... und sogar den Tod verkorken
„Severus, kannst du mich hören?" fragte Sesha hoffnungsvoll und versuchte krampfhaft, ihre revoltierende Stimme unter Kontrolle zu halten, bevor sie von ihrer Freude erstickt wurde.
Severus schloß die Augen wieder für einen kurzen Moment und öffnete sie dann ein Stück weiter als zuvor. Harry wußte nicht, ob er irgend etwas anderes um sicher herum wahrnahm als Manami, die noch immer seinen Finger hielt und in diesem Moment herzhaft gähnte, doch schließlich hob er den Blick ein wenig und sah Harry in die Augen. Für einen kurzen Moment sah Harry die Überraschung in den dunklen Augen, doch dann war dieser Ausdruck auch schon wieder aus ihnen verschwunden und Severus drehte langsam und sehr vorsichtig seinen Kopf.
„Sesha." Flüsterte er kaum hörbar und ein winziges Lächeln umspielte seine müden Züge. Er versuchte den Druck ihrer Hand zu erwidern, doch Harry konnte sehen, daß er kaum genug Kraft aufbringen konnte, um es Sesha fühlen zu lassen. – Was dennoch nicht hieß, daß sie die Geste nicht bemerkt hatte. Sie lächelte noch ein wenig strahlender und streichelte Severus liebevoll über das Gesicht.
Auch das Lächeln auf Harrys Gesicht wurde ein weniger breiter, als er sah, welche Liebe sich beide entgegen brachten, doch mit einem Schlag waren die ganzen positiven und glücklichen Gefühle verschwunden. Seine Miene verdüsterte sich.
Mit einer vorsichtigen, aber bestimmten Bewegung trennte er Großvater und Enkelin voneinander, gab der kleinen Manami einen Kuß auf die Wange und reichte das kleine Mädchen dann weiter an seine Mutter, die ihn ein wenig überrascht musterte, denn das plötzliche Mienenspiel war ihr nicht entgangen.
„Ich denke, Manami sollte jetzt wieder ins Bett gebracht werden und ich werde Madam Pomfrey und Dumbledore davon unterrichten, daß Snape aufgewacht ist." Erklärte er knapp und lief dann, ohne auf ihre Antwort zu warten, schnellen Schrittes an Cho vorbei.
Weder Sesha noch Severus hatten diesen merkwürdigen Abgang scheinbar bemerkt und auch Cho entschied sich, daß es besser war zu gehen bevor die beiden bemerkten, daß Harry so plötzlich verschwunden war.
Mit jedem Schritt, den er sich von der Krankenstation entfernte, fühlte Harry, wie sich die Erleichterung in ihm breit machte. Von einer Sekunde auf die andere, hatte es ihn förmlich erdrückt, in Severus' Nähe zu sein und er war froh, daß die Aufmerksamkeit des Zaubertrankmeisters nur für wenige Augenblicke auf ihm geruht hatte. Denn mit einem Mal fühlte er sich nicht mehr in der Lage, all das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, sobald Severus aufgewacht war. Alle Fragen schienen plötzlich vergessen, alle Gefühle für den Mann waren gefährlich und wollten nichts weiter tun, als ihn an den Rand des Wahnsinns zu treiben.
Harry war sich zwar noch nicht einmal sicher, ob er dort nicht schon angelangt war, aber er war sich doch ziemlich sicher, daß er Abstand von Severus wollte und noch konnte er nicht sagen, für wie lange.
Aber Snape würde seine Abwesenheit auch gar nicht wirklich bemerken. Er war nie da gewesen und Snape erwartete sicher nicht von ihm, daß das jetzt plötzlich anfing, oder? Oder?
Harry biß sich auf die Lippen und fuhr sich nervös durch die schwarzen Haare, die nach den letzten drei Tagen sogar noch sturer und noch wirrer um seinen Kopf herum abstanden. Es hatte ja doch keinen Sinn, sich jetzt den Kopf zu zerbrechen. Jetzt mußte er erst einmal Dumbledore finden und ihm sagen, daß Severus aufgewacht war.
Und wenn das erledigt war, dann war es definitiv an der Zeit für einige Stunden Schlaf und zwar diesmal in einem richtigen Bett.
Harry lächelte sogar ein klein wenig bei dem Gedanken und er hätte schwören können, daß sein Rücken in Jubelstürme ausbrach.
„Zauberhaft gefüllte Schokofrösche." Flüsterte er dem Wasserspeier vor dem Eingang zu Dumbledores Räumen zu und schüttelte gleichzeitig fassungslos den Kopf über dieses neue, wie immer sehr – eigenwillige Paßwort des Direktors. Wie kam er bloß immer...
Harry wurde blaß und hielt in seinen Gedanken inne. Das hatte er noch nie gedacht. Das waren immer nur Snapes Worte gewesen. Wieso dachte er jetzt schon genauso wie er?!
Oh Gott, diese Sache nahm langsam sehr unliebsame Züge an!
„Shh, nicht weinen, Sesha." Es kostete Severus eine immense Menge an Kraft, seinen Arm zu heben und die Tränen von Seshas Gesicht zu wischen. Sie lehnte sich ein wenig in seine Berührung, um es ihm einerseits leichter zu machen, aber auch, weil sie diese Berührung vermißt, sogar befürchtet hatte, sie für immer verloren zu haben.
„Ich bin nur glücklich, Severus. Laß mich glücklich sein." Severus lächelte und blinzelte einige Male müde. Sesha hielt seine Hand an ihrer Wange sanft fest und drückte einen winzigen Kuß auf seine Handfläche.
„Ich würde dich nie davon abhalten. Ich sehe es nur viel lieber, wenn du lächelst." Augenblicklich bogen ihre Mundwinkel sich noch ein wenig mehr nach oben, ohne daß die Tränen auch nur einen Augenblick versiegten. Im Moment gehörte es einfach zusammen.
„Du solltest schlafen, Severus. Madam Pomfrey hat gesagt, daß Schlaf im Moment besser für dich ist, als jeder Zauber." Ein wenig widerwillig zog er die Augenbrauen zusammen.
„Alte Quacksalberin." Knurrte er leise und brachte Sesha zum Lachen. Severus in der Krankenstation, in den Händen der wohlwollenden, aber dennoch nicht weniger überagilen alten Medihexe, war ein Bild für die Götter, schon allein, wenn er nur an sie dachte. Wie würde es dann erst werden, wenn die beiden morgen aufeinander trafen. Beide wach. Beide bei klarem Verstand. Sesha spürte eine seltsame Vorfreude, die in ihrem Bauch erwartungsvoll kribbelte.
„Ich persönlich glaube ja, daß sie recht hat und du nur ein alter Sturkopf bist." Antwortete sie ihm immer noch lächelnd und drückte seine Hand noch ein wenig fester, bevor sie sie vorsichtig von ihrer Wange löste und noch vorsichtiger auf der Bettdecke ablegte. Nicht zum ersten Mal seit er vor wenigen Minuten aufgewacht war, kam Severus sich vor wie eine Porzellanpuppe. Warum nur hatte Sesha Angst, ihn zu zerbrechen? Das war eine lachhafte Vorstellung. Er grinste.
„Warum grinst du so?" ihre dunklen Augen blickten ihn verständnislos an.
„Du brauchst keine Angst haben, Sesha. Ich werde nicht zerbrechen und ganz sicher nicht weggehen." Sesha schlug die Augen nieder und wieder lösten sich einige Tränen aus ihren Augen und rollten sanft ihre Wangen hinab.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das nach den letzten Tagen so einfach glauben kann." Ihre Stimme war so leise, daß sie schon kaum mehr als ein Flüstern war und trotzdem kroch sie Severus unangenehm unter die Haut. Er hatte geahnt, daß es knapp gewesen war, aber bis vor wenigen Sekunden war es ihm gar nicht so furchtbar schlimm vorgekommen. Er mußte sich erst noch daran gewöhnen, daß er nicht länger allen egal war. Sesha sorgte sich von nun an wohl ständig um ihn und Harry...
Severus runzelte die Stirn und blickte sich suchend um.
„Wo ist Harry?" fragte er, als ihm klar wurde, daß der junge Mann verschwunden war, ohne daß er es bemerkt hatte. Sesha schien ebenso überrascht und hob die Schultern.
„Wahrscheinlich bringt er nur die Kleine ins Bett. Cho ist heute erst angekommen. – Ich denke, sie haben fast so viel nachzuholen, wie ihr beide." Im ersten Moment war Severus so überrascht, daß er ihr einen fast schon wieder schneidenden Blick zuwarf – natürlich immer noch stark abgeschwächt – doch dann wurde ihm schlagartig klar, daß vermutlich schon das halbe Schloß von der Sache wußte, denn er hatte Hermine erlaubt, Harry die Geschichte zu erzählen. Es war von Anfang an klar gewesen, daß das Geheimnis damit keines mehr sein würde.
Auch wenn er beim Schreiben des Briefes natürlich gedacht hatte, nicht mehr lebend nach Hogwarts zurückzukehren.
„Wahrscheinlich." Gab er deshalb geschlagen zurück. Sesha strich ihm noch einmal zärtlich das Haar aus dem Gesicht und zog die Decke ein wenig höher, um die empfindliche Kälte, die auch vor der Krankenstation durchaus nicht halt machte, von ihm fern zu halten.
„Schlaf jetzt. Ich bin immer hier und Gedanken kannst du dir wieder machen, wenn es dir besser geht. Das ist allemal früh genug." Selbst wenn Severus in diesem Moment noch hätte widersprechen wollen, seine Kraft hatte ihn längst verlassen und er war nicht mehr in der Lage dazu. Der Schlaf legte sich dunkel und schwer über ihn und mit dem angenehm sanften Klang von Seshas Stimme in den Ohren, ließ er sich hinabgleiten.
Es war die einzige Möglichkeit, seine Antworten zu bekommen, aber dennoch hatte Harry von Minute zu Minute mehr das Gefühl, daß diese Möglichkeit vollkommen außer Frage stand. Snape würde ihn sicher nicht besser kennenlernen wollen und das wurde auch nicht dadurch besser, daß sein Herz plötzlich bei dem Gedanken daran, sein Leben wie noch vor einigen Tagen ohne Vater führen zu müssen, unangenehm schmerzte.
Sicher, die einfachste Möglichkeit herauszufinden, ob Snape ihn noch wollte oder nicht, war wohl, allen Mut zusammen zu nehmen und einfach am nächsten Morgen zu ihm zu gehen, doch Harry konnte diesen Mut nicht aufbringen. Der Mann hatte drei Tage nur geschlafen und trotzdem hatte er es geschafft, ihm in den drei Tagen so nahe zu kommen, daß Harry sich sicher war, eine Ablehnung durch Severus nicht verkraften zu können.
Er rannte davon!
Wieder einmal.
Und dieses Mal brauchte er nicht einmal Severus' harte Worte, um das zu erkennen oder sich dafür schlecht zu fühlen. Diesmal begriff er es ganz allein und das Gefühl war noch schlechter.
Aber was sollte er gegen diese Angst machen? Gab es dagegen überhaupt ein Mittel? Harry war sich nicht sicher, ob man Mut lernen konnte. Und wenn es so war, dann konnte er darauf hoffen, möglichst bald einen guten Lehrer zu finden, bevor es zu spät war.
Mit einem geschlagenen Seufzen drehte Harry sich auf die Seite und schob seinen Ellbogen unter sein Kopfkissen.
Hermine! war sein letzter Gedanke, bevor der Schlaf sich endlich erbarmte und ihn aufnahm.
„Sieht soweit alles ganz gut aus, Severus. Die inneren Verletzungen heilen gut, die Kopfverletzungen sind gänzlich verheilt, Schnitt- und Schürfwunden alle Vergangenheit und ich denke, daß wir auch mit ruhigen Gewissen sagen können, daß deine Erschöpfung deutlich nachgelassen hat." Bei diesen Worten warf Poppy ihrem Patienten einen scharfen Blick zu, den Severus nur mit einem leisen Knurren beantwortete. Seit er an diesem Morgen aufgewacht war, waren er und die Medihexe ständig aneinander geraten. Aber Severus haßte es nun einmal, von der Frau bemuttert zu werden. Er haßte es generell, bemuttert zu werden!
Sesha kicherte bei dem Austausch der beiden und warf Hermine, die neben ihr stand und eine Augenbraue skeptisch angehoben hatte, einen vielsagenden Blick zu. Hermine konnte sich zu gut vorstellen, was hier den ganzen Tag schon vor sich ging.
„Das einzige, was mir noch Sorgen macht, sind die Verletzungen an deinem Rückrat und deinen Beinen. Es ist nichts Ernstes, wenn überhaupt werden nur minimale Dauerschäden bleiben, aber ich fürchte, daß ich mit meinen Heilkräften am Ende bin." Severus warf Poppy einen düsteren Blick zu und hielt nur mit Mühe ein neuerliches Knurren zurück.
„Was heißt das im Klartext, Poppy?!" Poppy zuckte beim scharfen Klang der Stimme ein wenig zusammen, doch sie war alt genug, um sich von Severus nicht einschüchtern zu lassen. Sie hatte ihn schließlich schon als Schüler gekannt, was fiel dem Bengel überhaupt ein, auch nur eine Minute zu glauben, er könne sich über sie stellen?
„Das heißt, daß du in den nächsten Monaten wieder lernen mußt, deine Beine zu gebrauchen. Du hast sozusagen vergessen, wie man läuft, Severus. Aber es ist wie gesagt nichts Permanentes, ein paar Monate Geduld und tägliche Übungen und wir haben die Sache wieder im Griff." Zu Poppys Überraschung, erwiderte Severus darauf nichts, sondern nickte nur und starrte für einige Zeit starr an ihr vorbei an die Wand hinter ihr.
„Es gibt keinen anderen Weg?" Poppy schüttelte langsam dem Kopf, entspannte sich aber ein wenig, als sie sich langsam sicherer wurde, daß Severus die Sache besser aufnahm als erwartet.
„Nein. Die Verletzungen habe ich geheilt, aber das Trauma müssen wir auf herkömmliche Methode behandeln." Hermine biß sich bei den Worten der Medihexe auf die Lippen und wandte so unauffällig wie möglich den Blick von Severus ab. Sie wollte nicht, daß er zufällig sah, wie sehr sie das traf. Es waren kindische Gedanken, die sie in diesem Moment trafen, aber sie konnte trotzdem nicht anders, das erste, was ihr bei Poppys Worten in den Sinn kam, war, daß sie den festen, fast gleitenden Gang Severus' vermissen würde und sie fragte sich, ob er wirklich jemals wieder vollkommen hergestellt sein würde.
Nicht daß sie sich in solchen Dingen auskannte.
„Wir kriegen das hin." Hörte Hermine Seshas Stimme und sah ihr abwesend dabei zu, wie sie an Severus' Seite zurückkehrte und liebevoll seine Hand in ihre nahm.
„Hätte doch noch viel schlimmer sein können und ich bin mir sicher, daß Severus einen Rekord aufstellen wird und viel schneller wieder ganz normal laufen kann als wir alle denken." Severus lächelte sie dankbar an, aber Hermine war sich sicher, daß sie auch ein wenig Hilflosigkeit und Angst in dem Blick sehen konnte und sie verstand, was in Severus vor ging. Gerade er, der sich so ungern auf andere verließ, war jetzt zum ersten Mal seit sehr langer Zeit auf Hilfe anderer angewiesen. Und er wußte es und haßte es.
Hermine seufzte kaum hörbar. Blieb nur zu hoffen, daß er sich nicht so lange gegen diese Hilfe wehren würde, wie gegen Hermines letztes Angebot, ihm zuzuhören und ihm eine Freundin zu sein.
„Ich werde einen Trainingsplan für dich entwerfen, Severus." Bevor Severus irgendwas erwidern konnte, hatte Poppy ihm den Rücken zugewandt und war in Richtung ihres Büros verschwunden. Hermine nahm an, daß sie ihr Glück nicht herausfordern wollte und wenn sie sich Severus' Gesicht bei der Aussicht auf einen ‚Trainingsplan' betrachtete, dann hatte sie wohl eine kluge Entscheidung getroffen.
