KAPITEL 8

Jonathan hielt das abgegriffene Buch in seinen Händen und strich abwesend mit den Fingern über den Einband, der über die Jahre weich geworden war. Er sah zu seinem Sohn und lehnte seinen müden Kopf gegen die Lehne des Schaukelstuhls, den Martha kurz nachdem ihr Lesemarathon begonnen hatte dort platzierte hatte. Der alte Stuhl gehörte früher zur Einrichtung dieses Zimmers, aber er hatte ihn vor Jahren weggestellt, als ihm Clark wegen etwas mehr Platz in den Ohren gelegen hatte. Jonathan strich über das glatte, abgenutzte Holz und schmunzelte. Es fühlte sich gut an wieder am Bett seines Sohnes zu sitzen. „Wenn nur die Umstände anders wären", seufzte er als er seinen Jungen betrachtete.

Seit fast zwei Tagen lasen sie ihm vor und redeten mit ihm, ohne große Pausen dazwischen. Wenigstens schien es Clark ein bisschen besser zu gehen. Er atmete tiefer als zuvor und seine Haut hatte etwas mehr Farbe angenommen. Martha hatte Clarks Verletzungen genau beobachtet und dabei festgestellt, dass sie zwar noch nicht ganz verheilt waren, sich aber verbesserten. Sie konnte sehen, wie das Gewebe der tiefen Schnitte auf seiner Brust sich schloss. Und die Wunde am Bein hatte ihre leuchtend rote Farbe verloren und war jetzt nur noch leicht pink an den Rändern. Wenn Clark nur einige Anzeichen aufzuwachen geben würde, könnten sie beide aufatmen.

Martha kam schnell herein und setzte sich neben Clark. Mit fürsorglicher Hand streichelte sie über seine Stirn und strich ihm so die wilden schwarzen Locken zurück, die schon immer einen Eigenwillen gehabt hatten. Sie musste über die Erinnerung lachen, an all die Jahre in denen sie versucht hatte Clarks Haar zu bändigen.

„Was ist?", fragte Jonathan sanft. Er konnte sie von der anderen Seite des Bettes aus lächeln sehen und wunderte sich darüber.

Seine Frau schüttelte sacht ihren Kopf. „Nichts", sagte sie in heiserem Flüstern. Die langen Stunden in denen sie geredet hatte, verlangten ihr Tribut. „Du findest es bestimmt albern." Sie sah ihren Mann fast schüchtern an.

„Nein, das werde ich nicht. Sag schon." Jetzt lächelte sie.

„Ich habe gerade an Clarks Haar gedacht", beichtete sie, „und daran, wie schwer man es glatt bekommt."

„Ah, ja", sagte Jonathan wohlwissend. „Haarzilla."

Martha starrte ihren Mann für einen Moment an bevor sie in Lachen ausbrach. „Jonathan!" Sie versuchte empört zu klingen, versagte aber. „Wo hast du das denn her?"

Jonathan stimmte in ihre Lachen mit ein. „Von Clark. Er kreierte das Wort als er um die dreizehn war. Und seitdem nennen wir es so."

„Dreizehn? Warum hab ich noch nie davon gehört?"

Er zuckte mit den Achseln und grinste hämisch. „Das ist `ne Sache unter Männern. Du weißt doch, dass Männer allem immer Spitznamen geben. Du weißt schon, wie…"

Martha drohte ihm mit weit aufgerissenen Augen. „Und an dieser Stelle endet dieses Gespräch, Jonathan Kent.", unterbrach sie ihn lachend.

Jonathan lachte ebenfalls, gab sich geschlagen und hob abwehrend die Hände. „Natürlich. Wie du willst. Ich versuche nur mich zu unterhalten." In dem Moment als die Worte seinen Mund verließen wusste er das es falsch gewesen war dies zu sagen. Marthas Lächeln verschwand und sie wandte sich wieder ihrem Sohn zu.

„Tun wir das richtige, Jonathan?", fragte sie während sie Clarks blasses Gesicht studierte. „Ist es wirklich das Beste, was wir tun können?"

Warme Hände umschlossen sie von hinten und Jonathan legte seine Hand auf ihre, die auf Clarks ruhte.

„Ja", antwortete er. „Es ist das Beste. Ich wollte grade ein anderes Buch anfangen. Willst du zuhören?"

„Möchtest du, dass ich es lese? Du bist schon die ganze Nacht hier."

Jonathan versteckte ein Lächeln. Seine Frau konnte kaum sprechen, geschweige denn lesen." „Nein, geht schon." Er lehnte sich im Schaukelstuhl zurück und nahm das Buch zur Hand. Er hielt es hoch, sodass sie es sehen konnte. „Ich dachte es wäre Zeit die großen Geschütze aufzufahren."

