KAPITEL 4

Jonathan war sich absolut sicher, dass ihn Clarks Schreie für den Rest seines Lebens in seinen Albträumen heimsuchen würde. Er hatte zu lange in die klaffende Wunde gestarrt, sodass sich das Bild bereits in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Ohne Blut glühte der kleine Splitter in Clarks Knochen grün.

Er hatte damit gerechnet, dass die Wunde bluten würde, schließlich hatte sein Sohn bewiesen, dass er dazu Mensch genug war, aber es blieb einfach nur ein Loch zurück. Das restliche Stück grüner Meteorit hob sich deutlich vom Muskelgewebe ab. Einen momentlang betrachtete Jonathan den Anblick mit krankhafter Faszination, nur um gleich darauf zur anderen Seite der Höhle zu hetzen und sich dort zu übergeben. Später, als er sich wieder gefasst hatte bemerkte er, dass das Stöhnen aufgehört hatte. Clark war bewusstlos. In Panik zerrte Jonathan an ihm, ohrfeigte ihn, aber nichts bewirkte eine Reaktion. Nachdem Mr. Kent eingesehen hatte, nichts tun zu können, kroch er hinter Clark, nahm ihn in eine feste Umarmung, vergrub sein Gesicht im ebenholzfarbenen Haar seines Sohnes und weinte.

Die Minuten vergingen schleppend und Fragen bedrückten ihn.

*Warum kann ich kein besserer Vater sein? Warum wiederhole ich die Fehler meines Vaters, warum kann ich nicht offener sein und verständnisvoller, liebevoller? Warum beurteile ich Clark danach, wie mich mein Vater beurteilt hatte?*

Als sie Clark adoptiert hatten, war er überglücklich gewesen. Jetzt hatte er die Chance, die Fehler, die sein eigener Vater begangen hatte zu richten. Nicht, das Hiram Kent ein böser Mann oder ein besonders schlimmer Vater gewesen wäre, er war einfach immer so distanziert gewesen. Jonathan kam irgendwie nicht an ihn heran und konnte mit ihm nicht über Dinge sprechen, die ihn berührten. Und dann wurde ihnen dieses unbegreifliche Geschenk zuteil. Damals schwor er, sich für seinen Sohn zu ändern: er würde da sein, er würde zuhören. Aber dann entwickelte Clark diese erstaunlichen Fähigkeiten und seine noblen Absichten wichen Angst. Angst, dass Leute es bemerkten und ihnen Clark wegnehmen könnten. Angst, dass Männer wie Luthor Clark für sich und ihre Zwecke ausbeuten könnten und das ist sogar schon passiert, mit Phalen. Ihm wurde eiskalt, wenn er daran dachte, dass es wieder geschehen könnte.

Seine Angst hatte ihn zuweilen unvernünftig werden lassen. Er hatte Clark verboten Sport zu treiben, aus Angst sein Sohn könne im Eifer des Spiels unvorsichtig werden. Dann hatte Clark vorübergehend seine Fähigkeiten verloren und konnte nun endlich spielen. Ihm wurde bange als er sich daran erinnerte, wie viel Spaß sein Sohn bei einem einfachen Basketballspiel gehabt hatte. Er hatte Clark so viel in seinem Leben versagt und zwar nur wegen seiner verdammten Angst. Sein Misstrauen und seine Angst bezüglich der Luthors reichten sogar so weit, dass er versucht hatte Clark die Freundschaft zu Lex zu verbieten. Der Gedanke Lionel Luthor könnte von Clarks Einzigartigkeit erfahren, erzeugte erneuten Brechreiz bei ihm.

Jonathan lehnte an der Felswand, seinen bewusstlosen Sohn an seiner Brust wiegend. Seine Arme zitterten noch immer aus Angst und Nachwirkung und er dachte an Clarks unbezähmbaren Willen und dessen Wunsch, jedem mit seinen Kräften helfen zu wollen, der es brauchte.

*Ich hätte ihn dazu gezwungen sich zu verstecken obwohl er doch nur helfen will. Ich würde ihn vor der Welt beschützen obwohl er nur ein normales Leben führen will. Clark sagt immer er würde es verstehen und doch bricht es ihm das Herz immer nur zusehen zu müssen…ich verdiene ihn nicht.*

„Oh Clark!", ohne es zu merken verwandelten sich seine Gedanken in Wörter. „Erkennst du denn nicht, dass ich dich nur beschützen will? Du bist das Wichtigste in unserem Leben und wenn wir dich verlieren sollten…Ich wüsste nicht wie deine Mutter und ich weitermachen könnten. Alles andere wäre bedeutungslos. Das weißt du doch, oder? Die Farm, das Haus, nichts hätte mehr Bedeutung ohne dich.", flüsterte Jonathan und sein Atem streifte Clarks Haar. Jetzt konnte er Clarks ungewöhnliche Hitze spüren und ein weiteres Flüstern schwebte durch die Höhle. „Bitte, Gott, lass meinen Sohn leben."