„Kann ich irgendwas für dich tun, Severus?" Severus nickte und blickte Sesha bittend in die Augen.
„Könntest du mir vielleicht ein paar meiner Bücher aus dem Kerker holen? Irgendwas, mit dem ich mich von dem allen hier ablenken kann." Er ließ einen angewiderten Blick über den sterilen Raum gleiten.
„Sicher. Ich bin gleich wieder da." Offensichtlich bestrebt, so schnell wie möglich wieder bei ihm zu sein, eilte Sesha aus der Krankenstation und ließ Hermine mit Severus allein.
„Wie geht es dir wirklich?" fragte Hermine, kaum daß sich die Tür hinter Sesha geschlossen hatte und ging hinüber zu dem Stuhl, der noch immer an seinem Bett stand.
„Mäßig bis mies würde ich sagen." Entgegnete er, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, seine wahren Gefühle aus seiner Stimme oder seinen Augen zu vertreiben. Hermine sah die Angst, die er vor seiner Hilflosigkeit hatte und die Verzweiflung, mit der er sich dagegen wehrte, Poppys Worte anzunehmen.
„Wir helfen dir, Severus. Du bist nicht allein und diese Aufgabe ist machbar." Severus nickte, doch er war noch immer nicht wirklich überzeugt. Wie sollte er auch? Der ewige Skeptiker.
„Hast du Harry heute schon gesehen?" Hermine blickte überrascht auf und Severus schaffte es sogar, ein wenig über ihre Überraschung zu lächeln.
„Nein, er war nicht beim Frühstück. Ich denke, er hat heute sehr lange geschlafen. – Die letzten Tage waren sehr anstrengend für ihn." Severus hob fragend eine Augenbraue an.
„Er war hier und hat dich nicht aus den Augen gelassen, bis Poppy Sesha erlaubt hat, das Bett wieder zu verlassen." Obwohl Severus so etwas schon geahnt hatte, war er doch überrascht. Er hatte geglaubt, daß Harrys Stimme nur in seinen Träumen gewesen war, doch wenn stimmte, was Hermine sagte, dann war alles, was er im Schlaf gehört hatte, wohl wirklich ausgesprochen worden. Er erinnerte sich nur noch bruchstückhaft daran, was Harry gesagt hatte, aber er wußte noch ziemlich genau, daß sein Sohn in den drei Tagen durchaus verschiedene Stimmungslagen durchgemacht hatte.
Aber wo war er jetzt? Warum war er nicht hier?
Severus ballte die Hand zur Faust, um seine Gefühle zu beruhigen. Genau das hatte er niemals gewollt. Seine Gefühle wollten die Kontrolle über ihn erlangen und das war nicht gut. Aber er wollte Harry unbedingt sehen, wollte ihm so viel sagen. Jetzt, wo er einen Großteil der Geschichte kannte, sollte er auch alles andere erfahren. Das was Hermine ihm nicht hatte erzählen können. All seine Gefühle, seine geheimen Gedanken.
Aber vermutlich wollte Harry es nicht hören. Er war vermutlich verletzt und wütend und hatte nicht die geringste Lust, seinen Vater, den ehemaligen Todesser, das Ekel, den unfairen, schmierigen Zaubertrankmeister, kennen zu lernen. Wer würde das auch schon noch wollen, nachdem er von ihm über viele Jahre so behandelt worden war?
Severus hätte einiges darum gegeben, wenn er Harry nicht so haargenau hätte verstehen können. Er wünschte sich nichts mehr, als sich einfach dafür bemitleiden zu können, daß Harry ihn ablehnte, doch so wie es jetzt war, machte er sich nur Vorwürfe und es war kein Platz da für Selbstmitleid.
„Ich denke, er wird bald wieder bei dir sein." Setzte Hermine nach. Scheinbar hatte sie seinen inneren Kampf nicht nur beobachtet, sondern auch mal wieder sofort richtig verstanden. Severus warf ihr einen wenig überzeugten, fast schon schmerzhaft verzweifelten Blick zu. Einen Blick, der für Severus Snape so ungewöhnlich war, daß er vermutlich jeden für Minuten geschockt hätte. Aber nicht Hermine. Hermine hatte in den letzten Monaten viele solcher unerwarteten Blicke, Reaktionen, Ausbrüche bei ihm gesehen und Severus war nicht in der Lage, angemessen auszudrücken, wie froh er darüber war.
Der Tag, an dem Hermine beschlossen hatte, daß er sie brauchte, war vermutlich der beste Tag seines Lebens gewesen. Hermine lächelte und mit einer schnellen Bewegung war sie von ihrem Stuhl auf sein Bett gewechselt und schloß ihn tröstend in die Arme.
„Keine Angst, Severus. Harry ist ein sturer Hund, ganz der Vater. Aber früher oder später kommt er immer zur Vernunft. Selbst wenn er also nicht gleich zu dir kommt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er es tut.
Ihr beide braucht euch, das war von Anfang an klar. Und keiner von euch wird auf Dauer in der Lage sein, den anderen zu verleugnen." Severus nickte zaghaft. Oh, wie er es haßte, zaghaft zu sein! Er haßte es fast noch mehr als seine Unsicherheit. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte es keine Unsicherheit bei ihm gegeben. Damals war er noch der gefürchtete Zaubertrankmeister von Hogwarts gewesen, dem kein Schüler und kein Kollege widersprach, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte, sobald der Feierabend eingeläutet war, der abends alleine in seinen Räumen saß und in Ruhe über die Welt und all das Übel in ihr brüten konnte.
Jetzt gab es nur noch den zahmen Snape und keiner konnte ihm einreden, daß dieser zahme Snape nicht absolut erbärmlich war. Zumindest fühlte er sich so erbärmlich, daß es nicht mehr zu toppen war.
„Du machst dir einfach zu viele unnötige Gedanken, Severus." Mit einer beiläufigen Bewegung strich sie ihm durchs Haar und drückte ihn noch einmal ein wenig fester an sich, bevor sie aufstand und ihre Kleider glatt strich.
„Ich werde dich erst mal wieder mit Sesha alleine lassen." Wie auf Kommando betrat Sesha die Krankenstation in diesem Moment. Auf ihrem Arm trug sie einen beeindruckend hohen Stapel Bücher. Severus konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen.
„Weißt du, mein Schatz, ich kriege irgendwie gerade den Eindruck, daß ihr mir entweder etwas verschwiegen habt und ich länger hier bleiben muß, als ich dachte oder du meine Lesegeschwindigkeit gnadenlos überschätzt." Auch Hermine konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als sie sich an Sesha vorbei schob, um sich als nächstes um Harry zu kümmern.
„Guten Morgen, Sonnenschein!" rief Hermine betont fröhlich und zog die Vorhänge in Harrys Schlafzimmer mit Schwung auseinander. Harry zog mit einem unwilligen Stöhnen seine Decke über den Kopf und zog die Beine an seinen Oberkörper heran.
„Harry, also wirklich. Es ist schon hellichter Nachmittag und du liegst noch immer im Bett!" tadelte Hermine ihn weiter und griff dann gnadenlos nach seiner Decke. Obwohl er sich verzweifelt dagegen wehrte, war Hermine die Stärkere und hatte kurze Zeit später die Decke in der Hand. Die kalte Dezemberluft kroch unangenehm an Harrys Körper heran und mit einem Blick der töten konnte, setzte er sich schließlich im Bett auf.
„Hermine, wer hat dich gebeten, mich zu wecken? Und was soll diese ekelhafte Fröhlichkeit?" Hermine lachte nur und riß – um die ganze Sache noch schlimmer zu machen – das große Flügelfenster des Schlafzimmers auf. Fast augenblicklich traf die eiskalte Luft Harry in seinem dünnen Pyjama und er begann heftig zu zittern.
Leise vor sich hin fluchend, sprang er aus dem Bett und griff nach seinem Umhang, der über dem Stuhl hing, der am nächsten an seinem Bett stand.
„Komm schon, Harry. Sei nicht so muffelig. So kenne ich dich ja gar nicht, du warst doch sonst immer ein Frühaufsteher!" Wieder traf sie der tötende Blick, als Harry nach seinen Hausschuhen angelte.
„Das bin ich auch, wenn ich nicht gerade drei Nächte so gut wie nicht geschlafen habe." Ein Schatten zog über Hermines Gesicht, aber sie schüttelte das negative Gefühl nur allzu leicht wieder ab. Der Tag war zu schön, um so negativ zu denken. Endlich mal wieder. Schließlich ging es Severus gut, alle waren in Sicherheit, keine Kämpfe mehr. Was konnte einem da noch so wirklich die Laune verderben?
„Severus wartet auf dich." Sagte sie in einem so selbstverständlichen Ton, als wäre es das normalste von der Welt. Harry zog ein wenig unwillig die Stirn kraus.
„Das ist schön für ihn." Entgegnete er so kalt, daß es sogar Hermine in all ihrer guten Laune kalt den Rücken hinunter lief.
„Ich fürchte, er wird weiter warten müssen." Hermine hielt in der Bewegung inne und stemmte augenblicklich die Hände in die Hüften. Harry verkniff sich das Lächeln, das sich auf sein Gesicht stehlen wollte. Diese Geste war früher so typisch Hermine gewesen... aber die Sache war zu ernst, da war kein Platz für nette Kindheitserinnerungen.
„Was soll denn der Blödsinn jetzt schon wieder, Harry?" Harry entging der leicht ungeduldige Unterton nicht. In letzter Zeit trieb er es mit Hermines Geduld wohl arg auf die Spitze. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß sie schon einmal so oft hintereinander in so kurzer Zeit die Geduld mit ihm verloren hatte.
„Das soll heißen, daß ich nicht springe, wie er das will, nur weil er jetzt plötzlich mein Vater ist." Hermine zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann begann sie damit, die im ganzen Zimmer verstreuten Kleider aufzusammeln.
„Du bist so was von albern, Harry." Der fast schon lockere Plauderton ihrer Stimme überraschte Harry sehr.
„Erst hast du Angst, daß er dich wegstoßen könnte und deine Fragen nicht beantwortet und dann bist du derjenige, der ihn von sich stößt. Das ist doch der totale Irrsinn.
Harry, er will dich sehen und mit dir reden. Er möchte, daß du bei ihm bist. Brauchst du erst eine schriftliche Einladung, um zu begreifen, daß das deine Chance ist?" Harry schluckte und blickte unter sich. Die trotzige, kleine Stimme in seinem Hinterkopf sagte immer wieder, daß es keinen Grund für ihn gab, sich schuldig zu fühlen, weil er sich so verhielt, aber das Gefühl war dennoch da. Hermine war schon immer stärker gewesen als sein kleiner Mann im Ohr.
„Und was ist, wenn ich mich entschieden habe, daß mich nicht interessiert, was er zu sagen hat? Er ist wieder wach, jetzt können er und Sesha glücklich werden. Das ist schön, aber ich möchte nichts weiter mit ihm zu tun haben." Hermine lächelte geheimnisvoll und beförderte die aufgesammelten Kleider in einen großen Weidenkorb in der Ecke des Schlafzimmers.
„Dann, mein lieber Harry, würde ich dir sagen, daß du der fürchterlichste Schauspieler auf der ganzen Welt bist und ich dir kein Wort glaube." Harry preßte die Lippen aufeinander. Hermine zur Freundin zu haben war oftmals ein Segen, aber manchmal war es auch schlicht ein Fluch. Jetzt gerade war definitiv manchmal.
„Ich weiß gar nicht, was euch beide immer wieder dazu bewegt, euch so absolut idiotisch zu verhalten. Du hast Angst, daß er dich wegstoßen könnte, er hat Angst, daß du ihn nicht willst. Fällt dir da was auf? Doch anstatt die Gelegenheit zu ergreifen, willst du mal wieder den Weg des geringsten Widerstands gehen.
Harry, er wird dir nicht den Kopf abreißen, wovor hast du also Angst?" Eine Weile starrte Harry seine beste Freundin schweigend an. In seinen grünen Augen blitzte Ärger, aber auch Angst auf und Hermine wußte, daß sie ihn längst so weit hatte, daß er sich ihr endlich öffnen würde. Das war durchaus zufriedenstellend.
Seufzend fuhr Harry sich durch die vom Schlaf extrem wirren Haare und ließ sich dann mit einer wenig eleganten Bewegung auf sein Bett plumpsen.
„Das ist, als würde man einen Feuerblitz gegen einen Sauberwisch tauschen." Hermine schnaubte bei dem wenig schmeichelnden Vergleich, unterbrach ihren Freund aber nicht.
„James Potter war der perfekte Vater. Glänzender Schüler, bei allen beliebt, erfolgreich im Quidditch, ein Haufen toller Freunde. Ein liebender Partner, grandioser Ehemann, glücklicher, stolzer Vater. – Ich kann es immer noch nicht fassen, daß das alles nur eine Illusion sein soll. Daß ich in Wahrheit gar nicht der Sohn von diesem perfekten Beispielgryffindor bin. – Ich möchte es aber sein." Hermine setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern. Harry lehnte seinen Kopf an ihre Schulter und ließ es zu, daß sie ihm durch das wirre Haar fuhr. Das war etwas, was Hermine immer machte, wenn sie ihn trösten wollte. Die Geste hatte etwas so Mütterliches und vermutlich liebte Harry sie deswegen so sehr. Er schloß die Augen.
„Das ist alles nur ein Trugbild, Harry. Das ist das, was die Freunde von deinem Vater und die Lehrer hier an der Schule noch von ihm wissen. James Potter mag akzeptierter und integrierter gewesen sein als Severus, aber er war mit Sicherheit nicht perfekt. Perfekt ist nicht echt.
Für dich sollte nur wichtig sein, daß deine Mutter – die dich sehr geliebt hat, das darfst du nie vergessen – nun einmal alles ein wenig anders gesehen hat. Für sie war Severus all das, was die Leute in James gesehen haben – na ja, vielleicht mal abgesehen von Quidditch und den Freunden." Harrys Schultern zuckten leicht, als er über ihre Worte lachte.
„Sie hat ihn so sehr geliebt, daß sie all die Lügen und das ganze Versteckspiel auf sich genommen hat.
Und auch wenn ich deine Mutter nicht gekannt habe, glaube ich nicht, daß sie wirklich dumm genug gewesen sein könnte, die falsche Entscheidung zu treffen. Severus hat damals falsch gehandelt, als er entschieden hat, daß du bei den Muggeln aufwachsen sollst, aber er ist deshalb ganz sicher kein schlechter Vater und du solltest ihm eine Chance geben.
Ihn als wertloser zu betrachten, nur weil ihn die perfekte Aura eines James Potter nicht umgibt, das ist nicht fair, Harry. Und ich kenne dich zu gut, um nicht zu wissen, daß du so etwas niemals tun würdest. Gerade du weißt doch, daß man nicht nach Ruhm und äußeren Dingen urteilen sollte." Harry drehte den Kopf ein wenig, um Hermine ansehen zu können. Die Wut war aus seinen Augen verschwunden, aber die Angst war noch immer da.
„Ich habe schon viel von Snape gesehen. Ich kenne längst nicht mehr nur seine äußere Hülle. – Und was ich gesehen habe, macht mir Angst. Ich habe wirklich Angst vor seiner Kälte. Ich weiß, daß es lächerlich ist, aber es ist so." Hermine nickte stumm und zog Harry ein wenig enger an sich. Dann erwiderte sie seinen Blick.
„Ich habe etwas ganz ähnliches gedacht, als ich begonnen habe, hier mit ihm zusammen zu arbeiten. Aber ich habe inzwischen herausgefunden, daß ich falsch lag. Du kennst nichts von seinem Inneren, Harry. Er hat es zu gut versteckt, kein Mensch, der es nicht sehen soll, kann es sehen.
Darum solltest du die Gelegenheit annehmen, die er dir bietet. Du wirst überrascht sein, was du siehst." Harry schlang seine Arme um Hermine Taille und vergrub sein Gesicht für einen Moment in ihrem Umhang. Auch das war etwas, was er oft tat, wenn es ihm nicht gut ging und er mit ihr darüber redete und Hermine wußte, daß es ihn beruhigte. Als er schließlich wieder aufblickte, war auch die Angst zum größten Teil verschwunden.
