlich aus Harry heraus. Hermine blickte überrascht auf.
„Was...?" ein wenig verwirrt schüttelte sie den Kopf, die Stirn in tiefe Falten gelegt.
„Wie auch immer du es geschafft hast, dich behandelt er inzwischen wie einen normalen Menschen. Da gibt es nichts, was du einfach an dir abprallen lassen müßtest. Die Gemeinheiten gegen dich sind doch längst Vergangenheit. Nur bei mir, da macht er weiter. – Was habe ich diesem Menschen bloß getan."
„Na ja, vielleicht geht ihm dein Selbstmitleid auf die Nerven." Harry feuerte einen Blick in Hermines Richtung, der wahrscheinlich jeden, der Harry nicht kannte, halb zu Tode erschreckt hätte, doch Hermine hielt diesen Blick fest, ihre Miene war dabei fast so unbeteiligt wie die Severus'.
„Hervorragend! Jetzt verstehe ich natürlich, warum es zwischen euch plötzlich Sympathie gibt. Du hast dich entschlossen, dich ihm ein wenig anzupassen. – Steht dir sehr gut, Hermine, wirklich." Hermine lächelte bitter.
„Dafür steht dir Severus' Sarkasmus überhaupt nicht." Einen Moment sah Harry so aus, als wollte er wie ein Kind mit dem Fuß aufstampfen, doch wenn er diesen Plan wirklich gefaßt hatte, besann er sich im nächsten Moment eines besseren.
„Harry, ich will dir gar nichts und ich glaube, bei Severus ist es ähnlich. Er kann nicht aus seiner Haut, das ist alles. Nur weil er mich nicht länger als Alleswisserin beschimpft, heißt das doch noch lange nicht, daß ich plötzlich seine beste Freundin bin. Er fängt so langsam an, mich als seine Kollegin zu akzeptieren, mehr auch nicht und die Zusammenarbeit mit ihm ist schwer genug, also tu mir das bitte jetzt nicht an, ja? Sei wenigstens du immer noch mein alter Freund Harry und nicht irgendein beleidigtes jammerndes Monster." Harry ließ den Kopf hängen und senkte den Blick zu Boden. Hatte Hermine recht? Vielleicht jammerte er ja wirklich zu viel, seit es in seinem Leben mal wieder eine einschneidende Wendung gegeben hatte. Bisher hatte ihm das noch nie jemand vorgeworfen, aber vielleicht war er die Wendungen ja auch einfach nur leid und hatte es selbst nicht bemerkt, weil er auf sich selbst nicht den klaren Blick hatte wie zum Beispiel Hermine?
„Du hast ja recht." Sagte er schließlich kaum hörbar und Hermine atmete ein wenig auf.
„Natürlich, das habe ich doch immer." Sie zwinkerte ihm zu und für einen Moment war es wieder so wie früher, als das alte Leuchten in Harrys Augen zurückkehrte und sie lachten.
„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermißt habe, Hermine. Ich glaube, du hättest niemals aus meinem Leben verschwinden dürfen." Hermines Gesicht wurde wieder ein wenig trauriger.
„Harry, du darfst nicht denken, daß ich dich verlassen habe. Ich habe einfach gedacht, daß es besser so ist. Ron ist dein bester Freund und ich wollte nicht ständig dazwischen stehen, nachdem wir..." Harry hob die Hand und schüttelte leicht den Kopf.
„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Hermine. Es ist doch alles in Ordnung so. Ich bin nur ein unverbesserlicher Egoist und wenn du noch bei mir gewesen wärst, vielleicht hätte ich dann klügere Entscheidungen getroffen." Er lächelte, als er sich auf die Armlehne des Sessels setzte und Hermine in die Arme nahm. Hermine erwiderte sein Lächeln dankbar und hielt Harry fest, als wollte sie ihn nie mehr in ihrem Leben wieder loslassen. Und vielleicht war das auch so, denn Hermine hatte noch nie eine einsamere Zeit in ihrem Leben erlebt wie die letzten vier Jahre, in denen der Kontakt zu Harry wegen der Sache zwischen Ron und ihr beinahe abgebrochen war. Es hatte neue Leute in ihrem Leben gegeben, aber nie war es so gewesen wie damals, als sie noch zu dritt durch das Schloß gezogen waren, immer zusammen und nichts, was sie wirklich dauerhaft voneinander trennen konnte.
„Man sollte meinen, in seinem siebten Jahr in dieser Schule wisse man endlich, daß man sich den Bauch nicht so vollschlagen darf!" stöhnte Aislin und hielt sich ihren Bauch, der gegen das viele Essen rebellierte, das Aislin ihm während der Eröffnungsfeier in der Großen Halle an diesem Abend zugemutet hatte. Trotzdem lächelte sie ihre Freundin an.
Aidan stieg stumm neben ihr die Treppe hinab, die in die Kerker führte. Sie schien sehr weit weg mit ihren Gedanken zu sein. Aislin zog die Augenbrauen zusammen.
„Was ist denn mit dir los, Aidan?" fragte sie und ihre Sorge um die Freundin war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören. Aidan blickte auf und versuchte ebenfalls, sich zu einem Lächeln zu bringen, aber es gelang ihr nicht so wirklich.
„Nichts. Mach dir keine Sorgen." Aidan wich dem Blick der Freundin aus. Wie sollte sie ihr erklären, daß sie der Grund dafür war, daß sie so merkwürdig war? Aislin war anders als noch vor ein paar Wochen, als sie für ein paar Tage bei ihr Urlaub gemacht hatte und Aidan hatte einen furchtbaren Verdacht, der sich einfach nicht abschütteln ließ, über den sie aber ebenso wenig einfach mit ihrer Freundin reden konnte. Und schon gar nicht hier mitten auf dem Gang.
Sie erreichten kurze Zeit später ihren Gemeinschaftsraum, der so voller Slytherins war, daß Aidan und Aislin ihre liebe Mühe hatten, sich durch sie alle hindurch zu kämpfen, um zu den Schlafsälen zu gelangen.
„Das wird ein großartiges Jahr!" griff Aislin plötzlich das Gespräch wieder auf. Aidan blickte sie verwirrt an.
„Ich glaube eher, daß es ein Jahr voller Arbeit wird." Aislin lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ach was, diese dummen Prüfungen sind doch kein Problem. – Ich meinte doch, daß wir dieses Jahr endlich unsere Ruhe vor den anderen haben. Endlich kein großer Schlafsaal mehr, den man mit diesen Zicken teilen muß. – Es wird großartig!" Aidan atmete erleichtert auf, als sie zum ersten Mal für diesen Tag wieder etwas an ihrer besten Freundin entdeckte, daß keinen Zweifel daran ließ, wen sie vor sich hatte. Diese kindliche, unbeschwerte Freude, das war die Aislin, die sie kannte. Und doch war sie sich sicher, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie hatte etwas in den Augen der Freundin gesehen, gleich am Morgen in King's Cross, das dort nicht hingehörte oder zumindest vorher nicht dort gewesen war. Und Aidan hatte so den unbestimmten Verdacht, genau zu wissen, was es war, denn es war nicht abwegig, war nur eine Frage der Zeit gewesen.
Und doch, Aidan wollte einfach nicht, daß es wahr war. Sie wollte den Moment, in dem sie erfahren würde, daß sie ihre Freundin, ihre einzige Freundin, seit sie ein Kind war, verloren hatte, so weit wie möglich von sich schieben.
