Besuch beim Nazgûl

Viele Bewohner Mittelerdes, besonders die aus den westlichen Regionen, waren der Ansicht, die Nazgûl wären mit Sauron für immer im ewigen, ätherischen Überhauptnichts verschwunden. Das war natürlich völliger Schwachsinn. Anscheinend hatten die Krieger aus dem Westen den kleinen wirbelsturmartigen Windstoß, mit dem sich Sauron verabschiedet hatte und an welchem die Nazgûl teilhaben durften, für eine Art Sog ins Jenseits gehalten. Dem war aber ganz und gar nicht so gewesen. Den armen Nazgûl waren durch die kräftige Windböe nur die Kutten weggeweht worden. Und unter seiner Kutte ist so ein Nazgûl zwar existent, aber kaum mehr als ein bisschen stickige Luft. Nachdem die herumirrenden Geister ihre schönen schwarzen Mäntel aus Felsenritzen, Bäumen, dem Meer und – oweh! – aus dem Maul eines hungrigen Wolfs gezogen, gefischt und gerettet hatten, hatten sie sich beschämt nach Minas Morgul zurückgezogen und die Stadt seither nicht mehr verlassen. Genau vor den Toren dieser Stadt stand nun Krumdûl und überredete einen schlechtgelaunten Sicherheits-Troll ihm doch Einlass zu gewähren. Er hatte sich für die Audienz bei den Nazgûl sogar die meisten Läuse aus den Haaren geschüttelt und trug seine beste Rüstung, die mit den Schädelaufsätzen auf den Schultern. Auch an ein Geschenk hatte er gedacht: Es war der Helm eines Kriegers aus Gondor, den er auf dem Schlachtfeld hatte mitgehen lassen. Schließlich ging dem Troll, der eigentlich nur seine Ruhe haben wollte, die Bettelei ziemlich auf die Nerven. So entschloss er sich, den Uruk durch die gespenstisch leeren Straßen Minas Morguls zu eskortieren. Krumdûl wurde mit jedem Schritt, der ihn näher zu den Ringgeistern brachte, mulmiger zumute. Es ist nun einmal so, dass Nazgûl und Orks einander verabscheuen. Die Nazgûl finden die Orks dumm und widerlich. Die Orks finden die Nazgûl gruselig und gemein. Beide haben nicht ganz unrecht. Krumdûl wurde von dem flauen Gefühl in seinem Magen abgelenkt, als ihn der Troll darauf hinwies, dass sie nun am Ziel angelangt wären. Daraufhin machte er sich brummend und seinen Streitkolben hinter sich herschleifend auf den Rückweg.

Der Ork starrte einige Sekunden auf die Tür der unheimlichen Zitadelle, in der die Nazgûl residierten, bevor sie von Geisterhand aufgezogen wurde. Zögernd betrat er eine düstere Halle, den Helm krampfhaft an sich gedrückt. Am anderen Ende der Halle stand eine Art Thron, auf dem, so schien es zumindest, ein Haufen alter Lumpen lag. Krumdûl trat darauf zu und brachte eine ungeschickte Verbeugung zustande. „Ein Ork!", zischten die Lumpen, die sich als Nazgûl herausstellten. Anstatt sich vorzustellen und seine Bitte galant vorzutragen fragte Krumdûl: „Wo sind die anderen acht?" „Ich darf dich berichtigen", zischelte der Nazgûl, „seit unser lieber Freund, der Hexenkönig von Angmar, von diesem unsäglichen, nichtswürdigen Hobbit", er krümmte sich vor schmerzlicher Erinnerung, „vernichtet wurde, bin ich das neue… hm, ‚Oberhaupt' von uns Ringgeistern. Während die anderen sieben – sieben, nicht acht, wohlgemerkt – nur Angst und Schrecken verbreiten müssen, bin ich für die Formalitäten zuständig." „Formalitäten?", echote Krumdûl. Er hatte von all dem nur die Hälfte verstanden und das Wort „Formalitäten" war ihm völlig neu. Der Nazgûl nickte, erhob sich ächzend und wanderte zu einem Tisch hinüber, auf dem verschiedene Flaschen und Tiegel standen. „Momentan stehe ich vor der schwierigen Aufgabe, unser  schauerliches Erscheinen durch einen geeigneten Duft zu vervollständigen." Neugierig trat der Uruk näher heran. „Hier." Das neue Oberhaupt öffnete eine bauchige Flasche mit scharlachroter Flüssigkeit. Sofort breitete sich der Geruch nach verbranntem Fleisch, Schwefel und Leiche in der ganzen Halle aus. „Es nennt sich ‚Schlacht am Schicksalsberg'", erklärte der Nazgûl dem schnüffelnden Ork, „Es ist gar nicht mal so übel. Herb, doch elegant. Dagegen…", er nahm eine Flasche mit grasgrünem Inhalt und zog den Korken heraus, was einen Duft nach verwelkten Blumen und Orkschweiß mit sich brachte, „…ist ‚Elbisches Elend' viel zu feminin." Er seufzte und wandte das schwarze Nichts unter seiner Kapuze Krumdûl zu: „Aber wie du siehst, habe ich noch einiges vor mir." Der Nazgûl öffnete eine Flasche mit der Aufschrift „Mitternacht in Minas Morgul", deren Inhalt Modergeruch und einen Geruch nach schlechtem Atem verströmte. Er tupfte sich etwas davon auf Handgelenke und Kutte. „Möchtest du auch etwas davon?", fragte er den Ork. „Nein", antwortete dieser. „Ich habe meinen eigenen Geruch." Das stimmte. Verglichen mit einem Ork duftete „Mitternacht in Minas Morgul" wie ein Rosengarten.