„Gut, aber nicht sofort." Hermine lächelte.
„Ich brauche noch ein bißchen Zeit, aber ich werde mit ihm über die ganze Sache reden, Hermine. – Du gibst ja vorher doch keine Ruhe." Er zwinkerte ihr zu und Hermine schlug ihm leicht gegen den Hinterkopf.
„Du frecher Kerl!" lachte sie und es fühlte sich unendlich gut an, endlich wieder halbwegs vernünftig mit Harry reden zu können, ohne sich noch länger wegen jeder Kleinigkeit mit ihm zu streiten. Vielleicht war ja jetzt endlich alles auf dem richtigen Weg. Zeit wurde es allemal.
Mit einem Mal wurde Hermine wieder ernst und Harry ahnte schon, daß es noch etwas Unangenehmes gab.
„Spuck es aus, Hermine." Hermine legte sich die Worte in ihrem Kopf sorgsam zurecht. Sie wollte es nicht zu schlimm klingen lassen, aber gleichzeitig schlimm genug, daß Harry nicht zu lange warten würde, zu Severus zu gehen.
„Poppy hat Severus eben untersucht. Er ist soweit wieder gesund, bis auf seine Beine." Harry löste sich von ihr und brachte einige Zentimeter Abstand zwischen sich und Hermine.
„Was bedeutet das?" fragte er und Hermine registrierte mehr als zufrieden die deutlich hörbare Sorge in Harrys Stimme.
„Wie es aussieht, hat er ein Wirbelsäulentrauma. Er kann im Moment nicht laufen und Poppy sagt, daß sie es mit Magie nicht wieder hin bekommt. Er muß noch einmal ganz neu laufen lernen. – Aber laut Poppy hat er wahrscheinlich nicht mit Folgeschäden zu rechnen!" setzte sie schnell nach, hoch zufrieden mit dem Ergebnis, das auf Harrys Gesicht deutlich ablesbar war.
„Das ist nicht gut." War alles, was Harry hervorbrachte und Hermine nickte bestätigend.
„Das trifft es in etwa. Severus wird viel Hilfe und Unterstützung brauchen. Es wäre schön, wenn er da auf dich zählen könnte, Harry."
Mit einer letzten Umarmung stand Hermine schließlich auf und verließ Harrys Räume. Es schien ihr der perfekte Moment zu sein, um ihre Worte in der gewünschten Weise sinken zu lassen. Und darüber hinaus war es auch endlich mal an der Zeit, daß sie auch mal wieder an sich selbst dachte.
Mit einem leichten, verträumten Lächeln auf den Lippen schlenderte sie hinunter in die Laborräume.
Severus warf im Schlaf unruhig den Kopf hin und her, seine Augen bewegten sich hektisch unter den geschlossenen Lidern und hin und wieder hörte man, wie sich seiner Kehle ein gequälter Laut entrang.
Alpträume waren schon seit vielen, sehr vielen, Jahren nichts ungewöhnliches mehr für den Zaubertrankmeister, aber selten war in der letzten Zeit einer dieser Träume so intensiv und so erschreckend gewesen.
Mit einem erstickten Schrei fuhr Severus auf. Einen Moment blickte er sich verwirrt um, bis er sich erinnerte, daß er nicht in seinem eigenen Bett lag, sondern auf der Krankenstation war. Mit einem entnervten Seufzen strich er sich die schweißnassen, schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht, sein wild schlagendes Herz hämmerte noch immer in einer rasenden Geschwindigkeit gegen seinen Brustkorb.
Es ging schon wieder los. Severus hatte es schon immer gewußt, die Alpträume würden in seinem Leben niemals ein Ende haben.
Doch etwas war dieses mal anders. Er hatte zum ersten Mal nicht von Tod oder Zerstörung geträumt, sich nicht an seine Taten erinnert, die ihn sein halbes Leben schon verfolgten. Diesmal war es rein um Harry gegangen.
Und trotzdem war dieser Alptraum wohl mit der schlimmste, den Severus jemals erlebt hatte.
Harry hatte ihn verlassen. Ihn zum Teufel gewünscht. Harry hatte ihn gehaßt.
Mit einem weiteren gequälten Seufzen ließ Severus sich zurück in sein Kissen sinken und starrte an die hohe Decke der Krankenstation. Seine schwarzen Augen glitzerten verräterisch im schwachen Licht des Mondes, das von draußen durch die hohen Fenster fiel.
Aber es war ja auch so. Harry war den ganzen Tag nicht da gewesen und auch wenn Severus das wohl nicht einmal vor Hermine zugegeben hätte, er hatte den ganzen Tag auf ihn gewartet. Er hoffte sogar jetzt noch, daß einfach die Tür aufgehen und Harry hereinkommen würde.
Doch die Tür blieb geschlossen und Severus' Hoffnung sank von Minute zu Minute.
Warum hatte er überhaupt noch Hoffnung! Oder besser, warum hatte er sie wieder? Er hatte doch schon vor vielen Jahren beschlossen, daß er nicht mehr hoffen würde.
Wer nicht hoffte, der wurde auch nicht enttäuscht.
Zu spät.
Severus wollte sich auf die Seite drehen, doch seine Beine, die schwer und unnütz an seinem Körper hingen, wollten die Bewegung nicht mitmachen. Severus verengte seine Augen zu wütenden Schlitzen und fluchte innerlich.
Oh ja, das war wirklich alles, was er sich gewünscht hatte! Sogar noch viel mehr als das! Jetzt war er nicht mehr länger nur der verhaßteste Lehrer dieser Schule, sondern auch noch ein Klotz am Bein für jeden, der sich entschied, etwas mit ihm zu tun haben zu wollen. Wunderbar!
Mit einem noch wütenderen Blick fixierte er die Krücken, die neben seinem Bett an die Wand gelehnt standen. Morgen wollte Poppy ihm Beinschienen anpassen und dann würde der Spaß erst so richtig beginnen. Aber gut, für seine Schüler hatte es sicher etwas Amüsantes an sich, ihren Zaubertranklehrer durch die Gänge humpeln zu sehen.
Severus riß seinen Blick von den Krücken los.HaHHHHHHaöslkdfHJHHHHH Wozu war Zauberei gut, wenn man im Endeffekt doch genauso hilflos war wie ein Muggel? Und hilflos war er. Und er hatte Angst. Er war nicht allein und würde in dieser Sache Hilfe haben, ja, aber trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, daß er hilflos war. Und er wollte mal wieder das Unmögliche. Harry an seiner Seite.
Am nächsten Morgen war Harry sehr früh wach. Das Gespräch mit Hermine und ihr kurzer Bericht über Severus' Zustand hatten ihn die meiste Zeit über wach gehalten und wenn er es doch mal geschafft hatte, an etwas anderes zu denken, dann war das andere Cho gewesen. Der Gedanke war auf keinen Fall viel angenehmer, denn obwohl sie jetzt da war und auch ihre gemeinsame Tochter mitgebracht hatte, konnte auch Harry nicht verdrängen, daß sie noch etwas zu klären hatten.
Mit gemischten Gefühlen stand Harry auf und zog sich an. Durch das offene Fenster kam die eisig kalte Dezemberluft herein, doch heute war es etwas, was Harry sehr willkommen war. Die kalte Luft machte seine Gedanken klar und beruhigte ihn gleichzeitig ein wenig.
Vielleicht sollte er mal wieder einfach seinen Besen schnappen und ein paar Runden über das Feld drehen. Das war immer eine gute Methode, in Ruhe nachzudenken.
Eine gute Methode, um noch ein paar Stunden länger wegzulaufen. Harry zuckte bei dem Gedanken zusammen. Ob das wohl war, was Snape dazu sagen würde?
Er war so wütend gewesen an Halloween. So wütend, weil Harry nicht in der Lage gewesen war, seine Familie zusammen zu halten. Damals hatte Harry seine Wut nicht verstanden, aber jetzt wußte er, wovon Snape gesprochen hatte.
„Für mich klang der Brief nicht so, als hätte die junge Dame Sie damals endgültig verlassen und wenn Sie ehrlich mit sich selbst sind, dann werden Sie zugeben, daß Sie nicht einmal um sie gekämpft haben, nicht wahr?
Aber wie soll man ausgerechnet von Ihnen erwarten, daß Sie um so etwas Simples kämpfen. Doch nicht Harry Potter, dem alles in den Schoß fällt.
Ich hätte alles darum gegeben, wenn ich nur die geringste Chance gehabt hätte, meine Familie zu retten.
Sie widern mich an!"Harry hielt abrupt in seiner Bewegung inne. Die Worte hallten mit einer überdeutlichen Grausamkeit in seinem Kopf wider und er erinnerte sich nur zu gut an die Kälte, die er gefühlt hatte und wie klein und schlecht er sich vorgekommen war.
Aber jetzt war das Gefühl ein anderes. Er fühlte, wie diese Worte ihm plötzlich Hoffnung machten, denn vielleicht waren sie ja ein Zeichen gewesen. Vielleicht war Snape ja immer noch bereit, für seine Familie zu kämpfen.
Harry haßte diese widersprüchlichen Gefühle in sich, aber er hatte nicht einmal eine winzige Ahnung, wie er dagegen angehen sollte. Hoffnung und Angst waren beide so stark, daß er sich nicht entscheiden konnte, auf was er hören wollte.
Als er das Schloß verließ, schlug ihm die Morgenluft noch kälter entgegen als vor wenigen Minuten an seinem Fenster und prickelte auf den wenigen Zentimetern Haut, die nicht von Kleidung bedeckt waren. Harry atmete tief durch. Es roch noch immer nach Schnee, wenn auch noch kein Krümel gefallen war.
Das Quidditchfeld war wie erwartet zu dieser frühen Stunde noch verlassen. Außerdem würde keine der Hausmannschaften einen Tag vor der Abreise in die Weihnachtsferien noch trainieren – nicht seitdem Oliver nicht mehr Kapitän der Gryffindors war.
Ein wenig nachdenklich betrachtete er seinen alten Feuerblitz und lächelte. Natürlich hatte er längst eine ganze Kollektion von wesentlich besseren Besen, als professioneller Spieler hatten die einzelnen Hersteller sich im praktisch aufgedrängt, ihm stets das neueste, schnellste, beste Modell schenken zu dürfen, aber wenn er privat flog, tat er es noch immer auf dem Feuerblitz. Der Feuerblitz war das erste Geschenk eines Familienmitglieds an ihn gewesen, das mit Liebe geschenkt worden war, nachdem seine Eltern gestorben waren und das hatte zur Folge, daß nicht nur Sirius einen besonderen Platz in seinem Herzen hatte, sondern auch der Besen.
Sentimentalitäten, aber sie waren gut fürs Herz. Und wo er gerade bei Herz war, war er auch schon wieder bei Familie angelangt. Harry hatte das Gefühl, daß er im Kreis ging, egal in welche Richtung er seine Gedanken auch zu lenken versuchte.
Mit einem Seufzen schwang er sich auf den Besen und stieß sich vom Boden ab.
„Sag es, wenn sie zu fest anliegen." Severus hob ungeduldig eine Augenbraue und starrte Poppy an. Wieviel mal hatte diese Nervensäge das jetzt schon gesagt, seit sie sich mit diesen verfluchten Schienen abmühte? Er war schließlich nicht dämlich und wußte, was sie mit seiner Durchblutung anstellen konnten, wenn sie zu eng saßen!
Poppy ihrerseits starrte zurück. Sie haßte es, wenn Snape ihr Patient war. Er war immer so unnahbar und er weigerte sich stets, irgendeine Reaktion auf ihre Behandlung zu zeigen, sobald er auch nur ein Minimum an Gewalt über seine Reaktionen zurück erlangt hatte. Das war zu seiner Zeit als Spion so gewesen und hatte sich all die Jahre gehalten.
Doch sie war nun einmal darauf angewiesen, in ihren Patienten lesen zu können! Daß der sture Kerl das aber auch nie verstand! Es war doch zum Verzweifeln.
„Poppy, sie sind nicht zu fest. Ich weiß durchaus, meine Stimmbänder zu gebrauchen, wenn es nötig ist!" knurrte er und hielt ihren Blick furchtlos fest. Er wußte, wie sehr sie es haßte, wenn er in ihrem Reich der Überlegene sein wollte. So war es schon immer gewesen. Als er noch ein Kind gewesen war, war sie fasziniert von seinem Wissen gewesen, aber sobald sie bemerkt hatte, daß der erwachsene Snape in der Zusammenarbeit mit ihr seinen eigenen Kopf hatte, hatte dieser – ja, man konnte es Wettstreit nennen – zwischen ihnen beiden begonnen.
Es war nicht so, daß sie nicht miteinander zurecht kamen, aber zwischen ihnen beiden bestand durchaus eine Art Konkurrenz. Eine gesunde Konkurrenz, die ihre Beziehung stets angenehm belebte, es sei denn, Severus war ihr Patient und mußte sich unterlegen zeigen, wie im Moment.
Dann geriet das Gleichgewicht für beide durcheinander und sie neigten dazu, sich in diesen Momenten in eben dieser gerade demonstrierten Weise anzuknurren beziehungsweise nieder zu starren. Es war auf die Dauer entnervend, denn mal abgesehen von Dumbledore war Poppy Pomfrey wohl die einzige Person im ganzen Schloß, die niemals vor ihm zurück wich.
Er hörte, wie die Medihexe etwas von einem unbelehrbaren Sturkopf vor sich hin murmelte, entschloß sich aber, nicht weiter darauf zu reagieren. – Jedenfalls nicht so lange Hermine und Sesha im selben Raum waren und sich diese Blicke zuwarfen und angrinsten.
Immer noch mehr als leicht verstimmt betrachtete er die Metallkonstrukte an seinen Beinen. Das war mittelalterlich, egal wie man es drehte und wendete. Hatte Voldemort es ganz zum Schluß doch noch geschafft? Die einzige Genugtuung für Severus war, daß er eigenhändig die Seele des schwarzen Magiers zerstört hatte. Sollte es also wirklich eine Welt nach dieser geben, dann war Voldemort mit Sicherheit nicht dort.
Severus schnaubte verächtlich. Was für ein Blödsinn! Natürlich gab es diese Welt nicht! Diese Sentimentalitäten mußten dringend ein Ende haben, das stand fest.
„Okay, Severus. Dann wollen wir mal sehen, wie du mit den Krücken zurecht kommst. – Ich muß dich warnen, es wird am Anfang sehr schwierig und anstrengend für dich sein, vor allem, weil du noch nicht wieder voll bei Kräften bist. Sei nur einmal in deinem Leben geduldig, ja?" Wieder war Severus kurz davor, der Medihexe den Hals umzudrehen, aber wieder hielt ihn Seshas Blick ab, wenn er auch diesmal an ihn, und nicht an Hermine, gerichtet war und auch mehr bittend als belustigt. Severus nickte stumm, mit einem verbissenen, entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht und nahm die Krücken entgegen, die Poppy ihm hin hielt.
Es war schwieriger, als er vermutet hatte, als er sich langsam auf die Beine hievte. Zaubertränke zu brauen war auch nicht gerade eine Beschäftigung, die einem eine übermäßig stark ausgeprägte Oberkörpermuskulatur bescherte, wenn man es genau betrachtete. Schon nach wenigen mühsamen Schritten, brach ihm der Schweiß aus und er mußte sich frustriert eingestehen, daß er bereits am Ende seiner Kräfte angekommen war. Seine Arme schmerzten unter der Last seines eigenen Gewichts und sein Herz schlug vor Anstrengung so schnell, daß Poppy ihn vermutlich so schnell wie möglich zurück ins Bett gesteckt hätte, wenn sie eine Möglichkeit gehabt hätte, seinen Puls zu messen.
Er entschied sich für die elegantere Methode und zwang seine letzten Kraftreserven, sich zu mobilisieren, damit er wenigstens alleine zurück zum Bett gehen konnte.
Die nächsten Monate würden heiter werden, da war er sich sicher.