„Welches Zimmer haben wir?" fragte sie. Aislin zog einen Zettel aus ihrem Umhang und warf einen Blick darauf.
„Das ganz am Ende des Ganges." Aidan folgte ihrer Freundin, die energisch auf die letzte Tür im Gang zuschritt. Auch sie hatte sich noch bis vor kurzem darauf gefreut, daß sie jetzt in ihrem siebten Schuljahr endlich in kleineren Zimmern zu zweit untergebracht sein würden, doch jetzt war sie sich nicht sicher, ob er ihr nicht der zweifelhafte Halt, den der große Schlafsaal stets geboten hatte, doch lieber gewesen wäre. Sicher war Aidan bewußt, daß keines der anderen Mädchen in Slytherin wirklich ihre Freundin war. Seit der Auferstehung Voldemorts vor sieben Jahren hatte sich auch in Slytherin alles sehr verändert. Keiner traute mehr dem anderen. Sicher war das vorher schon manchmal bei bestimmten Personen so gewesen, doch Slytherin war bis dahin eigentlich immer dafür bekannt gewesen, daß man dort auch echte Freunde fand.
Aislin hatte die Tür zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer aufgestoßen und blickte sich um. Sie rümpfte leicht die Nase, richtete ihren Zauberstab auf das kleine Runde Fenster knapp unterhalb der Decke und flüsterte etwas, woraufhin das Fenster sich öffnete.
„Irgendwie riecht es hier drin unangenehm. Ich fürchte, wir müssen hier ein wenig von dem alten, irischen Bauernmief rauslassen."
„Du bist manchmal ganz schön paranoid." Gab Aidan lächelnd zurück, schloß die Tür und setzte sich auf ihr Bett. „Als wenn man jetzt noch bemerken würde, wer hier bis vor zwei Monaten gewohnt hat." Aislin hob grinsend die Schultern und warf sich auf das andere Bett.
„Mag sein." Die beiden schwiegen eine ganze Zeit. Es war eine Stille, die Aidan früher sicherlich als angenehm bezeichnet hätte. Ein Frieden im Schweigen, der sich nur zwischen zwei wirklich guten Freunden einstellen konnte. Doch heute war diese Stille keine gute Idee, denn sie regte ihre Grübeleien noch mehr an und ihre Gedanken fuhren in einem solch halsbrecherischem Tempo Achterbahn, daß Aidan fast nicht mehr hinterher kam.
„Wir sollten ins Bett gehen, sonst sind wir morgen wie erschlagen." Aislins sanfte Stimme riß Aidan zum wiederholten Male für diesen Tag aus ihren Gedanken.
„Ich hab so das Gefühl, daß ich das sowieso sein werde. Ich hasse diese Reisetage." Aislin lächelte verständnisvoll, als sie die Schnalle ihres Umhangs öffnete. Für Aidan war die Reise nach Hogwarts etwas sehr Umständliches und Aislin hatte noch nie verstanden, warum alle Schüler erst nach London kommen mußten, um von dort dann alle gemeinsam mit dem Hogwarts Express nach Schottland zu fahren. Für die Schüler, die ohnehin schon aus Schottland kamen war das ein enormer Umweg. Aber es war schon immer so gewesen und niemand hatte diese Regel bisher angezweifelt, also tat es auch Aislin nicht.
Nachdenklich zog sie ihren Pullunder über ihren Kopf und hängte ihn über den Stuhl. Sie bemerkte nicht, wie Aidan sie verstohlen dabei beobachtete, wie sie ihre silber-grün gestreifte Krawatte lockerte und schließlich ihre Bluse aufknöpfte. Erst als sie Bluse auszog und den überraschten Ausruf der Freundin hörte, trafen ihre Blicke sich. Aislin erkannte in den Augen ihrer Freundin Schock und Erstaunen und als Aidan ihre Augen schließlich von denen Aislins löste und auf ihren linken Arm starrte, wußte Aislin, daß sie unvorsichtig gewesen war. Innerlich fluchte sie über ihre Nachlässigkeit, aber andererseits war es schließlich nur Aidan und gerade für sie sollte das doch eigentlich keine große Überraschung sein. Oder etwa doch?
„Du hast es also wirklich getan?" Aislin hob eine goldene Augenbraue und sah ihre Freundin kalt an. Wieso war sie so überrascht und klang so fürchterlich verletzt?
„Du bist überrascht?" Ein kalter Schauer durchfuhr Aidan bei der plötzlichen Kälte in der Stimme der Freundin und sie beeilte sich, den Kopf zu schütteln.
„Nur ein wenig. Ich hatte gedacht, du würdest noch ein Jahr damit warten, das ist alles." Aislin schien erst nicht ganz von der Antwort überzeugt, doch dann nickte sie und zog ihr Nachthemd an.
„Die Gelegenheit war da und ich habe sie ergriffen. – Du hättest sicher nicht anders gehandelt." Aislin schien eine Antwort zu erwarten, doch Aidan schwieg.
Noch Stunden später lag Aidan wach und hörte Aislins tiefen, ruhigen Atemzügen zu. Natürlich hatte sie gewußt, daß der Tag kommen würde. Aislin hatte schon seit Monaten ständig davon gesprochen, daß sie es gar nicht erwarten konnte. Und doch, in ihrer kindlichen Gutgläubigkeit hatte Aidan doch die ganze Zeit über gedacht, daß sich alles noch zum Guten wenden würde, bevor das geschah oder daß sie die Freundin im letzten Moment davon abhalten konnte, das zu tun.
Doch jetzt war es geschehen und Aidan konnte nicht länger abstreiten, was sie in den Augen der Freundin gesehen hatte. Eigentlich hatte sie es am Morgen am Bahnhof schon genau gewußt, doch da hatte sie sich noch in Ausreden und Erklärungen flüchten können, die alle um das Unvermeidliche herumtanzten und ihr zahllose andere Möglichkeiten boten.
Das Dunkle Mal auf Aislins Haut jedoch ließ keinen Zweifel mehr daran, daß es der Tod gewesen war, der ihr aus den himmelblauen Augen der Freundin entgegen geblickt hatte und so schwer es Aidan auch fiel, sich das vorzustellen und es zuzugeben, aber ihre beste Freundin war jetzt ein Todesser, sie hatte getötet und damit war sie für Aidan von nun an für immer verloren.
Kalt wie Eis sank die Erkenntnis ein, daß sie von nun an wirklich allein war. Ganz allein.
Plötzlich hatte Aidan das Gefühl, daß die Wände immer näher auf sie zurückten und alles in diesem Raum schnürte ihr die Luft zum Atmen ab.
Obwohl es schon mitten in der Nacht und damit verboten war, sprang Aidan mit einem Satz aus dem Bett, schlüpfte in ihre Schuhe, griff sich ihren Umhang und floh praktisch aus dem Schlafzimmer und dem Gemeinschaftsraum der Slytherins.
Die Nachtluft war angenehm kühl und frisch und es dauerte nicht lange, bis Aidan die erhoffte beruhigende Wirkung fühlte, die diese Stille und Friedlichkeit auf
sich hatte. Gedankenverloren blickte sie auf den schwarzen, weitläufigen See hinaus. Kein Luftzug störte die spiegelglatte Oberfläche.
„Wie konntest du nur so dumm sein?" flüsterte Aidan, eine einzelne Träne rollte über ihre Wange.
