FÜNFTES KAPITEL ~ EIN KIND DER NEUEN ZEIT

"Éodin!" entfuhr es Éomer.

Da verstand Aragorn. Natürlich - das Mädchen musste Éomers Enkeltochter sein: Éodin, Elfweins einzige Tochter, die er hinterlassen hatte, aufgewachsen in Rohan, im Schutze Edoras', noch nie gesehen in Gondor. Welch erfreuliche Überraschung! Vermutlich war sie ihrem Großvater heimlich gefolgt, immer darauf bedacht, nicht vorzeitig entdeckt zu werden; doch aufgrund ihrer Dickköpfigkeit - sicher ein Erbe väterlicherseits - war sie hier, am Ziel ihrer Reise, von den Wachen aufgegriffen worden. Und er sah die gaffenden Gesichter der Männer rings umher - eine Frau in der Rüstung eines Kriegers! Das war ungewöhnlich und höchst aufregend dazu ... Und sie schien die Aufmerksamkeit gar noch zu genießen. Langsam erhob sie sich und schüttelte ihr Haar zurecht. Dann begann sie, scheinbar selbstvergessen, den Staub von ihrer Kleidung zu klopfen.

Aragorn beschloss, dem Schauspiel ein Ende zu bereiten, auch wenn ihm keineswegs missfiel, was er sah. Doch eine Dame aus königlichem Hause - und das war sie zweifelsohne, trotz ihrer unpassenden Aufmachung - war nicht dazu geeignet, diesen glotzenden Kerlen den Tag zu vertreiben. Ein kurzer Blick zu Arwen und Éomer, und sie zogen sich mit ihm in die Turmhalle zurück; Éomer bedeutete seiner Enkelin mit einer knappen Kopfbewegung, ihm zu folgen, was sie dann auch tat, wenngleich sichtlich widerstrebend. Und keiner seines Gefolges wagte sich auch nur zu rühren oder gar das Gesicht zu verziehen, nachdem er einen scharfen Blick in ihre Runde getan hatte.

Auf Aragorns ausdrücklichen Wunsch hin nahm der König der Mark auf dem steinernen Ehrensitz am Fuße der Empore Platz, um sein "Verhör" durchzuführen, wie er selbst mit grimmiger Miene ankündigte. Arwen hielt sich, fast unsichtbar, im Hintergrund, und Aragorn bemühte sich den Anschein unbeteiligter Gelassenheit zu geben; er lehnte sich an den Kamin, verschränkte die Arme vor der Brust und schlug ein Bein über das andere.

Innerlich aber rang er danach, seine Fassung wiederzuerlangen. Das Mädchen sah aus wie Éowyn, und doch war sie es nicht, konnte es nicht sein, denn Éowyn war tot. Dabei hätte man in der Tat meinen können, es sei die Schildmaid Rohans, die in diesem Moment vor Éomer stand, frei und aufrecht, das Kinn störrisch nach vorne geschoben. Kein bisschen Furcht zeigte sie, obwohl sie bei etwas Verbotenem ertappt worden war, nur unbeugsamer Stolz strahlte von ihr aus. Und weil Aragorn wusste, dass Éomer über denselben Stolz verfügte, war eine höchst lebhafte Unterredung zwischen Großvater und Enkelin zu erwarten ...

Éomer aber schwieg zunächst für lange Zeit und beobachtete die junge Frau mit halb geschlossenen Lidern. Sie wiederum ließ seine Musterung ebenso wortlos über sich ergehen; ihr Blick dabei war kühl und hart und ging an Éomer vorbei. Mit einem Mal aber atmete er hörbar ein und aus und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. "Was hast du dir nur gedacht, Kind ...", murmelte er schließlich mit mildem Tadel.

Sie schwieg, nur ihr Kinn wanderte noch ein wenig mehr nach oben.

"Wieso bist du nicht zu Hause, Éodin, wo du hingehörst?" fuhr er fort, eine Spur schärfer.

Da bröckelte ihr offensichtlich zur Schau gestellter Gleichmut. Ihre Augen schossen Blitze. "Zu Hause!" schleuderte sie ihm entgegen. "Was hab ich da zu erwarten?"