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Martha raste auf der Straße zum südlichen Weideland und hinter ihr wehte ihr rotes Haar wie eine Fahne. Der Weg war nach dem Regen erstaunlich griffig und sie gab der kraftvollen Maschine soviel Stoff wie sie wagte. Es war schon einige Zeit vergangen seit sie mit der große Harley gefahren ist und noch mehr bevor sie sich entschieden hatte es zu versuchen. Dennoch gab sie Vollgas, denn ihre Angst wog jeden Gedanken an Gefahr und Geschwindigkeit auf. Die grünen Felder flogen an beiden Seiten vorüber, aber sie war nur beunruhigt über das, was vor ihr lag.

„Bitte lass es einen Irrtum sein. Bitte lass mich Unrecht haben.", immer wiederholte sie dieses Mantra während der Wind um ihre Ohren pfiff. Endlich erblickte sie den Truck vor sich und bremste ab.

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„Jonathan!"

In seinem Traum lag er neben Martha auf der Hängematte, sie lachten über einen dummen Witz, den er ihr erzählte, zufrieden zusammen zu sein und sich in den Armen zu halten. Es kam nicht oft vor, dass sie nachmittags faul herumlagen, aber da die Arbeit erledigt war und Clark ein Schläfchen hielt, hatten sie sich entschieden den Moment zu nutzen und einfach sie selbst zu sein.

„Jonathan! Clark!"

Jonathan runzelte die Stirn. Warum sollte ihn Martha rufen? Sie saß doch neben ihm. Und warum war sie so panisch? Irgendetwas muss passiert sein, aber sein Gehirn wollte den friedlichen Traum nicht so einfach aufgeben.

„Jonathan! Antworte! Um Himmels Willen, antworte doch!"

Die Sorge in ihrer Stimme kam schließlich bis zu ihm durch und er schrak auf. Er blinzelte, überrascht dass es so dunkel war und plötzlich überfluteten ihn die Ereignisse des Tages. Er verließ seinen Platz hinter Clark und stand auf, sich mit einer Hand an der Wand festhaltend, sodass er sein Gleichgewicht halten konnte. Er musste sie aufhalten, ehe sie noch näher kam!

„Martha!" schrie er. "Halt! Bleib wo du bist! Bewege dich nicht!"

„Jonathan?" Martha suchte das Feld ab. Sie hörte ihn, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. „Wo bist du? Ich sehe dich nicht."

„Wir sind irgendwo zwischen Truck und Traktor…in einer Art Höhle."

„Ist Clark bei dir?" Es folgte eine Pause und die Stille ließ Marthas Herz wild schlagen.

„Ja, er ist hier."

Auch auf die Entfernung hin und über den starken Wind hinaus konnte sie den Bruch in der Stimme ihres Mannes hören. „Jonathan, ist alles in Ordnung?", wieder nur Schweigen.

Jonathan legte seine müde Hand auf seine Stirn, wie sollte er es ihr sagen? Wie konnte er ihr sagen, dass ihr unverletzbarer Sohn bewusstlos war und wahrscheinlich unter der Erde, die sie so lange gestützt und ernährte hatte sterben wird?

„Jonathan!"

Er konnte sie näher kommen hören. „Warte, Martha! Clark ist…Martha, die ganze Höhle ist mit Meteoritensteinen übersäht und er ist verletzt."

Martha hielt sich die Hände vors Gesicht und musste ums Gleichgewicht kämpfen, als sie die Erinnerung an ihren Traum überkam. Sie konnte jetzt nicht aufgeben. Sie musste jetzt ruhig bleiben. Sie musste ihren Sohn retten.

„Was soll ich machen?", fragte sie und sah sich um. Das lange Gras bewegte sich in der sanften Briese wie Wellen. Martha blinzelte und folgte dem Weg vom Traktor zum geparkten Truck. Dann fiel ihr eine geringfügige Veränderung in der Landschaft etwa 18 Meter vor ihr auf. „Ich glaube ich sehe es."

Jonathan hatte keine Zeit darüber nachzudenken und zögerte nicht. „Ich möchte, dass du das Seil von der Ladefläche holst. Wenn du dir sicher bist wo wir sind, fahr mit dem Truck etwa fünf Meter heran und mach das Seil an der vorderen Stoßstange fest. Dann kriechst du an den Rand des Lochs und wirfst das Seil runter. Ich binde dann einen Knoten und du kannst uns raufziehen. Alles klar?"

Martha nickte und war schon dabei den Truck in die richtige Position zu bringen. „Alles klar. Ich bin gleich da."