„Das ist eine sehr gute Frage." Erschrocken fuhr Aidan herum und blickte genau in die kalten schwarzen Augen ihres Lehrers für Zaubertränke. Severus stand hinter ihr und sein Blick verriet ihr, daß er keinesfalls glücklich darüber war, sie hier am See zu finden.
„Was tun Sie hier mitten in der Nacht, Miss Duvessa? Ich hatte eigentlich gedacht, daß gerade die Schüler aus meinem Haus die Regeln genau kennen würden." Er bemerkte die silbrig glitzernde Tränenspur auf ihrem Gesicht, doch bevor er etwas sagen konnte, hatte sich Aidans voller Mund schon zu einem Lächeln verzogen, eine Reaktion, die ihn noch mehr überraschte als die Tatsache, daß sie mitten in der Nacht am See stand und weinte. Mit einer fast beiläufigen Bewegung wischte sie über ihre Wange und blickte Severus unverwandt an.
„Ich hatte das Gefühl, mir fällt die Decke auf den Kopf, darum hab ich mich entschieden, einen kleinen Spaziergang zu machen." Sie wandte sich von Severus ab und ging die letzten Schritte der flachen Böschung herunter an den Rand des Sees. Das Spiegelbild des vollen Mondes, das auf der Oberfläche des Sees leuchtete, erzitterte heftig, als sie ihre Hand ins Wasser tauchte und Bewegung in den reglosen See brachte.
Severus wußte nicht, was er von ihrem Verhalten zu halten hatte. Er hatte sie bei etwas erwischt, was jedem Schüler eine Menge Ärger und Punktabzug einbrachte, aber sie schien nicht einmal im Geringsten Angst davor, geschweige denn vor ihm zu haben. Noch nie hatte sich ein Schüler so merkwürdig benommen und er wußte nicht, ob er sich jetzt Sorgen machen oder wütend werden sollte. Eher zögerlich überbrückte er die Distanz, die Aidan zwischen sie gebracht hatte.
„Aidan, bitte gehen Sie mit mir zum Schloß zurück. Ich kann Sie nicht hier draußen lassen. Es ist für Sie ebenso verboten, wie für jeden anderen Schüler." Aidans Herz hämmerte in ihrer Brust. Das war der Ton seiner Stimme, den sie so unbedingt hören wollte. Weich wie Samt, düster wie die Nacht und tief – sehr tief - verborgen eine angenehme Wärme. Es war egal, was er sagte, wie hart er sie bestrafte, Hauptsache, er tat es mit dieser Stimme. Aidan wußte nur zu gut, daß sie keiner verstehen würde, wem sie auch davon erzählte. Wahrscheinlich nicht einmal der kalte Meister der Zaubertränke selbst, aber wenn ihr eine höhere Macht auf dieser Welt nur einen einzigen Wunsch erfüllen wollte, dann würde sie sich wünschen, daß sie diese Stimme hören durfte, bevor sie starb.
Aidan fühlte sich kindisch und albern, als sie sich klar wurde, was sie da wieder dachte, doch sie konnte es einfach nicht verhindern, daß ihre Gedanken in eine abstrus romantische Richtung abdrifteten, wenn Severus in ihrer Nähe war.
Aidan fuhr zusammen, als sich plötzlich eine warme Hand fest auf ihre Schulter legte. Langsam drehte sie sich um und fand sich erneut Auge in Auge mit Severus wieder. Er sah nicht mehr wütend aus, aber auch sonst konnte sie keine Emotion aus seinem Gesicht oder wenigstens aus seinen Augen herauslesen.
„Kommen Sie." Setzte er sanft, aber bestimmt nach und ließ ihre Schulter nicht los, als sie sich aufrichtete. Zu seiner Überraschung brach Aidan den Blickkontakt zu ihm nicht ab. Er hatte erwartet, daß sie wie alle anderen Schüler auch seinem gefürchteten, leeren Blick nicht standhalten konnte, doch scheinbar hatte er sich da getäuscht.
Aidan lächelte, als sie einen Hauch von Verwirrung in den schwarzen Augen aufblitzen sah. Sie hatte also doch eine Wirkung auf ihn. Vielleicht keine großartige, aber immerhin, sie schaffte es, ihm eine Regung zu entlocken, wenn das nicht schon mal eine Leistung war.
Severus fühlte ein sehr ungutes Gefühl in sich aufsteigen. In den Augen seiner Schülerin, die ihn praktisch hypnotisch an sie fesselten, brannte ein Feuer, das mit Sicherheit nichts Gutes zu bedeuten hatte. Er wußte nicht, was dieser Blick zu sagen hatte, aber er war sich sicher, daß er das nicht mußte, um zu verstehen, daß er Ärger für ihn bedeutete. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde ein wenig breiter.
„Ich nehme an, ich werde eine Strafe erhalten?" Endlich konnte Severus sich von ihren Augen losreißen und um sich noch einen Moment Zeit zu geben, sich zu sammeln, nickte er schlicht. Er räusperte sich kaum hörbar.
„Ich erwarte Sie morgen nach dem Unterricht in meinem Büro. Bis dahin habe ich mir etwas überlegt, Miss Duvessa. Und jetzt kommen Sie bitte mit ins Schloß." Als sie hinter ihm her in Richtung Schloß ging, strahlten ihre Augen vor Freude und auch das Lächeln auf ihren Lippen wurde immer breiter. Sie hatte einen kleinen Sieg errungen, war einen ganzen Schritt in Richtung ihres Zieles weiter gekommen. Sie wußte genau, daß Severus normalerweise ganz anders auf einen nächtlichen Herumtreiber reagiert hätte, Slytherin oder nicht. Aber bei ihr hatte seine Kälte versagt, vermutlich zum ersten Mal in seinem gesamten Dasein als unbeliebtester und gemeinster Lehrer der Schule.
Harry stand am Fenster seines Zimmers und blickte hinaus in die klare Nacht. Es war ein großartiger und gleichzeitig so merkwürdiger Abend für ihn gewesen. In seinen sieben Jahren als Schüler hatte er es schon so oft erlebt, wenn neue Lehrer an die Schule kamen, doch nie hätte er sich träumen lassen, daß es eines Tages sein Name sein würde, den ein stolzer Dumbledore den vielen hundert Schülern in der Großen Halle entgegenrief. Niemals hätte er sich träumen lassen, daß ein solcher Sturm der Begeisterung nur für ihn losbrechen würde.
Viele hatten es ihm prophezeit, aber diese Leute hatten auch von ihm erwartet, daß er Großes leistete und Harry war bei weitem nicht dumm genug, um zu glauben, daß er das getan hatte. Er hatte großes Glück gehabt, ein wenig Geschick bewiesen, aber nichts rechtfertigte, daß die Schüler ihn feierten.
Harry lächelte. Die meisten von ihnen taten es ohnehin nur, weil er eine kleine Leuchte am Quidditch-Himmel war. Sie bewunderten ihn wenn überhaupt sicherlich nur dafür, daß er sich auf einem Besen halten, waghalsig fliegen und eine kleine goldene Kugel fangen konnte.
Ein trotziger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Aber immerhin, das konnte er verdammt gut.
Hermine hatte wohl recht gehabt. Er bemitleidete sich viel zu viel selbst. Wann immer er sich in der letzten Zeit mal einige Minuten zum Nachdenken gegönnt hatte, war er immer wieder an dem Punkt angekommen, daß er sich fragte, warum er mal wieder da war, wo er sich jetzt befand, warum das alles passiert war, warum nicht endlich Schluß mit dem ganzen hin und her war. Kurz, er bemitleidete sich, in jedem Moment, den er sich selbst dafür gab. Und Snape hatte recht, wenn er ihn deshalb als erbärmlich betrachtete und ihn vielleicht sogar so bezeichnete.