„Oh Jonathan! Wo hast du das denn gefunden? Danach hab ich die ganze Zeit gesucht."

„Versprich mir, dass du Clark nichts verrätst?" Seine Augen blitzten voller unterdrückter Belustigung.

„Versprochen." *Ich kann gar nicht warten das zu hören*, dachte sie.

„Unter seiner Matratze."

Martha wusste nicht, ob lachen oder weinen sollte, also tat sie beides. „Ich schätze unser Kind ist nicht so erwachsen, wie es uns immer glauben machen will."

„Ich vermute das ist angeboren. Ich finde immer noch „Unsere kleine Farm"-Bücher im Wohnzimmer." Martha lief ziemlich rot an und Jonathan grinste. „Keine Angst, deine beiden Geheimnisse sind bei mir sicher. Also, wollen wir jetzt?" Er öffnete das Buch und begann zu lesen.

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„Ich will nach Hause", betete Clark. Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg an seiner Wange hinunter. „Bitte, Gott, hilf mir, meinen Weg nach Hause zu finden."

Er war so müde. Er lief seit Tagen und sein Wille wurde schwächer. Wenn seine Eltern vorlasen oder sich unterhielten, folgte er ihren Stimmen und ruhte sich aus, wenn sie still waren. Aber die kein Ende nehmende Dunkelheit nagte an seinen Kräften und er wusste nicht, wie lange er noch durchhalten konnte.

Clark schloss seine Augen und stellte sich seine Mutter und seinen Vater vor. Er liebte sie so sehr. Manchmal fragten ihn Leute, ob er sich nach seinen wirklichen Eltern fragte und obwohl er antwortete, dass er sich manchmal fragte wer sie waren, wollte er doch eigentlich sagen, dass Jonathan und Martha Kent seine wahren Eltern waren. Sie waren die einzigen Eltern die er je kennen gelernt hatte. Hin und wieder sah er andere Gesichter in seinen Träumen, andere Leute die vielleicht seine Mutter und Vater waren. Aber er ist sich nie sicher gewesen, ob sie es wirklich waren, oder ob sie nur seiner Vorstellungskraft entsprangen. Wahrscheinlich würde er es nie erfahren. Trotzdem war er mit dem was er hatte zufrieden. Er war froh, dass ihn von allen Leuten in Smallville die Kents gefunden hatten. Und es brachte ihn fasst um daran zu denken, was sie grade durchmachen mussten.

„Sie müssen krank vor Sorge sein", sagte er der Dunkelheit. „Sie können nicht einfach einen Arzt oder einen Krankenwagen rufen, wie normale Menschen. Sie müssen den Verstand verlieren. Ich weiß, dass ich seit einer Weile hier bin und ich weiß auch wie besorgt Mom und Dad um mich sind wenn etwas passiert. Also musst du mich gehen lassen. Siehst du denn nicht? Ich muss nach Hause gehen. Sofort."

Clark wartete, aber die Finsternis gab ihm keine Antwort. Er wurde allmählich wütend. „Ich habe gesagt, ich will nach Hause gehen!" Tränen der Wut rannen seine Wangen entlang. „Ich will nicht länger hier sein! Hörst du mich?" Die Erschöpfung verflog als er in das Dunkel schrie. „Zeig mir wie ich hier rauskomme!"

Seine Stimme wurde zurückgeworfen, wirbelte hoch und fort in die Schwärze hinein, nur um dann als leises Flüstern zurückzukehren. Er brüllte nochmals. Ein Schrei reiner Frustration, der all die Wut und Einsamkeit, die ihn auffraß widerspiegelte und aus seinem Hals herausbrach. Der Schrei heulte wie eine dämonische Stimme. Wie ein wütender Tornado versuchte er ihn in die Tintenschwärze zu ziehen, weg von zu Hause, weg vom Klang der Stimme seines Vaters. Clark schloss seine Arme um sich und versuchte so den Strudel, den er hervorgerufen hatte abzuwehren. Plötzlich ebbte der Wind ab und hinterließ and dessen Stelle nur eine schreckliche Stille zurück. Clark sank auf seine Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Ich will nur nach Hause gehen.", flüsterte er gebrochen. „Ich will nach Hause gehen."

Woraufhin ein Geräusch durch das Nichts sickerte. Clark brauchte einen Moment um festzustellen, dass es sein Vater war. Ein Seufzer durchfuhr ihn und er begann vor und zurück zu schaukeln. „Es tut mir leid, Dad", stöhnte er elendig. „Ich kann den Weg nicht finden. Ich habe es versucht, aber ich kann den Weg nicht finden. Hilf mir. Bitte, kann mir irgendjemand helfen?"