Hermine ließ Severus nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen, als er seine ersten Schritte auf den Krücken machte und sie sah jede noch so kleine Emotion auf seinem Gesicht. Besonders aber die Frustration darüber, daß Poppy recht hatte und zweifellos sah er es als Versagen seinerseits an.
Es war schon fast Zeit für das Mittagessen in der Großen Halle, als Harry endlich vom Quidditchfeld zurück kam. Er hatte vollkommen die Zeit vergessen, aber zu seinem Glück hatte er an diesem Morgen keinen Unterricht gehabt. So hatte er wenigstens nicht zu aller Peinlichkeit auch noch gefehlt, ohne daß eine Menschenseele im Schloß wußte, wo er eigentlich war.
Zu seiner Überraschung nahm Cho ihr Mittagessen ebenfalls in der Großen Halle ein. Manami lag in einem Tragekorb neben ihr auf der Sitzbank. Harry runzelte besorgt die Stirn, entspannte sich aber sofort wieder. Cho hatte den Korb garantiert mit einem Ruhezauber versehen, damit Manami in ihrem Schlaf nicht gestört wurde.
Er mußte über diese sehr väterliche Reaktion lächeln. Immerhin diese Rolle schien er ganz automatisch und selbstverständlich einzunehmen, das war ja schon mal gut.
Cho lächelte ihm zu und mit ein bißchen mehr Selbstbewußtsein als zuvor ging er auf ihren Platz zu.
„Können wir heute nach meinen Nachmittagsstunden reden?" Nach kurzem Zögern nickte Cho. Auch sie schien sich etwas unwohl zu fühlen, wenn sie an das ausstehende, aber mehr als notwendige Gespräch dachte. Immerhin, daß er nicht der einzige war, machte es irgendwie ein wenig leichter.
„Ich muß sagen, daß mich das doch ein wenig überrascht, Harry. Ich meine, ich habe nichts dagegen, daß du wieder Quidditch spielst. Es..." Cho zögerte und fixierte die Spitzen ihrer schwarzen Schuhe. „ich hatte nur Angst um dich, weil Voldemort jeder Zeit hätte zuschlagen können." Harry lächelte sie warm an und nippte an seinem Weinglas. Das Gespräch verlief entspannter, als er angenommen hatte, vor allem, weil Cho keinerlei Einwände dagegen gehabt hatte, daß sie aus dem Gespräch einen gemütlichen Abend in seinen Räumen machten.
Entspannt lehnte er sich in seinem bequemen Sessel zurück.
„Das ändert nichts an meiner Entscheidung, Cho. Ich habe zwar eine Weile gebraucht, aber ich habe verstanden, was du mir damals sagen wolltest. Nicht mehr weiter Quidditch zu spielen hat ganz andere Ursachen.
Ich habe mich entschieden, daß ich etwas Sinnvolleres mit meinem Leben anfangen möchte. Ich kann nicht ewig Quidditch spielen und die Aussicht, so zu enden wie Ludo Bagmann ist nicht gerade eine der großartigsten, wenn ich ehrlich sein soll." Cho nickte nachdenklich und fixierte ihn mit ihren warmen, schwarzen Augen. Wie so oft hatte er das Gefühl, daß ihr Blick geradewegs durch seine Haut in seinen Körper und seine Seele eindrang und sein Innerstes untersuchte.
„Was willst du statt dessen machen?" Nun, das war definitiv die Frage des Tages.
„Das Ministerium?" Harry schüttelte vehement den Kopf und er war sich fast sicher, daß man die Abscheu auf seinem Gesicht allzu leicht erkennen konnte.
„Ganz sicher nicht. Das Ministerium ist der letzte Ort, an dem ich dauerhaft sein möchte. Allein schon der Gedanke, daß ich für Fudge arbeiten müßte..." Bei dem Gedanken lief es Harry tatsächlich kalt den Rücken hinunter.
„Du hast also noch keine Ahnung, was du machen möchtest?" Tja, da mußte Harry sich wohl oder übel geschlagen geben. Sie hatte direkt den Nerv der Sache getroffen.
„Nein, nicht wirklich. – Ich werde bis zum Ende des Schuljahres hier bleiben. Dumbledore möchte meinen Kurs mindestens bis zu den Osterferien noch weiterführen, obwohl von Voldemort definitiv keine Gefahr mehr droht. – Er hat aber wohl trotzdem recht damit, wenn er sagt, ein bißchen mehr Wissen über die Verteidigung im Notfall kann nie schaden.
Ich dachte mir, daß das genug Zeit sein sollte, herauszufinden, was ich wirklich möchte."
„Okay. Ich hoffe, daß dabei etwas heraus kommt. Wenn du noch gar keine Vorstellung hast, wird das natürlich sehr schwierig werden." Selbst vier Jahre nach Hogwarts war Cho noch mehr Ravenclaw als alles andere. Sie schaffte es immer wieder, ihm mit wenigen Worten seine Illusionen zu nehmen und ihn auf den harten Boden der Realität zurück zu holen. Aber vermutlich war das gar nicht so schlecht. Es konnte nur von Vorteil sein, wenn jemand da war, der für ihn dachte, wenn er mal wieder mit dem Kopf durch die Wand wollte. Nun ja, sofern sie da sein würde natürlich.
„Und wir?" fragte Harry zaghaft und fing Chos ebenfalls eher unsicheren Blick auf. „Wie sieht unsere Zukunft aus? Gibt es da schon konkrete Pläne?" Cho unterbrach den Blickkontakt, um sich erst ein wenig zu sammeln, dann nickte sie und blickte wieder auf. Ihre Augen wirkten bestimmt und funkelten mit einer Vehemenz, die Harry selbst bei ihr selten gesehen hatte.
„Von meiner Seite schon. Harry, ich möchte uns eine zweite Chance geben." Nach einem kurzen Moment der totalen Überraschung legte sich ein breites Lächeln auf Harrys Lippen, doch bevor er sich zu sehr freuen konnte, hob Cho die Hand, um ihm anzudeuten, daß das noch nicht alles war, was sie zu dem Thema zu sagen hatte.
„Aber ich möchte, daß eines ganz klar ist. – Ich werde es nicht überstürzen. Ich möchte, daß du dir klar darüber wirst, was du für deine Zukunft willst. Und sobald du das weißt, wirst du diesen Weg auch konsequent gehen. Keine Spielereien mehr, einverstanden?
Ich werde nicht wieder in unsere Wohnung einziehen. Zumindest vorerst." Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht und seine Augen verfinsterten sich ein wenig.
„Du willst doch nicht etwa bei deinen Eltern blieben?" fragte er gepreßt und fühlte sich mit einem Mal so enttäuscht und niedergeschlagen, als hätte sie gerade die permanente Trennung von ihm verlangt.
„Nein. – Ich habe mit der Hausverwaltung gesprochen und ich werde in eine freie Wohnung zwei Stockwerke über unserer einziehen. Ich möchte zwar nichts überstürzen, aber ich möchte auch keine große Distanz zwischen uns bringen. Du darfst mich da nicht falsch verstehen, Harry. – Ich habe nur das Gefühl, daß wir, wenn wir sofort wieder zur Tagesordnung übergehen, ganz schnell wieder an dem Punkt angelangt sind, den wir letzten Mai erreicht haben. Und ich möchte ehrlich gesagt nicht, daß Manami darunter leidet.
Wir beide werden in deiner Nähe sein und ich hoffe, daß du mit mir übereinstimmst, daß wir so viel Zeit wie möglich gemeinsam verbringen.
Und sobald wir beide ganz genau wissen, was wir wirklich wollen und die Probleme aus der Welt geschafft sind, bin ich auch wieder bereit, mein gesamtes Leben mit dir zu teilen." Harry war sprachlos. Das war wohl die berühmte Rationalität, aber auch nicht ganz unerhebliche Gefühllosigkeit, mit der ein Ravenclaw an alle Probleme herantrat.
Das war definitiv das Gegenteil von dem, was er als perfekte Methode empfunden hätte, aber es war ein Weg oder? Immerhin ein Weg.
Und er hatte sich doch gerade heute morgen auf dem Quidditchfeld erst geschworen, daß er um seine Familie kämpfen wollte, genau wie Snape es getan hätte, wenn er von dieser Familie gewußt hätte.
Harry seufzte. Irgendwie waren solche heldenhaften Schwüre immer mit sehr bitteren Pillen verbunden. Aber in diesem speziellen Fall war er bereit, sie ohne sich zu beschweren zu nehmen.
„Einverstanden." Cho musterte ihn überrascht.
„Keine Bedingungen? Kein Aber und kein Wenn, Harry?" Harry verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln und hob die Schultern.
„Ich will dich zurück, also lautet die Parole: Wie du wünschst."
„Es freut mich, das zu hören, Harry." Harry und Cho blickten sich tief in die Augen und Harry wurde das unbestimmte Gefühl nicht los, daß es zwischen ihnen wieder knisterte, aber nicht auf die rauhe, unangenehme Weise wie in ihren letzten Wochen zusammen.
Nervös blickte er unter sich.
„Harry?" fragte Cho sanft und stand aus ihrem Sessel auf, um langsam auf ihn zuzugehen. Harry schluckte, blickte aber nicht auf.
„Was ist los?" Immer noch so sanft. Wie schafften Frauen es nur immer wieder, so schnell auf eine andere Stimmung umzuschalten? Es war gespenstig. Vorsichtig zuckte er mit den Schultern.
„Nichts, denke ich. – Ich bin ein bißchen überwältigt, weil ich nicht mehr wirklich daran geglaubt habe, daß das hier noch passieren würde." Cho ging vor ihm auf die Knie, um ihm in die Augen sehen zu können und obwohl er den Drang im ersten Moment verspürte, wandte er seinen Blick nicht ab.
„Du bist süß, wenn du überwältigt bist." Er erwiderte ihr Grinsen mit einen fast scheuen Lächeln und kam sich schrecklich albern vor, denn er hatte das Gefühl, daß hier gerade die Rollen vertauscht worden waren. Sollte nicht er eigentlich derjenige sein, der forsch auf sie zuging?
Und dann fühlte Harry plötzlich etwas, was er schon lange nicht mehr gefühlt hatte und sein letzter zusammenhängender Gedanke, bevor er Cho fast schon verzweifelt in seine Arme schloß und ihren Kuß erwiderte war: Zur Hölle damit!
Die Uhr auf seinem Nachttisch zeigte an, daß es bereits fast drei Uhr am Morgen war, doch Harry konnte nicht schlafen. Er war so aufgeregt und fühlte sich so voller Energie, wie schon seit Monaten nicht mehr.
So leise wie möglich, um Cho nicht zu wecken, die friedlich an seiner Seite schlief, stand Harry auf und zog sich noch einmal an. Er mußte sich ein wenig bewegen, sonst würde er noch wahnsinnig vor Glück und Energie werden, bevor es Morgen war. Vorsichtig drückte er die Schlafzimmertür einen Spalt weiter auf und schlich sich mindestens genauso leise durch sein Wohnzimmer, an dem Kinderbett vorbei, in dem Manami genauso friedlich schlief, wie ihre Mutter im Zimmer nebenan. Einen kurzen Moment blieb er neben dem Bettchen stehen und sah seine Tochter einfach nur an. Es war ein wunderbares Gefühl, selbst wenn er einfach nur so da stand und gar nichts machte, sie nicht einmal wach war. Und endlich durfte er ihr Vater sein, es konnte also nur noch besser werden.
Er hatte schon fast vergessen, wie es war, wenn man am liebsten Freudensprünge machen und die ganze Welt umarmen wollte. Allein der Gedanke an Severus war noch in der Lage, seine Stimmung minimal zu trüben, aber sicher nicht mehr in dem Maße, wie die vergangenen beiden Tage. Er fühlte sich fast schon wieder mutig genug, am nächsten Tag doch zu ihm zu gehen und ihm seine Fragen zu stellen.
Hoffnung war doch etwas wunderbares!
Ganz wie erwartet war Hogwarts wie ausgestorben. Nicht einmal die Geister oder Hausmeister Filch schienen zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch unterwegs zu sein.
Und das war wohl auch gut so, denn Harry brauchte keinen Spiegel, um sein dummes Grinsen praktisch sehen zu können. Er grinste von einem Ohr zum anderen und wahrscheinlich würde er jeden, dem er jetzt begegnete, damit sehr erschrecken. Schließlich war er die letzten beiden Monate die meiste Zeit mit Trauermiene rumgelaufen.
Harry achtete nicht darauf, wohin er eigentlich ging, sondern ließ sich von seinem Gefühl einfach in irgendeine Richtung leiten. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, daß er nur wenig später ganz in der Nähe der Krankenstation war. War das eventuell ein deutlicher Wink seines Gefühls?
Unwillkürlich hob Harry die Schultern. Und wenn es so war, jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gespräche, denn Harry hoffte doch sehr, daß Severus in seinem Bett lag und schlief. Madam Pomfrey würde ihn mit Sicherheit an seinem Bett festbinden, wenn es nicht so war und sie es herausfand.
Der Gedanke an diese Vorstellung ließ das Grinsen auf seinem Gesicht noch ein wenig breiter werden.
Ein lautes Poltern am anderen Ende des Ganges riß ihn aus seinen Gedanken und ließ seine volle Aufmerksamkeit in die Realität zurückschwenken. Ganz automatisch nahm er sofort eine defensive Haltung ein und fragte sich im selben Moment, ob das wohl eine Angewohnheit war, die er noch einmal loswerden konnte. Vermutlich nicht.
Ein bitteres Lächeln. Lebenslange Paranoia, an wen erinnerte ihn das jetzt wohl wieder?
Langsam ging er weiter den Flur hinunter und versuchte, dabei so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Doch was er am Ende des Ganges fand, überraschte ihn so sehr, daß er einen leisen Ausruf nicht unterdrücken konnte.
Auf dem Boden des Ganges, der nach rechts führte, saß Severus, schwer atmend und offensichtlich am Ende seiner Kräfte. Sofort sah Harry die Metallschienen an seinen Beinen und erkannte sie. Bei den Muggeln benutzte man sie bei Leuten, die nach einem Unfall oder einer Krankheit das Laufen neu lernen mußten, um die Beine stabil zu halten.
Schon wieder fühlte er den unangenehmen Stich, als er an Hermines Bericht dachte. Es war sogar noch schlimmer, diesen Mann so zu sehen, als er sich gedacht hatte.
„Ich glaube kaum, daß Poppy sehr erfreut wäre, wenn sie wüßte, daß d... Sie hier sind, Professor." Severus blickte auf und zog eine leichte Grimasse. Der übliche harte Blick, mit dem er Harry bedachte und das kleine, kalte Lächeln, das kein wirkliches Lächeln war, blieben diesmal jedoch aus.
„Zum Teufel mit Poppy!" knurrte der Zaubertranklehrer. Harry konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Alte Liebe rostet nicht." Bemerkte er und biß sich im nächsten Moment auf die Lippen. Das war definitiv kein Kommentar in einer Konversation mit Snape! Doch zu seiner Überraschung lächelte der andere Mann und diesmal erreichte das Lächeln sogar die tiefen, schwarzen Augen.
„Wo bist du die letzten zwei Tage gewesen, Harry?" Harry hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, mitten in der Nacht ein scheinbar wirklich halbwegs normales Gespräch mit Snape führen zu können. Noch viel weniger damit, daß Snape ihn plötzlich Harry nannte, als wäre es das normalste auf der Welt, als würde er es schon seit Jahren tun. – Aber vielleicht... ja, vielleicht war es ja für Snape jetzt das normalste auf der Welt.
Da war sie wieder, seine törichte kleine Hoffnung.
„Ich hatte ein paar Dinge zu klären. Viele Gespräche. Wichtige und lange Gespräche. – Und ich habe mal wieder wirklich geschlafen." Snape nickte.
„Ich nehme an, du hast dich mit Cho versöhnt?" Harry versuchte seine Überraschung unter einem Lächeln zu verbergen, war sich aber nicht sicher, ob ihm das gelang. Immerhin, das war immer noch Snape hier neben ihm.
„Woher wissen Sie das?" Snape drehte leicht den Kopf und blickte seinem Sohn in die Augen.
„Würdest du mir einen Gefallen tun, Harry?" Etwas zögerlich nickte Harry.