Der bloße Gedanke daran, daß er Snape recht geben mußte, stieß Harry sauer auf. So weit war es also schon gekommen. Er konnte sich noch nicht einmal mehr vernünftig einreden, daß sein alter Lehrer nichts weiter war als ein unfairer, verbitterter Fiesling. Sogar er gab jetzt schon zu, daß er recht hatte! Erbärmlicher Potter!
Harrys Aufmerksamkeit wurde plötzlich von sich selbst abgelenkt, als er sah, wie eine Gestalt – ein Mädchen - vom Eingang des Schlosses in Richtung See lief. Viel konnte er von ihr nicht erkennen, aber er wußte doch, daß es keine Lehrerin sein konnte. Harry wollte sich gerade auf den Weg nach unten machen, um nach der Schülerin zu sehen und sie zurück ins Schloß zu holen, bevor eine ganz bestimmte Person sie dort unten entdeckte, als es auch schon zu spät war.
Selbst ohne hellen Vollmond in stockfinsterer Nacht hätte Harry diese Gestalt, diesen Gang, noch wieder erkannt. Kein anderer Mensch in diesem Schloß schlich wie eine große schwarze Katze durch die Nacht außer Severus Snape.
Doch etwas an dieser Szene war merkwürdig, das fühlte Harry sofort. Er sprach sie an, sie wirbelte auch erschrocken herum, doch dann lief nichts mehr so ab, wie Harry es noch aus der eigenen Schulzeit kannte...
Sesha warf einen nervösen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk und atmete tief durch. Nur noch wenige Minuten bis zum Beginn ihrer ersten Schulstunde. Sie war noch nie in ihrem Leben so verdammt aufgeregt gewesen!
Sie hatte zwar die gesamten Unterlagen von Professor Trelawny übergeben bekommen und wußte, wie weit die einzelnen Klassenstufen in ihrem Stoff voran gekommen waren, aber dennoch war Sesha nicht sicher, ob sie die Klasse nicht doch zu Tode langweilen würde.
Heute hatte sie gleich als erstes die siebte Klasse und damit die Gruppe, die Professor Trelawny am längsten von allen gekannt hatten. Würde sie bei dieser Klasse überhaupt durchdringen und sie überzeugen können? Sie kannte Professor Trelawny nicht, wußte nichts weiter über sie als das, was Hermine ihr während der Vorbereitungen erzählt hatte, aber was, wenn die ältere Hexe doch nicht so schlimm gewesen war, wie Hermine behauptet hatte?
Da war sie wieder. Ihre alte Angst zu versagen. Sie hatte so sehr gehofft, daß dieses Gefühl sie dieses Mal nicht wieder übermannen würde, aber gerade hatte es allen Anschein.
Sesha griff nach dem großen in Leder gebundenen Buch auf dem Holztischchen neben dem Kamin und strich fast liebevoll über den Einband. Sie mußte sich einfach nur beruhigen. Es war wie immer. Sie mußte ruhig werden und dann würde alles klappen, wie es klappen sollte.
Die ersten Schüler, die ihr Turmzimmer erreichten, rissen Sesha aus ihren trüben Gedanken heraus. Es gab kein Zurück mehr und wenn es nicht mehr zurück ging, dann konnte man eben nur noch nach vorn.
Aidan beobachtete die junge Frau, die sich ihnen noch einmal als Sesha Shantay, ihre neue Lehrerin in Wahrsagen vorgestellt hatte, ein wenig skeptisch. Sie wußte zwar nicht genau, was es war, das sie bei ihr skeptisch werden ließ, aber das Gefühl war da.
Sesha griff wieder nach etwas, was auf ihrem Tisch lag und hielt es hoch.
„Das habt ihr sicher schon einmal gesehen oder?" fragte sie strahlend in die Runde. Aidan hob ihren Arm, sah dabei aber wenig begeistert aus. Sesha nickte ihr zu.
„Ja, Miss Duvessa." Aidan ließ ihren Arm sinken.
„Das sind Tarotkarten. Ein herkömmliches Spiel besteht aus achtundsiebzig Karten, die noch einmal in verschiedene Untergruppen unterteilt sind." Sesha lächelte und nickte wieder.
„Sehr richtig, Miss Duvessa. Wissen Sie noch mehr über die Kunst des Kartenlegens?" Sesha wollte es sich nicht anmerken lasen, doch der kalte Blick, mit dem Aidan sie ansah, ließ sie doch etwas nervös werden.
„Ja, Miss Shantay. Die erste Untergruppe der Karten sind die Trumpfkarten, man nennt sie auch ‚großes Arkana'. Sie besteht aus zweiundzwanzig Karten, die von null bis einundzwanzig durchnumeriert sind und verschiedene Personen und menschliche Eigenschaften zeigen. Jede Karte hat einen ganzen Haufen Bedeutungen und muß je nach Situation ausgelegt und richtig interpretiert werden. Die restlichen sechsundfünfzig Karten bilden das ‚kleine Arkana', das noch einmal in vier Untergruppen zu jeweils vierzehn Karten unterteilt ist. Wie bei einem herkömmlichen Kartenspiel hat jede dieser Gruppe ein Symbol. Es gibt den Kelch, die Münze, das Schwert und den Stab. Auch diese vierzehn Karten sind noch einmal durchnumeriert. Es gibt Pagen, Ritter, Könige und Königinnen, ein Aß und auf die restlichen neun Karten sind römisch von zwei bis zehn durchnumeriert.
Der Aufbau der Tarotkarten geht vermutlich darauf zurück, daß sie ursprünglich mal ein einfaches Spiel und kein Mittel zum Deuten der Zukunft waren. Diese Bedeutung wurde ihnen erst einige Zeit nach ihrer Entstehung zugewiesen." Obwohl Aidan noch einiges mehr hätte sagen können, schwieg sie nach diesem Vortrag. Sesha lächelte noch immer und schien begeistert zu sein. Vielleicht war sie ja doch nicht so übel, ging es Aidan durch den Kopf.
„Ganz wunderbar, Miss Duvessa. Ich würde sagen, das waren zehn Punkte für Slytherin. – Gut, wie Miss Duvessa schon richtig bemerkt hat, kann keiner Karte eine klare Bedeutung zugewiesen werden, man muß die Karten lesen und interpretieren können..." Aidans Gedanken schweiften ab, als Sesha nun dazu überging, ihnen von den Bedeutungen der einzelnen Karten zu erzählen und hier und da einige der sehr verschwommenen geschichtlichen Fakten einstreute.
Im Moment waren ihre Gedanken wieder einmal viel zu sehr von einem ganz anderen Lehrer gefesselt, der sich denkbar weit von diesem Turmzimmer unten im Kerker verbarg. Aidan war sich inzwischen sicher, daß sie in der Nacht zuvor wirklich etwas in Severus losgetreten hatte, aber sie war sich nicht mehr ganz so sicher, ob das nun etwas Positives oder Negatives war. Das allein war auch der Grund, weshalb sie nun plötzlich doch ein wenig Angst vor dem heutigen Nachmittag hatte, wenn sie zu ihm gehen mußte, um sich ihre Strafe für ihren nächtlichen Ausflug abzuholen.