Aragorn musste sich ein Lächeln verkneifen. Heißes Blut hatten sie alle, die Rohirrim. Da war auch sie keine Ausnahme. Und Éomer - das wusste er - konnte man damit schon gar nicht beeindrucken.

"Sprich nicht so geringschätzig, mein Kind", hörte er Éomer denn auch gelassen erwidern. "Solange dich kein Mann heimführt - und das wird kaum geschehen, so wie du gerade aussiehst - , solange ist und bleibt Edoras das einzige Zuhause, das du hast. - Also, sprich, was tust du hier?"

Éodin blickte an sich herab. Ihr schien bewusst zu werden, dass sie, schmutzig und verstaubt, dazu in zerknitterter Männerkleidung, fürwahr keinen angemessenen Anblick für eines Königs Enkeltochter bot. Mit rascher Bewegung versuchte sie ihr widerspenstiges Haar zu bändigen, doch immer wieder fielen ihr die langen Locken ungebärdig ins Gesicht.

"Nun, ich warte", befahl Éomer mit gebieterischer Stimme, ganz der König, den Aragorn einst gekannt und der keinen Ungehorsam geduldet hatte.

"Immer nur zu Hause soll ich sitzen", murrte das Mädchen leise, nun recht kleinlaut. "Hinter hohen Mauern, wie in einem Gefängnis - beschützt und behütet ...", doch die beiden letzten Worte kamen wie Gift aus ihrem Munde.

"Altes Vorrecht der Frauen", versetzte Éomer, und seine alten Augen glommen düster.

Da hob Éodin den stolzen Kopf, und mit bebender Stimme, gleich einem Aufschrei aus tiefster Seele, rief sie: "Aber ich bin mehr als eine Frau! Ich bin deine Enkeltochter. Und wie du stamme auch ich aus dem Hause Eorls. Ja, du konntest deine Heldentaten vollbringen, Großvater, und deine glorreiche Schwester Éowyn ebenso. Beide seid ihr Helden, aus einer langen Reihe tapferer Vorfahren. Ich aber, um nichts weniger euer Fleisch und Blut, soll mein ganzes Leben verstreichen lassen, eingeschlossen und eingesperrt, bis ich zu alt bin, mir meine Verdienste zu erwerben, und zu abgestumpft, auch nur davon zu träumen?!"

Aragorn stockte der Atem. Dies waren doch auch Éowyns Worte, damals in Dunharg, in der Nacht vor seinem Aufbruch zu den gefahrvollen Pfaden der Toten. Verzweifelt hatte Éowyn gegen das ihr als Frau zugedachte Los aufbegehrt - wie nunmehr, vier Jahrzehnte später, ihre junge Großnichte. Diese Ähnlichkeit, äußerlich wie innerlich, war bestürzend. Und wie seinerzeit empfand Aragorn unsagbare Achtung und brennendes Mitgefühl, und wie damals wusste er auch heute keinen Rat und keinen Ausweg für sie.

Éomers Augen aber glänzten feucht. Er sank in sich zusammen, ein alter, gebrochener Mann, und flüsterte bekümmert: "Sehr bitter musste Éowyn ihren Mut büßen, sehr bitter ..." Und Éodin senkte das Haupt vor des Großvaters Trauer, doch ihre angespannte Haltung verriet unveränderten Freiheitsdrang. Alles schwieg.

Schließlich fasste sich Éomer und räusperte sich. "Wie konntest du deinem Bruder entwischen, und den langen Weg hierher meistern, ohne erkannt zu werden?" fuhr er müde fort.

"Bin ich nicht deine Enkeltochter?" gab Éodin mit funkelnden Augen zurück. "Hast nicht du, mein Großvater, mich alles gelehrt, was ich kann und weiß, nämlich dies: die Klinge wie ein Mann zu führen, zu reiten wie der Wind, weder Nacht noch Schatten zu fürchten?"