„Rede wieder mit mir, wie in der Zeit, in der du über mich gewacht hast. Ich glaube nicht, daß ich mich noch einmal an dieses förmliche Gehabe gewöhnen kann – oder möchte." Wenn Harry vorher geglaubt hatte, überrascht gewesen zu sein, dann fühlte er sich jetzt als hätte ihn der Schlag getroffen. Er schluckte, schaffte es aber nicht, den Kloß in seinem Hals los zu werden. Das war zu viel auf einmal. Das war nicht Severus Snape, keine Ähnlichkeit, wenn man vom Aussehen mal absah.
„Ich... ich werde es versuchen." Harry ärgerte sich maßlos darüber, daß er nicht einmal mehr einen geraden Satz hervorbringen konnte, ohne hilflos zu stottern, wie ein Kind, aber daß Snape nicht darauf einging, sondern alles gewissenhaft übersah, machte es ihm doch etwas leichter, sich nicht gleich hier und jetzt selbst dafür zu schlagen.
„Um deine Frage zu beantworten. Ich rieche sie. Oder besser, ich rieche ihr Parfum an dir." Harry wurde augenblicklich feuerrot und er hoffte inständig, daß Severus es in dem dunklen Gang nicht erkennen konnte. Als er wieder aufsah und dem Mann ins Gesicht blickte, wurde diese Hoffnung zerschlagen. Dieses wissende Grinsen konnte doch nichts anderes heißen, als daß er es gesehen hatte oder?
Harry stockte einen Moment der Atmen. Severus grinste?!
„Es freut mich, daß du scheinbar zum ersten Mal in deinem ganzen Leben auf mich gehört hast."
„Das... es hätte alles anders sein können, wenn... wenn du..." Harry biß sich auf die Zunge und fluchte innerlich noch lauter als zuvor.
„Anders." Wiederholte Severus nachdenklich und warf Harry einen prüfenden Blick zu. Die Hoffnung in Harry wurde plötzlich von Sekunde zu Sekunde stärker und langsam wandelte sich das zaghafte Gefühl in eine sehr angenehmen Wärme. Harry nickte und mobilisierte jeden Rest von Selbstbewußtsein, den er noch in sich finden konnte, um den Blick seines Vaters festzuhalten.
Auch Severus nickte schließlich.
„Vermutlich. – Ich glaube, wir beide haben eine Menge zu besprechen, Harry. Wenn du mir aufhilfst und mich zur Krankenstation begleitest, können wir in Ruhe reden." Harry hatte das Gefühl, als würde jeder einzelne Gedanke in seinem Kopf in Jubelstürme ausbrechen und seine Nerven Samba tanzen. Severus wollte es! Das war alles, was er gehofft hatte, vielleicht sogar mehr als das. Es war ... ja, es war perfekt.
Severus sah die Reaktion im Gesicht seines Sohnes und ein wenig half es ihm über das nagende Gefühl der Hilflosigkeit hinweg, das er jetzt seit insgesamt zwei Tagen empfand. Wenn Harry nicht vorbei gekommen wäre, hätte er die ganze Nacht dort sitzen bleiben müssen, denn Dank der Schienen hatte er es nicht geschafft, wieder auf seine Beine zu kommen und jede andere Art der Fortbewegung wurde ebenfalls von ihnen verhindert. Es war schrecklich, sie wieder so hilflos wie ein Kind fühlen zu müssen oder sogar noch hilfloser. Denn ein Kind konnte wenigstens noch krabbeln, wenn es nicht mehr auf die Beine kam.
Doch die offensichtliche Freude, die Harry über sein Angebot mit ihm zu sprechen empfand, half darüber hinweg, stimmte ihn selbst glücklich. Und er war froh, daß er diesmal den Mut gehabt hatte, Harry das Angebot zu machen.
Es war nicht einfach, Severus mit den Schienen zurück auf die Beine zu bringen, aber wenn Quidditch einen Vorteil hatte, dann war es eine ausgeprägte Oberkörpermuskulatur.
„Was machst du überhaupt um diese Zeit hier und noch dazu allein? Das ist so was von unvernünftig." Tadelte Harry Severus, während er sich abmühte, ihn wieder aufzurichten. Severus schnaubte.
„Meinen Stolz retten, was sonst?" Harry lachte und gab Severus seine Krücken zurück.
„Interessante Methode, das muß ich schon sagen." Auch Severus erlaubte sich ein Lächeln.
„Ich wollte heimlich üben, das ist alles. Ich bin... erbärmlich mit diesen Dingern." Gab er ein wenig zaghaft zu und fixierte die Krücken mit einem wütenden Blick. Mit einer fast schon wilden Entschlossenheit in den Augen machte er einen ersten Schritt und fühlte, daß seine Kräfte noch immer nicht wieder da waren. Doch auch Harry schien das bemerkt zu haben, denn er war gleich zur Stelle, ihn zu stützen, bevor er wieder fiel.
„Das ist vollkommen normal für jemanden, der nicht gerade Leistungssportler ist, denke ich. – Du könntest es dir auch einfach machen und dich von mir zurückbringen lassen." Antwortete Harry und deutete auf seinen Zauberstab an seinem Gürtel. Doch Severus schüttelte vehement den Kopf.
„Auch wenn ich bereit bin, vor dir zuzugeben, daß vieles an meinem Verhalten nur Fassade war, Harry, solltest du dir bewußt sein, daß ich durchaus wirklich Wert darauf lege, mir einen Rest meiner Würde zu bewahren, auch vor dir." Harry hob grinsend die Schultern.
„Ich hätte es schon niemandem verraten." Schweigend setzten sie ihren Weg zur Krankenstation fort. Die ernorme Anstrengung stand Severus ins Gesicht geschrieben, aber er war nicht bereit, aufzugeben. Und so gerne Harry es ihm leicht gemacht hätte, verstand er Severus gut. Wenn er es wieder lernen wollte, dann durfte er es sich nicht leicht machen. Fast schon hatte Harry ein schlechtes Gewissen, als er über sein Angebot nachdachte.
Er hatte es zwar nur gut gemeint, aber hatte er seinem Vater damit nicht angeboten, vor der Herausforderung wegzulaufen? Harry hatte das Gefühl, als begreife er langsam, was Severus ihm die ganze Zeit hatte sagen wollen.
Der Weg zurück zur Krankenstation kam Severus vor wie eine Weltreise, obwohl sie nur wenige Meter den Gang hinunter lag. Er war froh, daß Harry da war und ihm half, denn alleine, das war so klar wie sonst nichts in den vergangen Wochen, hätte er es niemals zurück geschafft.
Er konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken, als er schließlich sein Bett erreicht hatte und sich darauf niederließ. Harry hob vorsichtig seine Beine aufs Bett und obwohl Severus zuerst den Drang verspürte, protestierte er nicht gegen diese Hilfestellung. Harry meinte es nur gut und wenn er ehrlich war, mußte er ja auch zugeben, daß er so geschwächt war, daß er diese Hilfe brauchte, ob er nun wollte oder nicht.
Als Harry ihn dann auch noch zudeckte und wahrscheinlich mehr unbewußt die Kanten der Decke unter die Matratze schob, wurde Severus endgültig angenehm warm ums Herz und er lächelte.
Harry setzte sich an sein Bett und warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Soll ich nicht vielleicht doch morgen wiederkommen? Das war sehr viel und du solltest besser schlafen." Severus schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich glaube nicht, daß es gut wäre, wenn wir beide uns erlaubten, noch einmal eine Nacht darüber zu schlafen, Harry." Harry nickte stumm.
„Ich... ich gebe ehrlich zu, daß ich nicht weiß, wo und wie ich anfangen soll. Du hast sicher unendlich viele Fragen und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie beantworten kann. Aber laß mich eins gleich vorneweg sagen, Harry. Ich wollte es dir schon so lange sagen.
Ich habe dich niemals gehaßt, nicht eine Minute meines Lebens." Harry schloß einen Moment die Augen und schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Das war nicht die Zeit, seinen Tränen nachzugeben, auch wenn der Drang unmenschlich war.
„Ich wünschte, ich könnte das selbe von mir sagen." Würgte Harry hervor und verfluchte sich im selben Moment noch dafür, daß er plötzlich ehrlich mit Severus sein wollte. Wäre es nicht viel besser gewesen, ihm das nicht zu sagen? Der Mann machte auf ihn den Eindruck nicht weniger angespannt zu sein als er selbst. Aber andererseits, er hatte Severus noch nie etwas vormachen können. Sein Vater hatte immer sofort gewußt, wann er log und wann nicht.
„Ich weiß, Harry. Und das war ja auch der Sinn des ganzen Spiels. Ich habe es darauf angelegt und ich war froh, daß du reagiert hast, wie ich wollte." Harry blinzelte ein paar mal, bevor er den Blick wieder auf Severus richtete.
„Aber wieso? Wieso hast du mich nicht einfach zu dir geholt? Ich verstehe das nicht. Wenn du wußtest, daß ich dein Sohn bin und wenn du wirklich wußtest, wie meine Tante und mein Onkel waren, warum hast du zugelassen, daß ich bei ihnen bleiben mußte?" Auch wenn Harry versuchte, seine Stimme ruhig und stetig zu halten, Severus entging die unterschwellige Wut nicht. Aber er hatte auch nicht erwarten können, daß sie nicht da sein würde und er war doch darauf vorbereitet gewesen, nicht wahr?
„Ich wollte dich holen. Ich kannte Petunia und Vernon nur aus Erzählungen deiner Mutter, aber ich habe nie gezweifelt, daß jedes Wort wahr war und darum wollte ich im ersten Moment nichts lieber, als sofort loszurennen und dich da raus zu holen.
Aber es gab zwei Dinge, die mich davon abhielten. Das eine war Dumbledores Ansicht, daß du die Chance bekommen solltest, wie ein normaler Junge aufzuwachsen, ohne den ganzen Ruhm und den Rummel um deiner Person.
Und ich denke, daß er zweifellos recht damit hatte. Wärst du in der magischen Welt aufgewachsen und nicht versteckt bei den Muggeln, hättest du keine schönere Kindheit gehabt. – Wohl auch keine schlechtere, das sehe ich jetzt ein, aber ich denke, du wärst niemals der wunderbare junge Mann geworden, der du jetzt bist." Harrys Mund fühlte sich unglaublich trocken an und er hatte für einen Moment das Gefühl, nie wieder in der Lage zu sein, seine Zunge zu bewegen, so schwer fühlte sie sich an.
„Ich bin ein Nichts." Murmelte er gepreßt und zuckte zusammen, als er Severus' Hand plötzlich auf seiner fühlte. Die schwarzen Augen fixierten ihn so intensiv, daß es Harry kalt den Rücken hinunter lief.
„Nein! Bitte, Harry, hör mir zu. Du bist kein Nichts. Ich weiß, daß ich dir dieses Gefühl oft genug gegeben habe und es tut mir leid, daß ich es getan habe. Du bist kein Nichts. Du hast deine Fehler wie alle anderen auch und nicht mehr. – Mach dich nicht so klein."
„Was war der andere Grund?" Harrys Stimme zitterte ein wenig, doch er hatte noch immer halbwegs die Oberhand über seine Gefühle.
„Der andere Grund war meine eigene Dummheit. Ich habe geglaubt, daß ich es nicht verdient hätte, daß du bei mir bist. Ich dachte, wenn ich dir aufbürden würde, bei mir aufzuwachsen, dann würde ich dich damit noch mehr bestrafen als mit einem Leben bei deinen Verwandten.
Der Junge, der überlebte und sein Vater, der Todesser. – Ich habe geglaubt, daß es der einzige Weg sei, dich vor mir und einem Leben voller Tratsch und böser Gerüchte zu schützen. Und der beste Weg, um mich zu bestrafen." Harry nickte, doch diesmal war er es, der Severus fixierte.
„Das ist noch nicht alles." Nach einen kurzen Zögern, senkte Severus den Blick.
„Ich wollte nicht mehr fühlen. Ich wußte damals schon, daß noch nicht alles vorbei war und ich wollte nicht noch einmal so empfinden müssen, wie ich damals empfunden habe. Der Tod deiner Mutter hat mich in Stücke gerissen. Ich wollte nicht noch einmal so angreifbar für Voldemort sein und ich wollte, daß es in meinem Leben nichts mehr gibt, über dessen Verlust ich Schmerz empfinden würde." Severus wunderte sich über seine eigene Ehrlichkeit und vor allem über die Tatsache, daß er die Worte überhaupt über die Lippen brachte. Aber vermutlich lag es daran, daß Harry so ruhig blieb und entgegen all seiner Befürchtungen nicht wutentbrannt und voller Haß auf ihn los ging.
Konnte es möglich sein, daß Harry ihm all das wirklich verzeihen konnte? Severus hoffte es mehr als alles andere und das gab ihm auch die Kraft, Harry die ganze Wahrheit zu sagen, ihm seine eigene, unglaubliche Dummheit zu offenbaren.
„So ging es mir manchmal auch." Sagte Harry schließlich nach einer Zeit des Schweigens, die Severus wie eine Ewigkeit vorgekommen war. Überrascht blickte er seinen Sohn an, dessen Augen traurig glitzerten.
„Wie meinst du das?"
„Es gab auch in meinem Leben eine Zeit, in der ich nicht mehr fühlen wollte. Damals, als Cedric gestorben ist, ist mir plötzlich alles zu viel geworden. Den ganzen Sommer über hatte ich fürchterliche Alpträume und Schuldgefühle ohne Ende. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, daß ich ihn nicht gerettet habe.
Das einzige, was ich die ganze Zeit über nicht hatte, war Angst. Jedenfalls so lange ich nicht an meine Freunde dachte. Sie waren das einzige, was ich als meine Schwachstelle in diesem Kampf bezeichnen konnte.
Ich habe in jenem Jahr versucht, meine Freunde von mir zu stoßen. – Vielleicht ist es dir aufgefallen, aber wir haben lange Zeit nicht viel miteinander gesprochen." Severus mußte erst einen Moment darüber nachdenken, aber dann nickte er schließlich.
„Das hat etwa bis Weihnachten gedauert, nicht wahr?" Harry nickte.
„Ich habe es nicht ausgehalten und das war wohl mein Glück. Die beiden haben nicht locker gelassen, bis ich sie schließlich wieder an mich herangelassen habe." Severus lachte leise, seine schwarzen Augen funkelten vergnügt.
„Miss Granger kann sehr ausdauernd sein, wenn es darum geht, ihren Willen durchzusetzen. Diese Erfahrung habe ich dieses Jahr auch schon gemacht." Auch Harry erlaubte sich ein kurzes Lächeln, doch dann wurde er sofort wieder ernst. Jetzt wo Severus bereit war, seine Fragen zu beantworten, war es wohl endlich an der Zeit, die wichtigste Frage überhaupt zu stellen. Die eine Frage, die ihn sogar noch mehr gequält hatte als die nach dem Warum.
„Severus, wie wird es nun weitergehen?" Beiden sahen sich einen Moment lang in die Augen und beide sahen die Befürchtungen und Ängste des anderen. Schließlich faßte Severus sich ein Herz.
„Wenn du damit meinst, was ich möchte, dann ist die Frage ganz einfach zu beantworten. – Ich möchte dich kennen lernen, Harry. Ich möchte so viel Zeit wie möglich mit dir verbringen und versuchen, so viel wie nur möglich von der verlorenen Vergangenheit wieder aufzuholen.
Ich möchte deine Fragen zu deiner Mutter und ihren Freunden beantworten. Und ich möchte, daß du mir eine Chance gibst.
Wenn du dagegen wissen wolltest, was ich tun werde, dann lautet die Antwort: Was immer du willst." Harry fühlte, wie sich eine unglaubliche Erleichterung in ihm breit machte. Diese Antwort, so überraschend sie war, war genau das, was er sich gewünscht hatte. Mehr hatte er sich nicht erhoffen können und er war unglaublich dankbar, daß es so gekommen war.
Er spürte, wie die Hand seines Vaters in seiner ein wenig zitterte und mit einem warmen Lächeln auf den Lippen drückte er sie sanft.