„Sie haben dann wohl keinen Partner, Miss Duvessa. Dann werde ich mit Ihnen zusammen arbeiten." Aidan schreckte aus ihren Gedanken auf. Sesha setzte sich neben sie und lächelte sie warm an.
„Wollen Sie mir die Karten zuerst legen?" Aidan schüttelte den Kopf.
„Nein, fangen Sie bitte an. Ich möchte es gerne erst einmal sehen." Sesha nickte und begann, ein Muster aus Karten auf den Tisch zu legen. Aidan war auch jetzt immer noch nicht wirklich bei der Sache, als Sesha eine Karte nach der anderen aufdeckte und mit ihrer Deutung begann. Es klang alles sehr belanglos, fast uninteressant, bis Sesha schließlich zur letzten Karte kam. Sie drehte sie um und hielt inne.
„Was haben Sie, Miss Shantay?" fragte Aidan, als sie das Zögern der Lehrerin bemerkte, doch dann sah auch sie die Karte, die sie noch immer in der Hand hielt.
„Das Rad des Schicksals." Begann Sesha zu erklären. „Diese Karte ist mit die widersprüchlichste." Aidan sah sich die Karte, die Sesha gerade aufgedeckt hatte, genau an. Die Karte zeigte einen blauen Himmel, mit aufgebauschten hellgrauen Wolken an den vier Ecken der Karte. Auf jeder dieser Wolken saß ein geflügeltes Wesen. Aidan erkannte in ihnen einen Engel, einen Adler, einen Stier und einen Löwen, jedes von ihnen hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich. In der Mitte der Karte war das Rad des Schicksals abgebildet. Es war ein Rad mit acht Speichen und sowohl auf den Speichen als auch um sie herum an ihren Enden waren verschiedene Symbole abgebildet. Einige davon kamen Aidan sehr bekannt vor, doch außer den lateinischen Buchstaben konnte sie keines deuten. Neben den geflügelten Wesen waren noch drei weitere Gestalten abgebildet, die zwar nicht sichtbar, aber doch scheinbar untrennbar mit dem Rad verbunden waren. Eines davon war eine Schlange, das zweite eine Sphinx mit einen Schwert und das dritte sah aus wie ein Schakal, doch da war Aidan sich nicht sicher.
Diese Karte bot eine verwirrende Vielzahl von guten und schlechten Omen und Aidan spürte, daß ihr plötzlich mulmig wurde.
„Was hat sie zu bedeuten?" fragte sie, immer noch unfähig den Blick von der Karte zu lösen. Sesha schwieg einen kurzen Moment, dann räusperte sie sich.
„Nun ja, wie ich schon gesagt habe, diese Karte ist eine der widersprüchlichsten im ganzen Deck. Sie kann alles bedeuten, ihre wahre Bedeutung kann man nur erkennen, wenn man die umliegenden Karten noch einmal ganz genau betrachtet. Das Rad des Schicksals hat aber natürlich auch einige feste Bedeutungen. Es symbolisiert das sich ständig drehende, ständig ändernde Leben. Der Mensch ist nicht in der Lage, sich gegen sein änderndes Schicksal zu wehren. Was das Rad des Schicksals also prophezeit kann nicht durch die eigene Kraft abgewendet werden." Sie blickte Aidan an und ihre Schülerin erwiderte ihren Blick. Sesha erkannte Unsicherheit in den wunderschönen violett-schwarzen Augen.
Sesha nahm die Karte wieder in die Hand und reichte sie Aidan, die sie vorsichtig entgegennahm und das üppige Bild ansah.
„Die Zeichen auf den Speichen sind die alchemistischen Zeichen für Salz, Wasser, Schwefel und Quecksilber. Wasser und Salz stehen für das Leben, Schwefel und Quecksilber für den Tod." Begann Sesha, ihr die Karte genauer zu erklären. „Die Zeichen im äußeren Kreis sind lateinische und hebräische Buchstaben. Es gibt keine vorgeschriebene Leserichtung oder Reihenfolge, du kannst also aus den Buchstaben formen, was du möchtest. Die einfachste Lösung springt natürlich sofort ins Auge." Aidan nickte.
„Taro."
„Genau. Aber es ist zweifelhaft, ob wirklich nur der Name des Spiels damit gemeint war. Die hebräischen Buchstaben sind ‚Yod', ‚Vav' und ‚Heh' und bezeichnen in der jüdischen Tora den Namen Gottes. – Die drei Wesen, die auf dem Rad sitzen, hast du sicher schon erkannt. Sie stehen für das Böse, den Tod, aber auch für die Führung ins Jenseits und die Auferstehung vom Tod. Die vier geflügelten Wesen stehen für die vier Elemente Luft, Wasser, Erde und Feuer." Aidan blickte von der Karte auf.
„Ja, aber was bedeutet sie jetzt für mich?" Sesha nahm die Karte aus Aidans Hand und legte sie wieder in die Anordnung der Karten hinein.
„Ich habe das Spiel für dich so gelegt, daß es deine allgemeine Situation widerspiegelt. Das Rad des Schicksals lag bei dir an der zehnten Position, ist damit die Ergebniskarte. Außerdem lag sie auf dem Kopf." In Aidans Augen leuchtete etwas auf.
„Das bedeutet nichts Gutes." Sesha nickte ein wenig zögerlich.
„Normalerweise ist es ein schlechtes Zeichen. Um das Rad des Schicksals richtig deuten zu können, müssen wir uns die anderen Karten betrachten. Und da ist etwas, was ich erst nicht als schlecht eingestuft hatte, was aber jetzt ein ganz anderes Bild gibt. – Du hast den Teufel auf der sechsten Position, die deine Zukunft darstellt. Der Teufel steht für böse, dunkle Magie, für Verrat, aber auch einfach für unvermeidbare Veränderungen. Selbst wenn ich alle anderen Karten noch mit einbeziehe, befürchte ich, daß das Rad des Schicksals und der Teufel bedeuten, daß du dich in der nächsten Zeit darauf gefaßt machen solltest, herbe Enttäuschungen zu erfahren. Nichts, was sich nicht bewältigen ließe, aber es wird vielleicht keine sehr schöne Zeit werden." Sesha versuchte, ein wenig aufmunternd zu lächeln. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, mit den Karten zu beginnen. Sesha wußte, sie waren nicht gerade das sicherste Mittel zum Wahrsagen und man konnte in sie noch viel besser irgendwelche Katastrophen hineindichten als in irgendwas sonst. Vielleicht hätte sie dieses Risiko nicht eingehen sollen.
„Klingt nicht gerade berauschend." Sagte Aidan schließlich nach einer halben Ewigkeit. Sesha legte ihr die Hand auf die Schultern.
„Das Rad des Schicksals hat aber bei allem, was es voraussagt immer eine ganz wichtige Botschaft. Es ist in ständiger Bewegung und dreht sich immer weiter. Also egal, wie schlimm das Schicksal, das es voraussagt, auch ist, es ist nicht von Dauer und man sollte nicht daran verzweifeln, denn es geht vorbei." Wenn Sesha gehofft hatte, ein Lächeln von Aidan zu sehen, wurde sie enttäuscht, aber sie war sich auch sicher, daß sie das Mädchen mit ihrer Voraussage schlicht verängstigt hatte. Sie durfte nicht erwarten, daß sie es so einfach wegsteckte.