Éomer seufzte tief. "Erzähl weiter, Enkeltochter!" befahl er barsch, doch der verhaltene Stolz in seinen Augen war unübersehbar, und Aragorn wurde klar, dass eine sehr innige Bindung zwischen den beiden bestehen musste. Nach dem Tod von Frau, Sohn und Schwiegertochter waren die beiden Enkelkinder alles, was dem König der Mark geblieben war, und sicher war die kleine Éodin seine ganze Freude gewesen, vor allem, da sie seiner geliebten Schwester so sehr nachkam. Wahrscheinlich war dies auch der Grund dafür, dass außerhalb Rohans niemand das Mädchen zu sehen bekommen hatte; er musste sie all die Jahre wie seinen Augapfel gehütet haben. Aragorn konnte sich auch nicht daran erinnern, sie bei der Beisetzung ihrer Eltern gesehen zu haben, wahrscheinlich - er rechnete schnell nach - war sie noch zu jung und in der Obhut ihrer Amme. Danach aber hatte Éomer sich völlig zurückgezogen; er unternahm keine Reisen mehr und gestattete kaum noch Besuche. So kam es, dass Éodin völlig abgeschirmt von der Außenwelt aufgewachsen war, und nur so konnte es geschehen, dass so mancher seine eigenen Schlussfolgerungen daraus zog und gemeine Gerüchte in die Welt streute, die auch ihm zu Ohren gekommen waren: dass, gelinde ausgedrückt, Éodins mangelnder Liebreiz die Ursache für des König Rückzug gewesen sei - nun, dies war eindeutig widerlegt, wenn man sich die junge Frau ansah: schön trotz des Staubes, der hartnäckig an ihr haftete, an der reizvollen Schwelle zum Weibe, trotz der Männerkleidung, die ihre Figur nur unzulänglich zu verleugnen vermochte, seit ihre wahre Identität gelüftet war ...

Éodins Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. "Es war ein leichtes, Edoras bei Dunkelheit unbemerkt zu verlassen, und es war ein wahrhaftiges Vergnügen, frei durch die Nacht zu reiten", begann sie freimütig und stolz zu berichten. "Der glitzernde Sternenhimmel wies mir den Weg, und mein Ross wurde nicht müde, mich zu tragen. Beide genossen wir die Freiheit und den endlosen Ritt. Bei Tage rasteten wir nur wenige Stunden hinter Büschen oder Felsen versteckt, die Nächte ritten wir durch. - Ich hatte gehofft, dich noch einholen zu können, Großvater, und mit dir gemeinsam Minas Tirith zu erreichen, damit wir zusammen vor den König und die Königin Gondors treten." Sie hielt inne und sah ihn bittend an. "Du hättest mich nicht zurückgeschickt, Großvater, nicht wahr?"

Éomer bedachte sie mit strengem Blick. "Dein Bruder könnte mit Recht von mir erwarten, dass ich genau dies täte. Aber", und ein kleines Lächeln umflog seine Lippen, "ich glaube, ich hätte es nicht getan ..." Großvater und Enkelin sahen sich an, und die zarte Liebe zwischen dem alten Mann und dem jungen Mädchen versetzte die Luft in feinste Schwingungen und berührte Aragorn zutiefst.

Er hatte indes das familiäre Gespräch aber auch sehr aufmerksam verfolgt und an die Menschen in Edoras gedacht, und so sagte er zu Éomer: "Dein Enkelsohn hat Éodins Verschwinden sicher am Tage darauf bemerkt und sucht sie seither. Er wird in großer Sorge um sie sein. Ich werde unverzüglich einen Trupp losschicken, um ihm zu melden, dass sie hier und wohlbehalten ist."

"Dank sei dir, Bruder", sagte Éomer. Er wandte sich wieder an Éodin, auf deren Gesicht nun ein liebevolles Lächeln lag, das nur ihm galt. "Und was machen wir jetzt mit dir ...", sagte er mehr zu sich selbst und hob dabei nachdenklich die weißen Augenbrauen.

Éodin erwiderte nichts, aber ihr Lächeln vertiefte sich, und ihre Augen, fand Aragorn, sprachen Bände. Lass mich hier bei dir, Großvater, riefen sie - und er ertappte sich bei dem Wunsch, Éomer möge ihre unausgesprochene Bitte erfüllen.

Éomer lehnte sich indes zurück und schien mit sich zu kämpfen. Plötzlich aber, obenhin und wie selbstverständlich, sagte er zu Aragorn: "Und lass Éodor noch folgende Botschaft ausrichten: In meiner Obhut wird Éodin zurückkehren." Und er zwinkerte seiner Enkeltochter spitzbübisch zu.