„Einverstanden." War alles, was er hervorbrachte, aber er wußte, daß Severus verstanden hatte, was er damit sagen wollte, denn das Zittern hörte augenblicklich auf und der Ausdruck auf dem Gesicht des älteren Mannes war eine unbeschreibliche Mischung aus grenzenloser Überraschung und großer Dankbarkeit und Freude.
Bevor einer von beiden noch irgend etwas sagen konnte, hatte Severus sich im Bett wieder aufgerichtet und Harry in die Arme geschlossen. Harry zögerte nur einen winzigen Moment, bevor er die Geste erwiderte und als ihm bewußt wurde, daß dies die erste ehrlich liebevolle und warme Umarmung von seinem Vater war, die er in seinem Leben bekommen hatte, machte sein Herz einen kleinen Sprung.
„Ich bin wirklich gespannt auf die Schlagzeile in der Hexenwoche und im Tagespropheten." Murmelte Harry, doch augenblicklich bereute er seine Worte, als er fühlte, wie Severus sich ein wenig verkrampfte. Für ihn war es vollkommen normal, daß die Zeitungen über jede Kleinigkeit in seinem Leben schrieben, aber für seinen Vater wohl weniger.
„Harry. – Ich möchte, daß diese Neuigkeit nicht an die Öffentlichkeit gelangt." Sagte er schließlich. Harry blickte ihn verständnislos an.
„Warum? Schämst du dich etwa für mich?"
„So ein Unsinn! – Ich möchte einfach nur nicht, daß die Zeitungen sich das Maul über Lily zerreißen. Man braucht nicht einmal besonders viel Fantasie, um sich vorzustellen, was in den Zeitungen alles über sie und ihre Treulosigkeit stehen würde.
Sie werden sich langsam daran gewöhnen, daß du dir ausgerechnet mich als väterlichen Freund ausgesucht hast und das ist alles, was sie kriegen werden, versprich es mir!" Zum ersten Mal hatte Severus' Stimme wieder einen scharfen, bestimmenden Ton angenommen und selbst wenn Harry gewollt hätte, hätte er gar nicht anders gekonnt, als zu nicken. Er hatte ja recht und Harry mußte zugeben, daß er mal wieder nicht über die Sache nachgedacht hatte. Natürlich würde das ein schlechtes Licht auf seine Mutter werfen, selbst wenn sie wirklich die gesamte Geschichte bekannt machten.
Das Netz aus Lügen, das Severus und Lily gespannt hatten, um ihre Liebe vor allen zu verschleiern, konnte man über zwanzig Jahre nach Lilys Tod nicht mehr einfach so entwirren.
„Kein Wort von mir, versprochen." Severus atmete erleichtert auf.
Wenig später kehrte Harry in seine Räume zurück. Manami und Cho schliefen noch immer genauso ruhig wie einige Stunden zuvor, als er beide allein gelassen hatte. So leise wie möglich, zog Harry sich aus und kletterte zurück ins Bett.
Er fühlte sich noch immer aufgeregt und glücklich, aber trotzdem konnte er jetzt endlich ein wenig schlafen, denn es war ein gutes und beruhigendes Gefühl, alles in die richtigen Bahnen gebracht zu haben und in ein paar Wochen würden er und Severus dann so weit sein, daß sie alles geklärt hatten, was es zwischen ihnen zu klären gab. Da war er sich sicher.
Der Unterricht am letzten Tag vor den Weihnachtsferien war bereits nach den Vormittagsstunden beendet, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, ihre Sachen zu packen, bevor das abendliche Festessen begann.
Es wunderte Harry nicht weiter, daß er der einzige war, der sich nach dem Mittagessen in der Bibliothek befand und die Ruhe war etwas, wofür er eigentlich auch sehr dankbar war. Harry war noch nie ein großer Bücherwurm gewesen und während seiner Schulzeit war es eigentlich nur Hermines Verdienst gewesen, wenn er sich überhaupt mal freiwillig hingesetzt hatte, um zu lernen, aber wenn er es tat, dann brauchte er Ruhe.
Heute war er zwar nicht zum Lernen da, aber die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, erforderte nicht weniger Ruhe und Konzentration.
In der vergangenen Nacht noch war ihm die Idee gekommen, daß er für seinen Vater eine Art Trainingsplan machen konnte, um ihm den Umgang mit den Krücken zu erleichtern. Normalerweise war es üblich, daß Patienten erst ein wenig Krafttraining absolvierten, um sich überhaupt längere Zeit auf den Krücken halten zu können. Madam Pomfrey hatte das sicher nicht gewußt - denn ihr eigener Plan beinhaltete kein solches Training - und hatte Severus durch ihre Unwissenheit vor eine schier unmögliche Aufgabe gestellt.
Immerhin, man durfte nicht vergessen, daß Severus von einem Sportler, der das mit links machte, so weit weg war wie nur möglich.
Er hatte gleich nach dem Aufstehen an diesem Morgen mit Sirius gesprochen und dieser hatte sich bereit erklärt, ihm bis zum Mittag einige Muggelbücher zu dem Thema zu besorgen.
Jetzt saß Harry vor diesen Büchern, hatte sich in den Text vertieft und kritzelte nebenher etwas auf einen Bogen Pergament. Er war so auf seine Aufgabe konzentriert, daß er Hermine nicht hörte, die in die Bibliothek gekommen war und sich jetzt neben ihn setzte.
„Heißt das, daß du mit ihm gesprochen hast?" fragte sie und Harry fuhr vor Schreck über die plötzliche Störung zusammen.
„Hermine! Was hast du vor, willst du mich umbringen?" Hermine lachte, wandte ihren Blick aber nicht von den Büchern vor Harry ab.
„Ja, wir haben miteinander gesprochen. Ich habe doch gesagt, daß ich es tun würde."
„Ist nur ungewöhnlich für deinen Dickschädel, so früh schon nachzugeben." Bemerkte Hermine trocken und zog eines der Bücher zu sich hinüber.
„Sieht so aus, als wolltest du mir helfen." Neckte Harry seine alte Freundin mit einem Grinsen und Hermine, die sich sofort in das Buch vertieft hatte, blickte lächelnd auf, schüttelte aber den Kopf.
„Nein, ich würde zwar gerne, aber ich hab keine Zeit. – Du weißt, wie ich auf Bücher reagiere." Sie zwinkerte. „Severus möchte heute abend bei dem Fest dabei sein und ich muß noch einiges vorbereiten." Harry zog überrascht die Stirn kraus. Er hatte nicht gedacht, daß Severus dabei sein wollte, denn die Feier, die heute stattfinden würde, würde eine eher bedrückende Angelegenheit werden. Dumbledore hatte entschieden, daß das diesjährige Weihnachtsfestessen gleichzeitig auch eine Gedenkfeier für alle Schüler – ehemalig oder aktuell – werden sollte, die im Kampf gegen Voldemort gefallen waren.
„Ist das wirklich so eine gute Idee?" fragte Harry skeptisch.
„Er ist alt genug, um es selbst zu wissen, denke ich. – Ich habe ihm übrigens heute morgen erzählt, daß du Aidan mit zurück gebracht hast, als du und Draco nach ihm gesucht habt. – Ich glaube, er war sehr berührt. Dumbledore hat beschlossen, daß Aidan hier in Hogwarts beerdigt wird. Ihr Vater wurde nicht gefunden, darum gehen alle davon aus, daß er entweder tot oder durch irgendein Wunder entkommen ist."
„Wann?" fragte Harry und war erstaunt, daß seine Stimme fast schon heiser klang.
„Sobald die Schüler fort sind. Sie sollen es nicht mitbekommen." Harry nickte und fuhr sich kurz mit den Händen über die müden Augen. Die Nacht war doch sehr lang und anstrengend gewesen.
„Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist, Hermine. Meinst du, daß dann vielleicht alles mal ein bißchen – normal wird?" Hermine stand mit einem Lächeln von ihrem Stuhl auf und trat hinter Harry. Harry schreckte noch einmal ein wenig zusammen, als er vollkommen unerwartet ihre Hände auf seinen Schultern fühlte, entspannte sich aber augenblicklich, als diese Hände begannen, seine verspannten Schultern zu kneten.
Verdammt, er hatte vergessen, wie gut Hermine das konnte und daß sie es vor allem immer dann tat, wenn man es am wenigsten erwartete.
„Was ist schon normal, Harry? Es wird ruhiger werden, denke ich. Aber ob es lange ruhig bleiben wird, kann jetzt noch niemand sagen.
Ich weiß nicht, ich hab gelernt, damit zu leben, zu nehmen, was kommt." Harry fuhr zusammen, als sie einen besonders dicken Knoten traf, doch Hermine intensivierte den Druck ihrer Hände auf diese Stelle gnadenlos und schon wenig später durchströmte Harry das unvergleichlich schöne Gefühl des nachlassenden Schmerzes.
„Ich glaube, du solltest Cho bei Gelegenheit mal da ran lassen, Harry. Du hast Knoten im Rücken, die dicker sind als meine Faust." Harry seufzte zur Antwort.
Die Große Halle erstrahlte im Licht der vielen hundert Kerzen die hoch oben über den Haustischen in der Luft schwebten. Wie jedes Jahr standen auch diesmal zwölf prachtvoll geschmückte Tannenbäume an den Wänden der Halle und um die weihnachtliche Stimmung perfekt zu machen, hatte es vor wenigen Minuten begonnen zu schneien. Die kleinen, weißen Schneeflocken rieselten von der verzauberten Decke herab und wirbelten fröhlich durch die Luft, bevor sie einen guten Meter über den Köpfen der Schüler wie von Geisterhand verschwanden.
Harry war einer der ersten in der Großen Halle. Außer ihm waren erst gut zwanzig Schüler und zwei seiner Kollegen da. Aber es war auch noch sehr früh, die Halle würde erst in einer halben Stunde wieder aus allen Nähten platzen.
Harry lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte verträumt an die verzauberte Decke, beobachtete den Schnee bei seinem Tanz und versuchte, sich an die Stimmung an diesen Abenden während seiner Schulzeit zu erinnern.
Denn eines hatte er sofort gemerkt, als er die Halle vor fünf Minuten betreten hatte. Es war nicht wie damals. Und das lag nicht nur daran, daß die Banner über den Haustischen dieses Mal nicht in den entsprechenden Farben leuchteten, sondern in Schwarz und Weiß gehalten waren. Die ganze Stimmung in Hogwarts hatte sich in den letzten Jahren so gravierend verändert, daß Harry sein Zuhause fast nicht wiedererkannte. Heute noch weniger als sonst.
Harry wußte, daß es mit dem vergangenen Krieg zu tun hatte, aber er war sich nicht sicher, ob das jetzt wieder anders werden würde. Die Hausfeindschaften waren in den letzten Jahren ein wenig zurück gegangen, aber der traurige Grund dafür war, daß sich zum ersten Mal auch Schüler aus Gryffindor, Hufflepuff und Ravenclaw auf die Seite des Dunklen Lords geschlagen hatten. Mit dieser neuerlichen Wende hatten sich die Schüler, die sich gegen die dunkle Seite entschieden hatten, kurzerhand zusammen geschlossen und zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren, sahen sich die Schüler in Slytherin nicht mehr von den anderen ausgegrenzt.
Harry seufzte. Wie viel billiger hätten sie diesen Zusammenschluß haben können, wenn sie nur rechtzeitig vernünftig geworden wären!
Aber Harry wollte nicht unfair sein, und wenn er sich an seine sieben Jahre in Hogwarts zurück erinnerte, mußte er wohl oder übel zugeben, daß ein echter Gryffindor zu seiner Zeit sich niemals mit einem Slytherin eingelassen hätte, wenn es dafür nicht einen mindestens katastrophal dringenden Grund gegeben hätte. Und so war es mit Sicherheit auch den anderen beiden Häusern ergangen.
Harry konnte nicht genau sagen, wie lange er schon an die Decke gestarrt hatte, doch mit der Zeit drangen die Geräusche seiner Umgebung in seine Gedankenwelt ein und als er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Halle richtete, stellte er erstaunt fest, daß sowohl die Schüler als auch die Lehrer sich bereits fast vollständig versammelt hatten.
Der Tisch der Slytherins war noch zur Hälfte unbesetzt, doch Harry wußte, daß es nicht mehr Schüler werden würden. Die, die nicht selbst in den letzten Kampf involviert gewesen waren, aber trotzdem in offensichtlicher Verbindung zu Voldemort gestanden hatten, waren während der letzten Tage vom Ministerium abgeholt, andere wiederum von ihren Eltern schon einige Tage früher in die Ferien geholt worden. Harry hielt überrascht inne, als er auf bekannte, helle Augen traf, eine Mischung aus grau und eisblau.
Draco verzog die Lippen zu einem Grinsen und hob kurz die Hand zum Gruß, bevor er sich wieder zu dem Kreis sehr junger Slytherins umwandte, die ihn weiter aufgeregt mit Fragen bombardierten. Harry lächelte.
Es war gut, daß Draco für sie zu einem Vorbild geworden war. Er war definitiv ein besser Beispiel als andere seiner ehemaligen Klassenkameraden.
Sein Blick schweifte zum anderen Ende der Halle und seine Vermutung bestätigte sich. Mit einem Grinsen stand Harry auf und war in wenigen Schritten am Tisch der Gryffindors angelangt. Ginny flog in seine Arme.
„Harry! Wie schön!" rief die junge Frau, die immer noch ein typischer rothaariger Wildfang war, wenn auch nicht mehr so schüchtern wie früher, was nach Harrys Ansicht zweifellos an Draco liegen mußte. Nur er konnte es schaffen, aus einer schüchternen Gryffindor in nur zwei Jahren so etwas zu machen. Er grinste.
„Was tut ihr beiden hier?" fragte Harry, immer noch ein wenig überrascht, Draco und Ginny unter den Schülern zu sehen. Es war nicht üblich, daß ehemalige Schüler einfach so in Hogwarts auftauchten, nicht einmal zu den Festtagen.
„Dumbledore hat Draco gebeten, herzukommen. Ich glaube, es ging um Professor Snape. Und ich bin kurzerhand einfach mitgekommen." Ginnys Augen strahlten und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, zog sie Harry noch einmal in eine feste Umarmung.
„Ich hab dich schon ewig nicht mehr gesehen. Wie geht es dir? Und wie geht es eurem Kleinen?"
„Fabelhaft! Der kleine Satansbraten ist ganz sein Vater, wer hätte das gedacht? – Ich hab ihn über die Feiertage bei meiner Mutter einquartiert, damit Draco und ich endlich mal wieder Ruhe haben." Sie zwinkerte Harry zu und er lachte. Er war sich nicht wirklich sicher, ob der kleine Damian seine Wildheit wirklich von seinem Vater hatte und wenn Ginny ehrlich war, gab sie ihre eigenen Zweifel vermutlich auch zu.
„Wie lange werdet ihr bleiben?"
„Ich denke, bis Neujahr vielleicht. Zwischendrin müssen wir zwar mal beim Fuchsbau vorbei und Hallo sagen, aber mehr haben wir nicht geplant." Nun war es an Harry, Ginny noch einmal in den Arm zu nehmen.
„Das ist großartig. Ich freu mich so!" In diesem Moment bemerkte Harry, wie es in der ganzen Halle mit einem Schlag mucksmäuschenstill wurde. Auch Ginny blickte über seine Schulter hinweg hinauf zum Lehrertisch und schien im ersten Moment geschockt zu sein.
„Wir sehen uns nachher, Ginny." Flüsterte Harry ihr zu und drehte sich dann zum Lehrertisch um. Wie er vermutet hatte, hatte Severus gerade gemeinsam mit Hermine und Dumbledore die Halle betreten und war der Grund für die plötzliche Stille. Scheinbar hatten die Schüler nicht gewußt, daß der schwer verletzte Lehrer für Zaubertränke am heutigen Abend zum ersten Mal wieder unter ihnen weilen würde. Harry lächelte, als er das Podium bestieg und wie selbstverständlich seinen Platz neben Severus einnahm.
„Ein gelungener Auftritt." Murmelte er seinem Vater zu, der ihm einen kurzen, vollkommen ausdruckslosen Blick zuwarf, doch Harry wußte, daß es seine Art von öffentlichem Lächeln war.