„Weshalb bist du zu mir gekommen, Ork?", wollte der Nachfolger des Hexenkönigs wissen. Das war gut, denn ansonsten hätte sich Krumdûl unverrichteter Dinge wieder verabschiedet. So aber verbeugte er sich abermals und sprach: „Also, es ist so, nämlich: Wir, ich und die Jungs, wir wollen Krieg. Orks brauchen Krieg, Orks leben für Krieg! Ja, und deshalb wollen wir einen neuen Herrscher, einen mächtigen, einen bösen, der uns wieder so richtig antreibt! Und deshalb soll ich fragen, ob… ob…", Krumdûl strengte sich mächtig an, um den mühsam erlernten Satz aufzusagen, „…ob Ihr uns Euer Einverständnis gebt." Ein leicht erschöpftes, aber auch sehr zufriedenes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Orks aus.  „Wir haben auch ein Geschenk für Euch!", fügte er noch rasch hinzu und drückte dem Nazgûl den Helm in die Eisenhandschuhe. Dieser gab weder einen Ton von sich, noch rührte er sich. Nur von Zeit zu Zeit drehte er den Helm in den Händen. Krumdûl, der glaubte, der Nazgûl sei in einer mystischen Meditation versunken, wollte sich schon zurückziehen.

Da geschah es. „Grandios!", donnerte der Ringgeist. „Grandios!" Der Ork warf sich vor Schreck auf den Boden und hielt die Arme schützend über den Kopf. Er kannte nur das zischende Flüstern der Nazgûl. Dass einer von ihnen laut wurde, war schon eine kleine Sensation. „Stimmt Ihr also zu?", fragte Krumdûl vorsichtig nach. „Natürlich!" Der Exkönig in Kutte knetete aufgeregt den Helm in seinen behandschuhten Klauen zu einem Metallklumpen. „Ein neuer Herrscher! Natürlich! Das ist es!" „Die Idee gefällt Euch also?", fragte Krumdûl abermals. „Ja, doch, törichter Ork!" Der Nazgûl wirbelte herum und steuerte auf den Tisch mit den Duftwässerchen zu. „Glaubst du etwa, es bereitet mir Freude, an Flaschen zu schnüffeln? Ha!" Damit warf er den Tisch um. Klirrend zerbrachen die kunstvoll geschliffenen Glasflaschen und im Nu erfüllten die ekelhaftesten Gerüche den Raum. „Auf, auf, Ork! Der neue Herrscher muss her!", rief er. Der Uruk stand auf und eilte dem losstürmenden Ringgeist hinterher. „Das ist ja sehr schön, wertes Oberhaupt", wandte er zaghaft ein, „aber wie holen wir uns so 'nen Herrscher?" „Rauben wir uns einen?", fragte er hoffnungsvoll. Um zu vertuschen, dass er noch keinen einzigen Gedanken an das „Wie?" verschwendet hatte, lachte der Nazgûl gekünstelt: „Nein, du dummer Ork! Ich weiß schon einen Weg, vertrau mir!" Wäre Krumdûl kein Ork gewesen, wäre er misstrauisch geworden. Aber so nickte er treudoof und sagte: „Ach, so! Und übrigens, ich heiße Krumdûl."