„‚An dem Abend, als Max seinen Wolfspelz trug und nur Unfug im Kopf hatte,…'"

„Es funktioniert nicht, Dad", schluchzte Clark und schaukelte weiter vor und zurück. „Siehst du es denn nicht? Das ganze Leseding funktioniert nicht."

„‚…schalt seine Mutter ihn: „Wilder Kerl!" „Ich fress dich auf", sagte Max, und da musste er ohne Essen ins Bett. Genau in dieser Nacht wuchs ein Wald in seinem Zimmer - …'"

Die verdrängte Wut kochte wieder in Clark hoch. „Es funktioniert nicht!"

„‚…der wuchs…'"

„Hörst du mich denn nicht?"

„‚…und wuchs, bis die Decke voll Laub hing und die Wände soweit wie die ganze Welt waren….'"

„ES FUNKTIONIERT NICHT!", taumelnd stand er auf und schrie seinen Vater mit zitternden Fäusten an, als er Jonathans Stimme vernahm. "ES FUNKT…", Clark verstummte und holte tief Luft. Und noch mal. Er schloss seine Augen, fühlte wie seine Wimpern das untere Lid berührten und öffnete sie und schloss sie wieder, um sicher zu sein.

Vor ihm war ein Licht und es wurde heller.

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„‚…Und plötzlich war da ein Meer mit einem Schiff, nur für Max, und er segelte davon, Tag und Nacht und wochenlang und fast ein ganzes Jahr bis zu dem Ort, wo die wilden Kerle wohnen….'"

Martha lächelte als sie die vertrauten Worte hörte während sie Clarks Augenbraue weiter glatt strich. *Es kommt mir fast so vor, als ob Clark wirklich so lange fort ist.*, dachte sie traurig. Eine unerwartete Bewegung unter ihren Fingern ließ sie ihre Hand wegziehen und nach Luft schnappen.

Jonathan hörte auf zu lesen. „Martha? Was hast du? Was ist los?" Seine Besorgnis lag klar in seiner Stimme.

„Ich glaube…ich glaube, er hat sich bewegt.", äußerte sie leise, aus Angst, dass es sich als Einbildung herausstellen würde.

„Bist du sicher?"

„Ich weiß nicht. Lies weiter. Vielleicht passiert es noch mal."

Jonathan sah seine Frau lange an ehe er dem Buch vor sich wieder Aufmerksamkeit schenkte.

„‚…Und als er dort ankam, wo die wilden Kerle wohnen,…'"

Dieses Buch war Clarks absolute Nummer eins gewesen. Tatsächlich war es das erste Buch, das sie ihm je vorgelesen hatten. Martha hatte es ihm an dem Abend an dem sie ihn gefunden hatten vorgelesen.

„‚…brüllten sie ihr fürchterliches Brüllen und fletschten ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten ihre fürchterlichen Krallen,…'"

Als er älter wurde, hatte er es immer vor dem Einschlafen hören wollen. Clark hatte gebrüllt, wenn die wilden Kerle gebrüllt hatten und er hatte seine vorgetäuschten Krallen gezeigt. Jonathan musste über die Erinnerung lachen und hoffte, dass falls irgendetwas seinem Sohn einen Weg weisen könnte, falls irgendetwas den weitentfernten Ort erreichen könnte, an dem er festsaß, dann war es dieses Buch.

„‚…bis Max sagte: „Seid still!" und sie zähmte mit seinem Zaubertrick: Er starrte in alle ihre gelben Augen, ohne ein einziges Mal zu zwinkern. Da bekamen sie Angst und nannten ihn den wildesten Kerl von allen und machten ihn zum König aller wilden Kerle….'"

Während er las erinnerte sich Jonathan wie Clark über viele Stunden geübt hatte Dinge zu hypnotisieren indem er sie anstarrte. Er hatte es mit seinen Eltern und seinen Freunden versucht. Er hatte Kopfschmerzen bekommen als er mehr als ein Mal versuchte Max' Zaubertrick zu vollführen. Einmal hatte Jonathan ihn sogar beim Versuch erwischt, die Kühe zu hypnotisieren.

„Ich möchte der König aller wilden Kerle sein, Daddy", hatte Clark ihm damals gesagt.

Jonathan hatte gelacht. „Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen?" zog er ihn auf. „Das bist du doch schon."