Sein Vater hatte noch einiges zu lernen.
„Den ich sicherlich so nicht geplant hatte. Ich bin durchaus kein nach Ruhm hungernder Gryffindor." Severus lachte so leise, daß es außer Harry keiner hören konnte, als sich aus Harrys Kehle ein kleiner Knurrlaut entrang. Natürlich war ihm bewußt, daß Harry mit Sicherheit alles, aber nicht hungrig nach Ruhm war, aber das war noch lange kein Grund, den Jungen von nun an mit seinen beißenden Anspielungen zu verschonen, nicht wahr?
Die Gespräche unter den Schülern setzten wieder leise ein und Severus fragte sich, wie viele unter ihnen wohl gerade über ihn spekulierten und ob es unter ihnen wohl auch welche gab, die bemerkt hatten, daß Harry zum ersten Mal neben ihm saß, seit er nach Hogwarts zurück gekehrt war.
Er war sich auf jeden Fall sicher, daß es dem einen oder anderen Ravenclaw einfach aufgefallen sein mußte. Bei diesem Haus hatte er nicht selten das Gefühl, daß sie sich ständig irgendwelche Notizen machten, selbst wenn es um so etwas Profanes wie ein Essen in der Großen Halle ging.
Doch Severus mußte auch zugeben, daß er beeindruckt war von so manchem Ravenclaw und wenn er noch einmal als Schüler auf dem Stuhl sitzen, noch einmal den Hut auf dem Kopf haben könnte, er würde dieses Mal einfach alles tun, um wirklich nach Ravenclaw eingeteilt zu werden.
Aber das war Vergangenheit, zu viel hätte, zu viel wenn, zu viel wäre.
Das Schweigen legte sich erneut über die Gruppe der versammelten Schüler, als Dumbledore sich von seinem Platz erhob, um seine von allen erwartete Ansprache zu halten. Severus hörte, wie Dumbledore den Sonorus-Zauber sprach.
„Ihr alle wißt, daß wir heute nicht nur den Beginn der Weihnachtsferien feiern, wie wir es sonst an diesem Tag zu tun pflegen." Begann er, wie Severus fand, für ihn außergewöhnlich direkt und ohne großartige Einleitung. Doch es hatte genau die Wirkung, die er sich davon wohl erhofft hatte, denn nicht ein einziger Schüler in der ganzen Halle hatte seine Aufmerksamkeit nicht auf den alten Direktor gerichtet.
„Heute ist ein glücklicher und ein sehr trauriger Tag. Glücklich, weil vor wenigen Tagen endlich geschehen ist, wofür so viele von uns gekämpft und alle erdenklichen Opfer gebracht haben. Traurig, weil es sehr viele Opfer gefordert hat.
Die Opfer sollen uns aber nicht davon abhalten, den Fall Lord Voldemorts zu feiern, während das Feiern uns die Opfer nicht vergessen lassen soll." Severus hob eine Augenbraue. Ah ja, da war sie, die unmögliche Verspieltheit des alten Mannes, die er fast schon vermißt hatte.
„Darum wird es heute ein fröhliches Fest werden. Aber zuerst sollten wir uns an alle erinnern, die heute nicht mehr da sind. Ich möchte..." Albus hielt inne und in der Halle hörte man einige Schüler überrascht mit ihren Nachbarn tuscheln, denn neben Harry hatte Severus zu seinen Krücken gegriffen und stemmte sich langsam und unter großer Anstrengung auf seine Beine.
Severus warf Albus einen kurzen Blick zu und dieser kurze Austausch allein schon ließ den alten Zauberer scheinbar verstehen, was Severus wollte. Denn er nickte und setzte sich gleich darauf wieder hin.
Das Geflüster in der Halle wurde aufgeregter und auch Harry, der noch immer neben Severus saß, spürte, wie sein Herz etwas schneller schlug. Das war höchst ungewöhnlich und sah fast so aus, als wolle Severus weitersprechen. Das war etwas, was der Lehrer für Zaubertränke noch nie getan hatte.
„Wenn ich mich heute hier in der Großen Halle umsehe," begann Severus und warf einen Blick in die Runde von gespannten Gesichtern. Obwohl er keinen Zauber verwendet hatte, war seine Stimme bis in die letzten Reihen zu hören. „muß ich ehrlich gestehen, daß es mich schmerzt, was ich sehe." Harry hielt die Luft an und auch einigen Schülern schien es so zu gehen.
„Zu viele Gesichter sehe ich nicht mehr," sein Blick glitt hinüber zum Tisch der Slytherins, „und vor allem in meinem eigenen Haus sind die Verluste hoch. Slytherin hat viele großartige Zauberer und Hexen verloren und daß wir sie nicht alle an den Dunklen Lord verloren haben, ist nur ein geringer Trost. Trotzdem ändert es nichts daran, daß ich versagt habe, und ich möchte mich bei euch, den Hinterbliebenen, dafür entschuldigen. Ich hätte besser auf euch acht geben müssen.
Aber auch bei euch anderen möchte ich mich entschuldigen, daß ich, daß wir alle es nicht geschafft haben, besser auf euch und eure Kameraden zu achten." Sein Blick löste sich von seinen Slytherins und mehr als ein völlig überforderter Schüler an den anderen drei Tischen stieß einen überraschten Laut aus, als er den Ausdruck in den Augen des sonst so unnahbaren, kalten Lehrers sah.
Harry war beeindruckt. Er hatte gewußt, daß Severus sich verändern würde. Er hatte es sogar fest eingeplant. Was ihm jedoch nicht in den Sinn gekommen war, war daß Severus sich schon so früh und vollkommen ohne seinen vorherigen Einfluß so offen zeigen würde.
„In den vergangenen Monaten gab es jemanden, hier in diesem Schloß, das ein sicherer Zufluchtsort für euch alle sein sollte, der nach Hilfe gerufen hat. Aber sie hat es nicht laut und deutlich getan, das konnte sie nicht.
Ich habe ihre Hilferufe nicht gehört. Und dann haben wir sie verloren." Harry schluckte und blickte unter sich. Aidan. Die Sache ging ihm so nah und Harry konnte nichts tun, um den Schmerz ein wenig zu lindern.
„Weder für sie, noch für all die anderen, die eventuell auch nach Hilfe gerufen haben, aber nicht erhört wurden, können wir heute noch etwas tun. Es ist eine Schuld, mit der wir von nun an leben müssen.
Aber wir können uns an sie erinnern. Und genau das ist es, worum ich euch bitten möchte. Weil sie mich darum gebeten hat, als sie in meinen Armen starb.
Ich bitte euch, euch an sie alle zu erinnern, denn sie alle, ob sie nun mit oder gegen uns gekämpft haben, waren irgendwann einmal eure Kameraden, Freunde, Brüder oder Schwestern.
Vergeßt niemals das Opfer, das wir und vor allem sie für den Frieden gebracht haben und vielleicht haben wir dann eine Chance, diesen Frieden zu erhalten." Die Stille in der Großen Halle war tödlich. Keiner der Schüler rührte sich oder gab auch nur den kleinsten Laut von sich, als Severus schließlich die Augen schloß und den Kopf ein wenig sinken ließ.
Harry war der erste, der wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er stand ebenfalls auf und folgte Severus' Beispiel.
Nach und nach standen immer mehr auf. Zuerst die Lehrer am Lehrertisch, dann die ersten Slytherins und schließlich alle anderen Schüler. In der Großen Halle stand für einen Moment die Zeit still, als ganz Hogwarts als Einheit sich an alle erinnerte, die im Kampf ihr Leben gelassen hatten.
Severus hatte Tränen in den Augen, als er schließlich die Augen öffnete, den Blick über die Halle gleiten ließ und sah, daß er zum ersten Mal seine Schüler wirklich erreicht hatte. Und einen törichten kleinen Moment lang hoffte er, daß Aidan und Lily ihn sehen konnten.
„Danke schön." Murmelte er und setzte sich.
Sein Blick traf kurz den Harrys und ein warmes Gefühl machte sich in ihm breit, als sein Sohn im ein kurzes Lächeln zuwarf.
Aidans Beerdigung fand am nächsten Tag statt, nachdem der Hogwarts-Express den Bahnhof von Hogsmeade verlassen hatte. Es hatte die ganze Nacht hindurch weiter geschneit und der Friedhof von Hogwarts, vor allen Schülern gut versteckt in einem der vielen Gartenlabyrinthe gelegen, war in unschuldiges Weiß getaucht.
Unpassendes Weiß, wie Severus fand, aber andererseits war Aidan trotz allem, was sie getan hatte, unschuldig gewesen.
Sesha und Harry standen an seiner Seite, während Dumbledore die Grabrede sprach, von der Severus jedoch kein Wort hörte. Für seinen Abschied von Aidan brauchte er keine Rede, keine feierliche Zeremonie.
Sesha drückte seine Hand ein wenig fester und Severus hatte das Gefühl, daß sie wirklich verstand, wenn er auch nicht wirklich wußte, warum.
Die Beerdigung war gleich nach der Zeremonie auf dem Friedhof beendet und Severus war sehr dankbar dafür. Diese Förmlichkeiten griffen ihn stets mehr an, als es ihm lieb war und gerade jetzt, wo er ohnehin nicht auf der Höhe war, war die Gefahr, seine immer noch teilweise aufrecht erhaltene Fassade entgleiten zu lassen, einfach zu hoch.
Nachdenklich starrte er in das Feuer, das im Kamin des Kaminzimmers brannte und nahm einen Schluck von dem großen Glas Cognac, das Harry ihm eingeschenkt hatte. Poppy wäre vermutlich wieder an die Decke gegangen, wenn sie es gewußt hätte und unbewußt machte das den Cognac sogar noch ein wenig besser, als er ohnehin schon war.
„Severus?"
„Hm?"
„Du bist nicht schuld." Severus warf Harry einen fragenden Blick zu.
„Das wollte ich dir gestern schon sagen. Du bist nicht schuld. Und Aidan wußte das." Severus schluckte und schloß für einen kurzen Moment die Augen.
„Ich meine, was ich gesagt habe, Harry." Harry nickte.
„Ich weiß. Aber es ändert nichts. Du bist nicht schuld. Du kannst es dir einreden, wie du es sonst immer tust, oder du kannst mir einmal in deinem Leben einfach nur glauben." Sesha klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte und sah Severus nun ihrerseits sehr eindringlich an.
„Er hat recht, Sev. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß Aidan gewußt hat, was auf sie zukommt." Severus blickte Sesha fragend an. Sesha griff in eine Tasche ihres Umhanges und zog einen Karte hervor. Sie war schmutzig und sehr verknickt. Severus nahm sie vorsichtig entgegen und warf einen Blick darauf. Überrascht zog er eine Augenbraue bis hinauf zum Haaransatz.
„Sie hat sie mir gegeben, nachdem wir dich aus der Schußbahn gebracht haben. Es ist das Rad des Schicksals. – Das Rad des Schicksals prophezeit das unabwendbare Schicksal eines Menschen. Was er auch tut, es wird ihn nicht davor bewahren. Wie das Schicksal aussieht, hängt von den umliegenden Karten ab. Oder wie in diesem Fall, da die Karte ihre Tageskarte war, von den Umständen.
Ich weiß, daß du nicht an die Karten glaubst, Severus, aber sie sind kein völliger Humbug. Keine Form der Magie ist es, in jeder steckt ein wenig Wahrheit. Und ich glaube, daß Aidan das wußte und daher wußte sie auch, daß es ihr Schicksal war, in diesem Kampf zu sterben." Severus betrachtete die Karte nachdenklich und schweigend. Sesha wußte, daß sie darauf von ihm keine Antwort erhalten würde, aber sie hatte ihren Standpunkt klar gemacht und das war schon einmal gut so.
Wie sich in den kommenden Tagen herausstellte, hatte Dumbledore Draco aus zwei Gründen nach Hogwarts geholt. Zum einem, damit er etwas Zeit mit Severus verbringen und Harry damit ein wenig mehr Zeit mit Cho geben konnte, und zum anderen, um ihn zu bitten, im kommenden Schuljahr die Position als Lehrer in Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu übernehmen. Auch Harry hatte er diese Stelle bereits angeboten, doch zu seiner vollkommenen Überraschung hatte Harry abgelehnt.
Draco verließ Hogwarts am Ende der Weihnachtsferien, ohne Dumbledore eine Zu- oder Absage gegeben zu haben, aber er versprach dem alten Zauberer, gut darüber nach zu denken und ihm seine Entscheidung so bald wie möglich mitzuteilen.
Auch Cho verließ Hogwarts nach Neujahr mit Manami, um in ihre neue Wohnung in London einzuziehen. Harry hatte sie gebeten, noch ein wenig zu bleiben, doch Cho lehnte ab. So lange sie bei ihm in Hogwarts war, erklärte sie ihm, war er nicht in der Lage, wirklich herauszufinden, was aus seiner Zukunft werden sollte.
Und so ungern Harry das auch zugab, sie hatte wohl recht damit, denn so lange sie und seine Tochter um ihn herum waren, beschränkte sich seine Welt vollkommen auf die beiden. Doch auch ihm war klar, daß die Vaterrolle sicher nicht der Sinn seines restlichen Lebens werden konnte, also ließ er Cho ziehen, schweren Herzens, aber immerhin doch mit der Gewißheit, daß es nur eine kurze Trennung sein würde, denn sie versprach, ihn bis zu seiner Rückkehr nach London regelmäßig mit Manami zu besuchen.
Severus und Harry arbeiteten gemeinsam einen Trainingsplan aus, um Severus' Heilung ein wenig schneller voran zu treiben und so lange Severus ausfiel, übernahm Hermine seinen Unterricht für Zaubertränke. Für Schüler und Lehrer war das definitiv eine Erholung, wie sogar Severus eines Tages gestand, als er und Harry mal wieder allein in einem der Kerkerräume Laufübungen machten.
Und ganz von alleine kamen sich die beiden in dieser Zeit auch näher, wie sie es beide gehofft hatten. Es war keine schnelle, hochgradig herzliche Annäherung, aber sie gingen aufeinander ein, zeigten nach kurzer Zeit gegenseitige Zuneigung. Severus beantwortete offen jede Frage, die Harry hatte und Harry schaffte es ganz langsam, aber nachhaltig, Severus' harte Schale ein wenig aufzubrechen.
Severus schwor vor Hermine stets darauf, daß das die Seite seiner Mutter in ihm sein mußte, denn sie allein hatte das bisher geschafft.
So wurde es von allen beinahe unbemerkt Frühling um Hogwarts herum.
Severus saß auf einer Bank am See in der Sonne. Sein Gehstock, die einzige Gehhilfe, die er inzwischen noch benötigte, Dank Harrys großartiger Hilfe, lehnte neben ihm. Die Sonne strahlte ihm ins Gesicht und wärmte ihn ein wenig, während er ihr sein Gesicht entgegen streckte, die Arme hinter seinem Hinterkopf verschränkt.
Auch jetzt noch, nachdem der Krieg und die damit verbundene Arbeit zu Ende war, war Ruhe immer noch etwas, was selten war und was er sehr genoß. Zwar hatte er jetzt seinen regelmäßigen Schlaf, überarbeitete sich nicht regelmäßig und verbrachte seine Zeit mit wesentlich angenehmeren Dingen als in den Jahren zuvor, doch jetzt war Harry fast rund um die Uhr um ihn herum und wenn nicht er, dann eben Sesha.
Severus lächelte bei dem Gedanken an die beiden. Er war dankbar dafür, daß sie da waren, anders konnte er es nicht sagen. Unendlich dankbar.
Er hörte wie jemand den Kiesweg vom Schloßtor zum See hinunter kam und Severus ahnte, daß es jemand war, der seine Ruhe gleich stören würde. Doch er wandte sich nicht um, sondern ließ den Störenfried einfach kommen.
Immerhin, er hatte gut eine Stunde seine Ruhe gehabt, das war doch schon mal was.
Hermine ließ sich mit einem breiten Lächeln neben ihm auf der Bank nieder und nahm die gleiche Sitzposition ein.