Als die Klasse einige Minuten später das Turmzimmer verließ, blickte Sesha Aidan nach. Sie konnte sich nicht helfen, sie hatte ein schlechtes Gewissen, wegen dem, was die Karten über Aidan gesagt hatten. Und sie hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache, denn sie hatte so eine Ahnung, daß das Rad des Schicksals auch in ihrem eigenen Spiel gelegen hätte, hätte Aidan ihr die Karten noch gelegt.
„Ich hab dir doch gleich gesagt, du sollst diesen Blödsinn nicht machen. Aber du wolltest ja unbedingt Wahrsagen belegen." Aidan warf ihrer Freundin einen vernichtenden Blick zu, der Aislin jedoch weitgehend unberührt ließ.
„Es ist doch immer wieder erfrischend, wie sehr du noch um mich besorgt bist, Aislin." Giftete Aidan die Freundin an.
„Was soll das heißen?" Aidan lächelte zuckersüß, doch Aislin wußte nur zu gut, daß es keinesfalls so gemeint war.
„Ich habe längst begriffen, daß du nur noch deine neuen Freunde im Kopf hast, Aislin. Du brauchst es mir also nicht unbedingt so deutlich zu zeigen, okay?" Einen Moment schien es, als wollte Aislin etwas erwidern und Aidan machte sich schon auf das schlimmste gefaßt, doch Aislin blieb stumm, blickte ihre Freundin einfach nur an und schien sehr genau darüber nachzudenken, ob sie etwas sagen sollte und wenn ja, was.
„Ich bin immer für dich da, Aidan. Und ich mache mir immer Sorgen um dich." Aidan schnaubte.
„Ja sicher doch!" Aislin rutschte von ihrem Bett und setzte sich neben Aidan. Vorsichtig legte sie ihren Arm um die Schultern der Freundin, die sich ein wenig dagegen sträubte, dann aber doch nachgab.
„Ich weiß nicht, wovor du Angst hast, Aidan. Ich würde dich doch nie fallen lassen, nur weil du noch kein Todesser bist." Aislins Stimme war warm und süß und Aidan wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als die Fähigkeit, dieser Stimme glauben zu können. Sie wünschte sich die alten Zeiten zurück, in denen solche Worte von Aislin bedingungslos ehrlich gewesen waren. Jetzt – das war Aidan mehr als klar – konnte sie sich darauf nicht mehr verlassen.
„Und was diese Miss Shantay angeht, glaube ich vielmehr, daß sie in ihren Karten etwas gesehen hat, was ihr nicht gefällt und darum hat sie es so ausgelegt, als wäre es etwas Negatives für dich. Um dich mißtrauisch und paranoid zu machen." Aidans Kopf wirbelte herum und sie fixierte die himmelblauen Augen ihrer Freundin.
„Wie meinst du das?" Aislin lachte, legte eine Hand auf das glänzend schwarze Haar der Freundin und zog ihren Kopf an ihre Brust. So etwas hatte sie noch nie getan und Aidan fragte sich, wann in den letzten Wochen sie entschieden hatte, daß sie ihr so überlegen war, daß sie sogar das Recht hatte, sie wie eine mütterliche Freundin zu behandeln. Eine Mischung aus Wut und Dankbarkeit gegenüber der Freundin verwirrte Aidans Gedanken.
„Du hast heute früh wieder nur Augen für deinen Severus gehabt, was?" Aidan wollte ihre Freundin ansehen, doch der Griff um ihren Kopf war zu fest und hielt sie in ihrer momentanen Situation fest.
„Ich hab dafür etwas gesehen, was dir vermutlich entgangen ist. Wenn mich nicht alles täuscht, dann empfindet deine neue Freundin sehr ähnlich für unseren werten Meister der Zaubertränke." Endlich schaffte Aidan es, sich aus dem Griff zu befreien und Aislin betrachtete zufrieden den Schock und die Wut in den dunklen Augen, die sie anstarrten.
„Das ist doch Blödsinn!" Aislin schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin mir ziemlich sicher. Sie hat ihn während des ganzen Frühstücks nicht aus den Augen gelassen, obwohl Potter die ganze Zeit versucht hat, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Da ist etwas im Busch und ich glaube, sie hat in ihren Karten gesehen, daß du ihre Konkurrentin bist." Aidan schluckte und leckte sich über die trockenen Lippen. Wenn wirklich stimmte, was Aislin sagte, dann machte ihre Theorie einen Sinn. Aber nur, wenn es wirklich stimmte.
„Ich bleibe dabei, das ist Blödsinn, Aislin." Aislin hob lächelnd die Schulter.
„Wenn du es nicht glauben willst, dann überzeug dich doch heute abend selbst davon."
„Das werde ich. – Ich muß jetzt zu Severus." Aislin sah ihrer Freundin nach. Als sich die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer hinter ihr geschlossen hatte, zog sich ein kaltes Grinsen über das Engelsgesicht.
„Du wirst mir schon glauben, liebste Aidan." Murmelte sie und griff nach einem sehr alten Buch unter ihrem Bett.
„Du siehst, was ich dich sehen lassen will."
„Sesha! Warte!" Sesha sah, wie Harry vom Ende des Ganges winkend auf sie zugelaufen kam. Ganz außer Atem kam er neben ihr zum Stehen.
„Harry? Was ist?" Harry beugte sich leicht nach vorne und legte die Hände auf die Oberschenkel. Nur langsam kam er wieder zu Atem.
„Mein Gott, ich bin dir schon durch das halbe Schloß hinterhergelaufen. Hast du mich denn nicht gehört?" Ein Grinsen hob seine leicht geröteten Wangen an und seine grünen Augen glitzerten vergnügt. Sesha schüttelte den Kopf.
„Nein, tut mir leid. – Was kann ich für dich tun?" Noch einmal holte Harry tief Luft. Warum war sie nur immer so kühl zu ihm?
„Hermine hat mir erzählt, daß ihr heute abend alle frei habt und ich dachte mir, wir könnten alle zusammen runter nach Hogsmeade gehen. Was hältst du davon?" Sesha lächelte, schüttelte aber wieder den Kopf.
„Tut mir leid, Harry, aber ich kann nicht. Ich muß meine Stunde für morgen vorbereiten und werde dann noch etwas an meinem Experiment weiter arbeiten. Professor Snape hat uns zwar frei gegeben, aber ich bin etwas hinter den anderen zurück." Die Enttäuschung wischte das Grinsen von Harrys Gesicht, doch er zwang sich, wenigstens noch zu lächeln und ihr nicht zu deutlich zu zeigen, wie enttäuscht er wirklich war.
„Das ist sehr schade. Snape zwingt dich doch nicht etwa, deinen freien Abend im Labor zu verbringen oder? Das würde dem Kerl wieder ähnlich sehen." In Seshas Augen funkelte ein Hauch von Zorn auf.
„Natürlich tut er das nicht, Harry! Red bitte nicht so ein dummes Zeug!" Harry wußte nicht so recht, was er von ihrem plötzlichen Zorn zu halten hatte. Er wußte von dem Streit zwischen ihr und Professor Snape vor zwei Wochen. Hermine hatte es ihm erzählt. Und er wußte auch, daß die beiden seither kaum noch ein Wort miteinander gesprochen hatten.
Doch scheinbar hatte das Seshas Bewunderung für Snape und ihrer Einstellung ihm gegenüber wenig Abbruch getan. Er hob überrascht die Augenbraue.