In der Höhle waren alle Geräusche verstärkt und so konnte Jonathan seine Frau zum Truck laufen hören. Er hörte wie das Auto ansprang und das Rumoren des Getriebes als sie losfuhr und langsam vorwärts kroch. Er hörte, wie das Gras unter den dicken Rädern zerbrach als sie näher kam. Er hörte genau wann sie das Auto auf Parken schaltete und es laufen ließ während sie das Seil an der Frontstoßstange festband. Das Stroh raschelte als sie sich dem Loch näherte. Er konnte fast sehen, wie es sich wiegt wenn sie daran vorbeigeht. Dann wurde das Gras, was sie vollständig versteckt hatte zur Seite gedrückt und aus Gottes Himmel sah ein Engel auf ihn hinab.

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Marthas Hände waren nie schneller gewesen. Sie band den Seemannsknoten in Rekordzeit, Gott sei Dank erinnerte sie sich an ihr Pfadfindertraining. Das Ende des Seils steckte sie in die Gürtelschlaufen ihrer kurzen Hose und kroch auf ihrem Bauch zum Verlies von Mann und Sohn. Das dichte Gras machte es fast unmöglich etwas zu erkennen, weswegen sie sich mit ihren Händen vorantastete. Nach einer Weile fassten ihre Hände Luft und sie schob das Grass zur Seite. Als sie direkt in die Höhle hinuntersah, war ihr, als ob sie geradewegs in die Tiefen ihrer persönlichen Hölle blickte.

Jonathan stand in der Mitte des Lochs, sein blondes Haar war mit getrocknetem Blut bedeckt und Martha konnte den Schnitt sehen, der an der Seite seines Kopfes entlanglief. Seine Sachen waren mit Schlamm und Dreck verschmiert, und einigen anderen, dunkleren Flecken, deren Ursprung sie nicht sofort ergründen wollte. Unsicherheit lag in seinem Gesicht und Müdigkeit und Schmerz zeichneten sich um seine beunruhigten Augen ab.

„Wo ist Clark?" fragte sie, ihre Angst nicht länger unterdrücken könnend.

Jonathan sagte nichts, nur sein Blick wechselte zwischen ihrem Gesicht und einer Stelle auf dem Boden hin und her. Als Martha seinem Blick folgte, konnte sie den Schrei nicht länger unterdrücken.

Direkt unter ihr befand sich ihr Sohn. Er lag auf dem Rücken, sein linkes Hosenbein war entfernt worden und so konnte sie die offene, schwarze Wunde an seinem Oberschenkel erkennen. Sein T-Shirt, das noch so weiß war, als er es am Morgen getragen hatte, war nun durch den Schmutz und das Blut ganz schwarz. Sie sah die tiefen Schnitte auf seiner Brust, die er sich während des Falls zugezogen hatte. Normalerweise war seine Haut hell, aber jetzt war sie unglaublich blass, was die Veilchen auf seinem hübschen Gesicht umso mehr hervorhoben. Auch sein mühsames Atmen konnte sie hören.

„Ein Stück Meteor steckt in seinem Knochen fest. Ich hab's nicht rausbekommen. Ich glaube…", und für einen kurzen Moment fiel Jonathans Gesicht in sich zusammen, bis wieder die Ruhe, an der er den ganzen Nachmittag gearbeitet hatte, die Kontrolle übernahm. „Ich glaube, dass es ihn umbringt. Wir müssen ihn nach Hause bringen und das Ding entfernen bevor es zu…wir müssen uns beeilen."

Martha nickte und wischte sich hastig die bedrohlichen Tränen weg. *Jetzt ist keine Zeit zum Weinen, Martha Kent*, sagte sie sich stur. *Du wirst dich zusammenreißen.* Dann ließ sie das Seil zu ihrem Mann runter und sah zu wie er eine Art Schlaufe daraus knotete. Sie schreckte zurück als er sie über Clarks verletztes Bein zog und sie schluckte weitere Tränen herunter, als ihr Sohn vor Schmerzen stöhnte. Martha hörte wie Jonathan mit ihm sprach, beruhigende Worte, und sie hoffte dass er sie hören konnte. Indem er Clark fest an sich drückte stand Jonathan auf und Martha wusste, dass sie handeln musste.

Jonathan lauschte wie Martha durch das Gras zurück kroch. Danach bewegte sich der Truck und er und Clark schwebten über dem Boden. Zentimeter um qualvollen Zentimeter erhoben sie sich in die Luft als Martha den Truck wegfuhr. Mit einer Hand hielt er Clark fest und mit der anderen umfasste er das Seil. Clark stöhnte und seine Augen begannen sich unruhig hin und her zu bewegen. „Halt durch, Junge, wir haben's fast geschafft." Diesen zusichernden Satz wiederholte er immer wieder. Auf einmal waren sie in gleicher Höhe mit dem Grass und glitten der untergehenden Kansassonne entgegen.