„Die Sonne kitzelt einen in der Nase." Bemerkte sie in einem fast belustigten Tonfall und Severus lachte über diese Bemerkung.
„In der Tat, Hermine. Deine Beobachtungsgabe ist wie immer nicht zu schlagen." Hermine kicherte, ein Laut, an den sogar Severus sich inzwischen fast gewöhnt hatte und bei Merlin, er haßte kichernde Frauen normalerweise!
„Ich habe mit Poppy gesprochen, Severus. – Sie hat gesagt, wenn du möchtest, kannst du nach den Ferien wieder unterrichten." Severus wandte leicht den Kopf und sah Hermine an.
„Hast du es etwa schon leid?" fragte er mit einem amüsierten Lächeln und auch Hermine drehte ihren Kopf, um ihn anzusehen.
„Nein, es macht mir mehr Spaß als alles andere."
„Warum möchtest du dann aufhören? Ich hatte gedacht, du würdest das Jahr eventuell für mich beenden." Normalerweise wäre Hermine ihm für die Möglichkeit, auch den Rest des Jahres noch zu unterrichten und sogar die Jahresabschlußprüfungen zu erstellen, um den Hals gefallen, aber trotzdem tat sie es jetzt nicht. Statt dessen zog sie einen Brief aus ihrem Umhang und betrachtete ihn nachdenklich.
„Das würde ich liebend gerne, aber ich glaube, daß du meine Meinung teilen wirst, wenn du diesen Brief hier gelesen hast. Er wird dir gefallen." Ihr Lächeln hatte einen überzeugten Ausdruck angenommen, als sie ihm den Brief reichte. Jetzt wirklich neugierig geworden, öffnete Severus den Umschlag und zog den Bogen Pergament heraus.
Sehr geehrte Miss Granger,
wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, daß Sie an der Londoner Universität für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind. Aufgrund Ihrer Zusammenarbeit mit Professor Severus Snape (Meister der Zaubertränke 1. Grades), bieten wir Ihnen die Möglichkeit an, unser Institut bereits ab dem 15. April zu besuchen, um am Ende des Semesters eine spezielle Prüfung abzulegen.
Bei Bestehen dieser Prüfung, haben Sie die Möglichkeit, im kommenden Studienjahr bereits in Ihr drittes Semester einzusteigen.
Wir erwarten Ihre Eule bis spätestens 05. April.
Mit freundlichen Grüßen
Abigail Abraxas
(stellvertretende Direktorin, Leiterin der Fakultät für magische Tränke und Gifte)
Severus ließ den Brief langsam sinken, starrte ihn aber noch gut fünf Minuten fast reglos an, bevor er Hermine endlich wieder ansah. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck der absoluten Fassungslosigkeit und Freude.
„Hermine, das ist absolut großartig!" rief er schließlich und bevor Hermine es sich versah, hatte er sie in seine Arme gezogen. Sie erwiderte die Umarmung.
„Ich wußte, daß du es verstehen würdest." Sagte sie erleichtert. Severus sah sie tadelnd an.
„Wenn du dieses Angebot nicht annehmen würdest, würde ich dich eigenhändig dort abliefern. Es wäre der Wahnsinn, zwei Semester Zeitersparnis zu verschenken!
Das müssen wir unbedingt feiern, Hermine!" Hermine lachte nickend und lehnte sich, nachdem er sie losgelassen hatte mit ihrem Kopf an seine Schulter. Eine Weile blickten sie schweigend auf den See hinaus, bis Hermine die angenehme Stille noch einmal unterbrach.
„Ich werde dich sehr vermissen, Severus." Severus grinste.
„Ich dich nicht." Entgegnete er vollkommen ungerührt. Das Grinsen wurde noch ein wenig breiter, als sie in eine kerzengerade Sitzhaltung hochfuhr und ihn gekränkt und ungläubig anblickte. Seine Schultern zuckten, als er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, doch schließlich gewann das Lachen die Oberhand.
„Dein Gesicht ist Gold wert." Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog ihren Kopf sanft, aber bestimmt in seine vorherige Position zurück. „Natürlich werde ich dich vermissen, auch wenn die Ruhe herrlich sein wird, wenn endlich niemand mehr da ist, der die tiefsten Geheimnisse meiner Seele aus mir herauspressen möchte." Seine Stimme tropfte vor Sarkasmus.
„Ich habe kein Problem damit, Sesha ein paar Tips zu geben, bevor ich Hogwarts verlasse."
„Wag es dich!" knurrte Severus und zerzauste ihr ohnehin sehr widerspenstiges Haar noch ein wenig mehr.
Als Hermine am vierzehnten April in den Hogwarts-Express stieg, der extra zu diesem Anlaß für sie fuhr, hatten sich alle Lehrer auf dem Bahnsteig von Hogsmeade versammelt. Die Zwillinge und Percy waren bereits einige Wochen zuvor auf die gleiche Weise nach Hause zurück gekehrt und Hermine vermutete, daß es eine Art besonderes Abschiedsgeschenk von Dumbledore für seine tapferen Kämpfer war.
Nach einer langen Abschiedsrunde, mit Umarmungen und Küßchen auf die Wange von fast jedem Anwesenden, war die Reihe endlich an Severus. Hermine und Severus blickten sich eine ganze Weile stumm in die Augen, bevor Severus sie endlich in seine Arme zog und so fest an sich drückte, daß ihr bald die Luft weg blieb.
„Hermine, du bist die erste Gryffindor, zu der ich das sage. Ich bin unsagbar stolz auf dich und das, was du erreicht hast und auch noch erreichen wirst.
Und ich hoffe, daß du wieder zurückkommen wirst, wenn du einen bravourösen Abschluß geschafft hast, um mich ein wenig zu entlasten." Hermine vergrub ihr Gesicht glücklich in Severus' schwarzen Roben und nickte.
„Ganz sicher. Ich lehre zu gern, um dir nicht deinen Job wegzuschnappen, sobald ich besser bin als du." Neckte sie ihn und erntete dafür mal wieder einen vollkommen zerstörten Lockenkopf.
„Komm gesund wieder, widerwärtiger, alles wissender kleiner Gryffindor." Zwinkerte er ihr zu. Sie nickte und ging langsam auf den Zug zu. Bevor sie einstieg, warf sie noch einmal einen Blick zurück auf die Lehrer auf dem Bahnsteig, die sie alle lächelnd ansahen. Einige, wie Minerva, hatten Tränen in den Augen. Als ihr Blick hinüber zum Schloß glitt, wußte sie, daß sie hierher zurückkehren würde, immer wieder, egal, was das Leben noch brachte. Hier in Hogwarts war ihr Platz.
Entschlossen stieg sie in den scharlachroten Zug ein und wenige Augenblicke später fuhr er aus dem Bahnhof von Hogsmeade heraus.
Severus blickte ihm nach, bis er hinter dem nächsten Hügel nicht mehr zu sehen war und wandte sich dann zum Gehen um. Die meisten Lehrer waren schon vorgegangen. Und die, die mit ihnen gewartet hatten, bis der Zug außer Sichtweite war, waren bald schon ein gutes Stück voraus. Einzig Harry blieb die ganze Zeit über an seiner Seite.
„Ich werde auch bald zurück nach London gehen." Hörte Severus plötzlich die Stimme seines Sohnes. Überrascht blieb er stehen.
„Wann?" Harry hörte die leichte Note von Angst in seiner Stimme, doch irgendwann mußte er es ihm doch sagen.
„Am Ende des Schuljahres. Ich werde mit den Schülern zurück nach London fahren." Severus nickte, seine Lippen fest aufeinander gepreßt, kaum mehr als ein dünner Strich.
„Ich weiß jetzt endlich, was ich aus meinem Leben machen möchte." Diese Nachricht wiederum schien Severus Gefühle doch wieder ein wenig zu ändern, denn plötzlich hellte sein Gesicht sich wieder auf. Er wußte nur zu gut, wie verzweifelt Harry in den letzten vier Monaten nach einem Sinn in seinem Leben gesucht hatte. Und wenn er ihn endlich gefunden hatte, dann war es auch in Ordnung, wenn er nach London zurückkehrte. So gerne er ihn auch hier behalten hätte.
„Und was willst du machen?" Harrys Wangen färbten sich ein wenig rot vor Begeisterung, als er anfing, seinem Vater von seinen Plänen zu erzählen.
„Also zuerst werde ich in London zur Universität gehen und mich zum Medizauberer ausbilden lassen. Und wenn ich das dann geschafft habe, werde ich mich auf Zauberer spezialisieren, die ähnliche Verletzungen haben, wie deine Beinverletzungen. Ich habe nachgeforscht und es gibt eine Menge Krankheiten und Verletzungen, die ähnlich wie deine nicht mit Magie allein geheilt werden können, aber wenige Medizauberer, die sich wirklich mit Physiotherapie auskennen. Ich möchte diese Lücke ausfüllen." Severus war ehrlich überrascht. Er hatte mit vielem gerechnet, von einem eigenen Geschäft bis zu irgendeiner Muggeltätigkeit, aber ganz sicher nicht damit, daß Harry ausgerechnet Medizauberer werden wollte.
Doch der Gedanke gefiel ihm, er gefiel ihm sogar sehr. Und er wußte, daß Harry die Begabung dafür hatte, auch wenn er sich bisher wenig begeistert gezeigt hatte, wenn es darum gegangen war, zu lernen. Mit einem solchen Ziel würde sich sicher auch diese Schwäche Harrys schnell bessern.
„Das ist ein großer Plan, Harry." Antwortete er vorsichtig, vielleicht ein wenig zu vorsichtig, denn Harrys Gesicht verdüsterte sich sofort ein wenig.
„Aber ich bin mir sicher, daß du es schaffen kannst." Fügte Severus deshalb schnell hinzu und atmete erleichtert auf, als Harry wieder strahlte.
Der Abschied von Harry fiel genauso herzlich aus, wie der von Hermine knapp zweieinhalb Monate zuvor. Einzig von Severus blieb die herzliche Umarmung aus, aber das war nicht weiter schlimm, denn Vater und Sohn hatten den herzlichen Teil ihres Abschieds bereits im Schloß hinter sich gebracht.
Schließlich bestand immer noch das Übereinkommen zwischen ihnen beiden, der allgemeinen Öffentlichkeit ihre wahre Beziehung zueinander zu verschweigen.
So kam es, daß Harry sich vor den Schülern mit einem freundschaftlichen Händedruck von Severus begnügen mußte, aber das war mehr als genug, denn in den Augen seines Vaters konnte er alles sehen, was er fühlte. Seinen Stolz auf seinen Sohn, daß er ein Ziel in seinem Leben gefunden hatte, seine Liebe zu ihm, der Schmerz über den langen Abschied, die Freude auf das nächste Wiedersehen.
Und auch Harry wußte mit Sicherheit, daß er wiederkommen würde. Zwar nicht für immer, wie Hermine es wollte, doch sicher oft und auch mal länger.
Und wieder blieb Severus so lange auf dem Bahnsteig stehen, bis der Zug hinter dem Hügel verschwunden war. Er fühlte sich glücklich, aber gleichzeitig so merkwürdig leer. Es war ein komisches Gefühl, Harry abreisen zu lassen.
Vor etwas mehr als einem Jahr noch hatte er sich nichts mehr gewünscht, als daß Harry nicht kommen würde. Alles hätte er darum gegeben, den Jungen fernzuhalten und seine Fassade aufrecht erhalten zu können.
Wie sich in einem einzigen Jahr doch alles verändert hatte.
Mit einem traurigen Lächeln wandte er sich um und bot Sesha seinen Arm an. Sesha hakte sich bei ihm ein und gemeinsam gingen die beiden zum Schloß zurück.
Aber es hatte sich zum Guten verändert und Severus wollte nichts davon mehr missen.
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Author's Note:
Wie um es zu beschreien, habe ich eben erstmal nachgesehen, ob ff.net heute überhaupt geht. Ich bin fertig, es konnte also gar nicht anders sein, als daß diese verkackte Seite mal wieder nicht geht. Zumindest eben und zumindest bei mir... na ja, vielleicht klappt es ja gleich wieder, ich hoffe weiter.
So, meine lieben Kinderschens, das war es nun, das letzte Kapitel. Jetzt kommt nur noch ein Epilog, die eigentliche Story aber ist vorbei.
Ich hatte ja schon gesagt, die Begegnung zwischen Sev und Harry ist "anders". Ich wollte sie nicht mehr streiten lassen. Darum entschuldige ich mich hiermit förmlich bei allen, die auf einen großen Knall vor dem Happy End gehofft haben, aber ich war es ehrlich gesagt leid und ich denke, die Protagonisten auch.
Und um auch gleich die nächste Frage zu beantworten, die garantiert aufkommen wird: Die Lücke war Absicht. Diese Story hier war nur dazu da, Sevs Leben wieder ein wenig in die Reihe zu rücken und Harry die ganze Geschichte erfahren zu lassen. Was in den 3-4 Monaten passiert, die ich unverschämter Weise einfach mal ausgelassen hab, wird noch in einer ganz eigenen Geschichte gezeigt werden. Ich fand, daß die beiden das verdient haben *g* Es wird sicher vom Umfang her nicht ganz so ausführlich werden, aber ich wollte diese Sache nicht zu einem einfachen Nebenstrang einer Liebesgeschichte werden lassen.
Nächste Woche werde ich euch noch ganz genau mitteilen, was ich für das "Giftmischer Universum" noch so geplant habe, sämtliche Spinoffs und Fortsetzungen, die mir inzwischen eingefallen sind und sicherlich auch noch geschrieben werden.
So, und schon bin ich schon wieder fertig mit Dummgelaber und komme zu euren Kommis ^_^
Serafina:
Jupp, festes Versprechen und diesen Donnerstag (ach nee?!!!? *gg*) - Na ja,
falls du das hier doch erst am Freitag lesen kannst: Ich war es nicht, sondern
ff.net *g* (-- ist ein wunderbarer Sündenbock, wie ich finde)
Hm, dann wird es vielleicht gerade dich ja besonders freuen, was ich nächste
Woche so zu den kommenden Geschichten erzähle, was?
Herm: Ich fürchte, heute tut der Hintern noch mehr weh oder (zweitlängstes Kapitel der ganzen Story)... ich fand Sev übrigens erschreckend freundlich, total OOC, aber es war mal eine gute Abwechslung, ihn so zu beschreiben... ach ja und: Gut, daß ich nicht erschossen werde ;o)
Tolotos:
Ich hab dich auch lieb *megaknuddel* ^_^ - Mit deinen Ablegern liegst du gar
nicht so falsch... nur das mit Sesha werde ich wohl nicht schreiben. Den Fokus
auf einen OC zu legen, wäre wohl doch so ein bißchen... na ja, die meisten
richtig schlechten Geschichten sind so aufgebaut *g*
Der Gedanke mit Aidan und Draco kam mir auch zwischendurch mal, aber für den
hatte ich ganz andere, vollkommen unpassende Pläne, wie du siehst.
mbi: Du machst mir mit deiner Treffsicherheit manchmal so richtig, richtig Angst, weißt du das? *g* (also das mit dem Wegrennen und der Angst, daß der andere einen nicht sehen will war wohl mal wieder Bull's Eye) Und Friede Freude Eierkuchen wird die gesamte Annäherung auch nicht werden, auch wenn hier so ein bißchen der Eindruck aufgekommen ist. Ich denke, bis ich dazu komme, die Geschichte zu schreiben, hab ich auch wieder genug Energie dafür, zwischen den beiden die Fetzen fliegen zu lassen *lol*
Tja, das hatte ich lange nicht mehr, nur 4 Reviews, aber die Zeit war auch sehr kurz und da meine Updates neuerdings unregelmäßig kommen, haben einige es wohl auch noch nicht bemerkt *kicher*.
Das war es dann heute von meiner Stelle. Ach nein, eins muß ich doch noch sagen: So dumm sich die Seite selbst in letzter Zeit auch anstellt, die Leser hier bei ff.net sind einfach die besten!!! *einmal die ganze Runde knuddel*
Ich peile den nächsten Donnerstag an und bin wirklich ehrgeizig, den Epilog dann fertig zu haben.
Bis Donnerstag
SilentRose