„‚…„Und jetzt", rief Max, „machen wir Krach!"…'"

Da war es wieder! Diesmal hatte sie es ganz bestimmt gefühlt! Unter ihren Fingern zuckten die Muskeln in Clarks Gesicht, wenn auch noch so sachte. Sie zog ihre Hand zurück und nahm seine Hand in ihre. „Komm schon, Clark", sagte sie sanft über Jonathans Stimme. „Komm schon, Junge. Es ist jetzt Zeit nach Hause zu kommen."

Unter blassen Lidern begannen sich Clarks Augen zu bewegen. Für Martha sah es so aus, als würde er einen Film sehen, oder träumen. „Komm schon, Schatz. Wach auf für uns." Im Hintergrund, las Jonathan weiter und blickte gelegentlich in das Gesicht seiner Frau, auf der Suche nach Anzeichen dafür, dass sein Sohn ansprach. Er hörte wie ihre leise Stimme Clark ermutigte, die Augen zu öffnen, aufzuwachen. Ohne es zu bemerken ging er auf die andere Seite des Bettes und setzte sich hin. Er nahm Clarks andere Hand in die seine. Das Buch lag vergessen auf dem Boden, doch Jonathan fuhr fort, er erinnerte sich an die Worte.

„‚…„Schluss jetzt!", rief Max und schickte die wilden Kerle ohne Essen ins Bett. Und Max, der König aller wilden Kerle, war einsam und wollte dort sein, wo ihn jemand am allerliebsten hatte….'"

Clarks Finger drückten Jonathans Hand.

„‚…Da roch es auf einmal um ihn herum nach gutem Essen, und das kam von weither quer durch die Welt. Da wollte er nicht mehr König sein, wo die wilden Kerle wohnen….'"

Während Jonathan sprach, während Sendaks geliebte Worte aus ihm sprudelten, wiederholte er die ermutigenden Worte seiner Frau.

„Komm schon, Clark. Es ist Zeit, dass du und Max nach Hause kommt."

Jonathan und Martha war, als ob Clarks gesamtes Sein dem Kampf beitrat, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Sein Körper, der für so lange reglos dalag, war nun gespannt voller Energie. Seine Hände drückten ihre, seine Augen bewegten sich unaufhörlich, so als versuchten sie sich zu erinnern wie sie zu öffnen seien. Und trotzdem machte Jonathan weiter.

„‚…Aber die wilden Kerle schrien: „Geh bitte nicht fort – wir fressen dich auf -, wir haben dich so gern!" Und Max sagte: „Nein!"…'"

Clark konnte ihre Stimmen hören; er konnte sehen, wie der Weg immer klarer wurde. Schmale Strahlen hellen Lichts brachen aus der Mitte vor, fast wie die Sonne die Stormwolken durchbricht, die den Kansasfrühling regelmäßig heimsuchten.

*Ich komme!*, brüllte er dem Licht entgegen während er versuchte sich von den undurchdringlichen Fesseln zu befreien, die ihn festhielten. Es schien fast, als ob ihn dieser finstere Ort nicht gehen lassen wollte.

„‚…Die wilden Kerle brüllten ihr fürchterliches Brüllen und fletschten ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten ihre fürchterlichen Krallen. Aber Max stieg in sein Schiff und winkte zum Abschied….'"

Und plötzlich hörte es auf. Die böswilligen Ketten, die ihn an die anklammernde, erstickende Dunkelheit geschweißt hatten, waren fort und Clark fiel zu Boden und schnappte nach Luft. Um ihn herum war dieses helle Grau, dass ihm sagte, dass seine Augen geschlossen waren und die Sonne schien. Er fühlte wie seine Eltern seine Hände hielten. Er konnte sie riechen, sie atmen hören als sie sprachen.

„‚…Und er segelte zurück, fast ein ganzes Jahr und viele Wochen lang und noch einen Tag…'"

„Komm schon, Clark!", Martha hielt eine Hand an Clarks Gesicht und strich mit ihrem Daumen an seinem Wangenknochen entlang. „Wach auf, Schatz." Sie sah wie sich seine Augen langsamer bewegten und eine Welle der Angst schoss durch sie. Was wenn sie versagt hatten? Was wenn es nichts zu bedeuten hatte?

„‚…bis in sein Zimmer, wo es Nacht war und das Essen auf ihn wartete….'"

Clark ruhte sich aus um seine schwachen Kräfte zu sammeln. Der Kampf gegen die Dunkelheit hatte seine ganze Kraft gekostet, aber er hatte gewonnen. Die schwarze Leere, die ihn gefangen hielt war nirgends in Sicht.

„‚…und es war noch warm.'"

Er musste nur die Augen öffnen und er würde zu Hause sein. Clark holte tief Luft und bereitete seinen müden Körper auf die größte Herausforderung vor, der er je gegenübergestanden hatte.

ENDE