„Bitte entschuldige mich, Harry. Ich hab noch sehr viel zu tun." Mit einer schwungvollen Bewegung drehte sie ihm den Rücken zu und setzte ihren Weg in Richtung ihrer Räume fort. Harry blickte ihr noch einen Moment verdutzt nach.
Warum nur drang er einfach nicht zu ihr durch?
„Wie ich sehe, haben sich manche Dinge seit Ihrem letzten Schuljahr hier geändert, Potter." Die kalte, nur allzu bekannte Stimme jagte Harry einen Schauer über den Rücken und als er sich umdrehte, sah er mal wieder das spöttische Grinsen im Gesicht des Zaubertränkemeisters, das er so haßte.
„Belauschen Sie mich mal wieder, Snape?" gab Harry kalt zurück. Das Grinsen wurde noch ein wenig breiter.
„Das hat schon vor einigen Jahren seine Attraktivität für mich verloren, Potter. Früher mag es ja ganz interessant gewesen sein, aber seit Sie in Ihr tiefes Selbstmitleid gefallen sind... wann war das noch gleich? Ich glaube, als Sie ins sechste Schuljahr kamen, nicht wahr?" Die beiden Männer fixierten sich und Severus fühlte eine merkwürdige Zufriedenheit über Harrys haßerfüllten Blick. Er war noch immer weit davon entfernt, daß man ihn in die Welt entlassen konnte, aber immerhin, er lernte.
„Was wollen Sie von mir, Snape? Ein bißchen in alten Wunden herumstochern? Das eine oder andere Messer noch einmal darin umdrehen?" Severus seufzte leise und schüttelte den Kopf.
„Potter, ich kann wirklich nichts dafür, daß Miss Shantay offensichtlich nichts an Ihren Avancen gelegen ist, also lassen Sie Ihre Wut nicht an mir aus." Dieses Grinsen. Harry zählte langsam rückwärts von zehn auf null, um sich selbst von einer Dummheit abzuhalten. Aber das Grinsen auf dem Gesicht des älteren Mannes machte ihn schier verrückt.
„Das geht Sie nichts an, Snape! Halten Sie ihre Nase endlich aus meinen Angelegenheiten raus! – Passen Sie lieber auf, daß man Sie bei Ihren nächtlichen Rendezvous am See nicht erwischt. Zumindest so lange Sie sich dort mit Schülerinnen treffen." Das Grinsen verschwand von Severus' Gesicht und wurde von einer eisigen, alles gefrierenden Kälte ersetzt.
„Was soll der Blödsinn, Potter?" Jetzt war es an Harry, ein selbstzufriedenes Lächeln aufzusetzen. Er konnte hören, daß er einen wunden Punkt getroffen hatte.
„Für verbotene Schäferstündchen sollte man sich weniger gut einsehbare Plätze aussuchen, Snape. Aber Sie haben in dieser Richtung wohl so wenig Erfahrung, daß man ausnahmsweise keine Perfektion von Ihnen erwarten darf, was?" Harry war zufrieden mit sich, fühlte Stolz und ein berauschend starkes Glücksgefühl in sich aufsteigen. Er hatte es der alten Schlange gegeben, endlich! Oder?
Snape machte auf Harry nicht gerade den Eindruck, als habe man ihn gerade bei etwas ertappt, das ihn mit Einfachheit seinen Job und damit seine gesamte Existenz kosten konnte. Es schien ihn noch nicht einmal sonderlich zu berühren, nicht einmal Wut war auf dem fahlen Gesicht zu sehen.
„Potter, das war sogar noch um Klassen unqualifizierter als Ihr überaus dummer Kommentar auf der Isle of Wright. Ich hätte nicht gedacht, daß Sie das noch einmal überbieten würden, aber meine Hochachtung, Sie haben mich überrascht. Aber eines möchte ich Ihnen doch raten." Der bis dahin emotionslose Ton seiner Stimme nahm ein wenig an Schärfe zu und Harry spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.
„Versuchen Sie nicht, mir etwas anzuhängen, Potter. Sie schneiden sich damit ins eigene Fleisch, früher oder später. Sie sollten endlich begreifen, daß ich vieles bin, aber nicht Ihr Feind. Wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätten Sie nicht einmal Ihr erstes Schuljahr hier überlebt und ich hätte Ihnen sicherlich nicht helfen müssen, denn anders als Sie wahrscheinlich heute noch denken, war ich James niemals verpflichtet. – Ich habe begriffen, daß Sie ein notwendiges Übel sind, damit wir alle lebend aus dieser Sache herauskommen. Vielleicht erweisen Sie uns – wenn schon nicht mir, dann wenigstens Dumbledore – die Ehre, das auch endlich im Hinblick auf mich zu begreifen.
Und wie und wann ich Schüler, die ich beim Herumschleichen in der Schule erwische, bestrafe, ist und bleibt allein meine Sache – Potter." Die alte Angst und die alte Ehrfurcht vor diesem Mann war immer noch in jeder Zelle in Harrys Körper verankert. So sehr er dieses Gefühl auch versuchte nieder zu kämpfen, es war da, ein ständiger Begleiter und wieder einmal mußte Harry sich eingestehen, daß er gegen Snape nicht ankam. Was er auch gegen den Mann vorbrachte, egal wie oft er glaubte, daß er ihn endlich erwischt hatte, Snape schaffte es immer wieder, ihm das Gefühl zu vermitteln, was für ein Trottel er doch war.
Denn genau so fühlte er sich jetzt. Was hatte er da versucht? Snape und eine Beziehung zu einer Schülerin! Das war doch absoluter Unsinn! Und es ihm auch noch triumphierend vorzuwerfen... ja, das war glatter Wahnsinn.
Harry spürte die Hitze in seine Wangen steigen und mit einem letzten wütenden Blick auf Snape rannte er praktisch davon.
Aidan fühlte sich seltsam, als sie die Große Halle betrat und sich zu den anderen Slytherins an den bereits gedeckten Tisch setzte. Seit sie Severus' Büro vor einer knappen Stunde verlassen hatte, hatte sie das Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung war. Ihr Kopf fühlte sich schwer und neblig an.
„Was hast du, Aidan? Du siehst schlecht aus." Fragte Aislin mit besorgtem Ton und legte ihrer Freundin die Hand auf den Arm. Aidan fühlte die Wärme, die Aislins Hand ausstrahlte zwar, doch auch das schien wir durch einen Nebel an ihr Hirn zu dringen. Sie faßte sich an die Stirn. Sie war nicht sonderlich warm.
„Ich weiß nicht. Vielleicht kriege ich eine Grippe. Ich fühl mich nicht wohl." Aislin nickte verständnisvoll und schob ihr eine Schüssel mit Kartoffelbrei vor den Teller.
„Dann solltest du besser was essen. Gleich in der ersten Woche krank werden, ist keine gute Idee." Eher lustlos nahm Aidan sich einen Löffel voll Kartoffelbrei auf den Teller. Eher zufällig streifte ihr Blick den Lehrertisch, mal wieder auf der Suche nach Severus, als sie erschrocken inne hielt. Sesha Shantay saß an diesem Abend neben dem Lehrer für Zaubertränke, der so gar nicht wirkte wie sonst. Statt seines finsteren, brütenden Blickes hatte er ein Lächeln auf dem Gesicht, das ein Leuchten in seine sonst immer so kalten Augen zauberte. Sein Abendessen schien für ihn zweitrangig, so angeregt unterhielt er sich mit Sesha, die sich scheinbar wunderbar amüsierte.