"Großvater!" rief Éodin entzückt und strahlte. "Ich darf also bleiben? Ich darf nun also endlich mit eigenen Augen sehen, wovon du mir an den langen kalten Winterabenden so oft erzähltest? Du nimmst mich mit auf die Felder des Pelennor?" Berauscht von dieser Aussicht, begann sie mit weit ausgebreiteten Armen durch die Halle zu wirbeln.

Aragorn fand, sie sah in der Lederbekleidung aus wie ein kleiner Kobold. Ihr langes lockiges Haar wogte golden um ihren Kopf, Mund und Augen frohlockten in freudiger Erwartung. Sie war ein bezaubernder Anblick, und Aragorn wurde es warm ums Herz. Dies unterschied sie eindeutig von Éowyn, nie hatte er sie so herrlich unbefangen und glückstrahlend gesehen, nicht einmal bei ihrer Hochzeit mit Faramir. Aber Éodin war ja auch ein Kind des Neuen Zeitalters, und Krieg und Schrecken waren für sie niemals Wirklichkeit gewesen, sondern höchstens fesselnde Geschichten von früher. Ja, Éodin gehörte in diese neue Zeit, und mit der Vergangenheit verband sie nichts außer dem Mut, dem Stolz und dem Aussehen ihrer Vorfahren.

Und da gewahrte er plötzlich Arwen neben sich, das reinste Wesen Mittelerdes, wunderschön und uralt, auf ewig ihm verbunden. Und er wusste, er würde sie bis zu seinem Tode lieben, auch wenn ihn die Bürde um das Wissen ihres langen einsamen Fortlebens nach seinem Hinscheiden immer mehr niederdrückte. Dies war sein großer Kummer, doch sie sollte nichts davon wissen, da ihr schon so viel anderes Leid auferlegt war. Da legte er den Arm um sie und küsste sie sachte auf die Schläfe.

Éodin aber war wieder bei ihrem Großvater angelangt und redete, jetzt ganz Kind, atemlos auf ihn ein. "Du und der Herr Aragorn, ihr könntet mir doch die Kampfstätten vom Ringkrieg zeigen ... wir könnten die Plätze aufsuchen, wo dein Onkel, der große Théoden, seine letzte Schlacht anführte, und Éowyn, deine Schwester, ruhmreich den schrecklichen Nazgûl zu Fall brachte und seinem schwarzen Reiter mit letzter Kraft das Schwert ins untote Fleisch stieß ... ihr könntet mich zu Schneemähnes Grabhügel führen, Théodens tapferem Ross, und - "

"Stürmischer Eifer der Jugend!" unterbrach Éomer sie lachend. "Halt ein, Enkeltochter - König Aragorn hat anderes zu tun, als mit einem Kind alte Gräber aufzusuchen ..."

Und Aragorn sah Éodins Augen groß und zaghaft auf sich gerichtet. Wieder durchfuhr ihn das eigenartige Gefühl, Éowyn sei es, die vor ihm stünde und ihn flehend anblickte, wie damals, als sie ihn um etwas bat, was er ihr nicht geben konnte, nicht geben durfte. Doch dieses Mal lag es in seiner Macht, ihr zu gewähren, wonach sie verlangte, und es würde ihn nur ein klein wenig Zeit kosten, Zeit, die er gerne aufbringen wollte, um noch einmal in ihrer Nähe sein zu können, in Erinnerung an eine Frau, die ihn geliebt hatte, und die er niemals wirklich hatte vergessen können.

Er tauschte mit Arwen einen kurzen Wimpernschlag des Einvernehmens. Und er lächelte, doch seine Stimme klang ernst und respektvoll, und das Herz tat ihm weh in der Brust. "Es wird mir eine Ehre sein, dich, Jungfer von Rohan, zu all den Ruhmes- und Weihestätten zu geleiten." Und dann, zu Éomer, mit halb gespieltem Groll: "Und du, mein Freund, solltest dir eine gute Erklärung dafür einfallen lassen, warum du uns deine reizende Enkeltochter so lange vorenthalten hast ..."

"Und wann bekomme ich mein Schwert zurück?" sagte Éodin und lachte glücklich.

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Fortsetzung folgt ...