Hatte Aislin also doch recht gehabt? Hatte sie das heute morgen wirklich nur übersehen? Wie hatte ihr das passieren können? In Aidans Kopf begann sich alles zu drehen und sie fühlte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Mit einem angewiderten Blick schob sie den Teller mit dem Kartoffelbrei von sich weg und stand auf.
„Entschuldigt mich, aber ich kann nichts essen. Ich werde mich hinlegen." Mit diesen Worten verließ sie beinahe fluchtartig die Große Halle. Ein paar der Slytherins blickten ihr verwundert oder tuschelnd nach. Nur Aislin hatte ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht und warf einen kurzen Blick zum Lehrertisch, an dem Severus mit einer wie üblich verkniffenen Miene saß und lustlos in seinem Essen herumstocherte, während Sesha geflissentlich versuchte, Harry zu ignorieren, der ihr wieder irgend etwas großartiges – vermutlich über Quidditch – erzählte.
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Author's Note:
Hallihallo *wink*. Diese Woche ausnahmsweise mal einen Tag früher, weil ich ab heute nachmittag absolut keine mehr habe und ich wollte euch nicht bis Montag warten lassen ;o)
Tja, das Kapitel ist teilweise ein wenig seltsam, nicht wahr? Die Geschichte hat ein Eigenleben, das merkt man hin und wieder recht gut... vielleicht ein paar Erklärungen:
- Severus fällt in regelmäßigen Abständen in Gesprächen mit Harry vom "Sie" ins "du" und nennt ihn dabei auch hin und wieder "Kind". Mir ist klar, daß das OCC ist, ich wollte damit irgendwie zeigen, daß Severus' Kraft bröckelt und daß er, wenn seine Emotionen zu stark werden, die Kontrolle verliert. Harry auf der anderen Seite ist zu verbohrt, um wirklich zu begreifen, was dieses Verhalten bedeutet :op
- Severus ist NICHT weich geworden und empfindet auch rein gar nichts für Aidan, auch wenn sie das glaubt. Seine für sie teilweise nicht nachvollziehbaren Handlungen (z.B. daß er am See so ruhig bleibt) haben eigentlich größtenteils damit zu tun, daß er in Gedanken die ganze Zeit bei Harry und seinem Problem mit Harrys Anwesenheit ist. Man könnte sagen, der Zaubertrankmeister ist zu gestreßt *g*
- Harrys Selbstmitleidsanfälle sind nur eine Phase, das wird wieder besser werden.
Wegen dieses dummen Upgrades letzte Woche hat es zwei Reviews ins Nirvana geschickt. Da ich die per Mail nochmal zugeschickt bekomme, war ich so frei, den Review von Leu de Nox und von Gracie selbst noch einmal anonym zu posten. Ich denk, ihr zwei habt nix dagegen oder? ;o)
Ach ja, und ich wurde umbenannt, darum bin ich jetzt Mehrzahl. *g*
Leu de Nox: Erinnere mich nur bloß
nicht an diese Schultüte. Es ist viel zu heiß zum Basteln *knurr*. - Aber noch
geb ich nicht auf ;o)
Hermine/Severus... das ist jetzt mal eine Überraschung. Wenn ich ehrlich sein
soll, hab ich zu den beiden noch kein fertiges Konzept, eine wirkliche
Seltenheit. Muß ich mir doch glatt mal was ausdenken. Oder nee, besser nicht,
ist dann nur noch eine Geschichte mehr, die ich schreiben will und ich hab doch
schon 10 Konzepte hier rumliegen *ggg*
Jup, der Titel war richtig so ;o) - Die Fortsetzung wehrt sich noch ein bißchen
oder es ist mein Kopf, weil der bei den Temperaturen nicht will, ich bin mir
noch nicht sicher. Ich hab zwar angefangen, aber ich kommt nicht so wirklich
voran damit.
Gracie: Ähm, da war wohl eher ich
unhöflich, nicht Dumbledore... ich hab sie schlicht vergessen *schäm* Aber ich
hab's mir notiert und werde es demnächst noch abändern *g*
Bei Sesha bleibt er kühl, ich frag mich nur immer wieder, warum ich das nicht
hinkriege, wenn ich ihn mit Harry streiten lasse... na ja, man kann ja nicht auf
alles eine Antwort wissen ;o)
Fred/Hermine wird keine große Lovestory, das kann ich schon verraten. Das ist
wirklich nur so nebenher gelaufen, ohne großartig die Entwicklung zu
beschreiben. Ich fand einfach, sie passen zueinander *g*
summsenine: Die beiden sind nicht
verheiratet, aber das Kind ist definitiv Harrys. Ich glaube, das wäre auch zu
grausam, wenn sich die Geschichte da wiederholt (schließlich muß Sev Opa
werden *ggg* "Opa Sev" *kicher* .... öhm, ich bin nur ein bißchen
albern, wird schon wieder irgendwann ^_^)
Ich würde ja öfter updaten, aber ich möchte keine Lücken entstehen lassen,
darum lasse ich mir nebenher noch genug Zeit, weiter an anderen Stories zu
schreiben, die ich dann posten kann, sobald diese hier zu Ende ist. Immer schön
fortlaufend ohne lange Pausen, in denen man vergessen werden kann.
Tinuviel: Hm, die Umbenennung hat dich
also auch erwischt. Ich war plötzlich SilentRose1, ganz klasse *grummel*
In Dänemark war ich vor vielen Jahren schonmal, aber nur für einen Tag,
leider. Lohnt es sich, da länger hinzufahren? Ich gebe die Hoffnung, doch
irgendwann in den nächsten Jahren nochmal richtigen Urlaub zu machen, irgendwie
nicht auf.
Die Länge ist sehr unterschiedlich. Bisher bewegten sich die Kapitel im Rahmen
von 9 bis 12 Seiten (Arial 10), Kapitel 7 und 14 haben jeweils 23 Seiten,
Kapitel 9 hat 19 usw. Das kürzeste war das 2. Kapitel, nur der Epilog ist noch
ein wenig kürzer.
Keine Sorge, Harry ist seine Familie wichtig ;o) er steckt nur gerade in einer
sehr merkwürdigen Phase und muß erstmal von Hermine und ein paar anderen den
Kopf gerade gerückt bekommen (Kapitel 9).
Ich glaube, Sesha wird so ab Kapitel 6 etwas sympathischer. Sie sollte halt
nicht "Everybodys Darling" werden. Wenn sie dich nervt (und du warst
nicht die einzige, da gab es noch mehr Leute *g*), dann hab ich mein Ziel wohl
erreicht *g*
Die Sache mit Aidan wird jetzt langsam auch etwas klarer, da mußt du nicht mehr
lange warten. Mit der kleinen bin ich wohl besonders grausam umgegangen *schulterzuck*
Harry erfährt es noch. Das war ja im Prinzip einer der beiden tieferen Sinne
dieser Geschichte *lol*. Sev muß sich verlieben und Harry die Wahrheit erfahren
*g*. Ich glaube, seine Reaktion ist nicht so wirklich glaubwürdig, aber ich
wollte Sev leben lassen, also hab ich das in Kauf genommen ;o)
mastermind: Danke schön *freu* ich hoffe, es gefällt dir auch weiterhin, auch wenn's ein paar merkwürdige Drehungen geben wird *g*
So, das war es dann für diese Woche. Man sieht sich (hoffentlich) nächste Woche Donnerstag.
SilentRose(s)
