Gelehrte unter sich

Mit der Begründung, einiges für die Beschaffung des neuen Imperators organisieren zu müssen, zog sich das Oberhaupt der Nazgûl in das höchste Zimmer des höchsten Turmes zurück. Einen ganzen Tag lang grübelte er, wägte ab, überlegte hin und her. Hätte er noch nennenswerte Haare besessen, hätte er sie sich wahrscheinlich gerauft, denn es wollte und wollte ihm keine Idee kommen. Erschöpft brach er zusammen und verbarg das nicht sichtbare Gesicht in den Händen. Auf einmal wurde die Wolkendecke über Minas Morgul vom funkelnden Licht eines einzelnen Sterns durchbrochen. Und es erschien dem Nazgûl eine Vision in Gestalt einer jungen bezaubernden Dunkelelfe. Sie schwebte zu ihm hernieder, in einem Kleid aus Tau und Nebel gewebt, in der einen Hand einen äußerst seltenen Saphir der Erkenntnis, in der anderen eine Schreibfeder. Und es hub die Dunkelelfe zu sprechen an und sie sprach: „Gib eine Stellenanzeige auf!"

Am nächsten Morgen machte sich der Ringgeist frohen Mutes ans Werk. Er nahm Feder, Tintenfass und Pergament und verfasste einen Aufruf an alle Schriftgelehrten aus Mordor und Umgebung, der ihnen befahl, sich unverzüglich auf den Marktplatz von Minas Morgul zu begeben. Diesen ließ er hundertmal kopieren und im ganzen Land verteilen. Eine Woche später war der große Tag der Zusammenkunft gekommen. Obwohl dem Nazgûl bewusst war, dass der Andrang nicht allzu groß sein würde, war er ein wenig enttäuscht, als er von seinem Podium auf die wenigen Gestalten hinabblickte, die seinem Ruf gefolgt waren: gerade mal eine Handvoll Dûnländer, ein Dutzend Ostlinge, ein Goblin und zehn Orks, darunter größtenteils Angeber und Wichtigtuer, die vielleicht ihren Namen schreiben konnten und wenn, dann nicht einmal richtig. Dennoch, immerhin war jemand gekommen. Und darum begann das Oberhaupt auch nun mit seiner Rede. Es wäre auch ein Jammer gewesen, wenn sie niemand gehört hätte, denn es war eine sehr schöne Rede. Sie ging ungefähr so: „Meine gelehrten Freunde, meine lieben Ostlinge, meine lieben Dûnländer, mein lieber Goblin und, als Letzte und gewiss auch Geringste, meine lieben Orks! Ich danke euch, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, hierher zu kommen! Wir alle wissen, dass Mordor nichts mehr benötigt als einen neuen Herrn. Nun, ich möchte mich ja nicht selbst loben, aber ich war es, der sofort erkannt hat, dass wir einen Nachfolger Saurons brauchen. Und in aller Bescheidenheit, ich war es, der einen fabelhaften  Einfall hatte, wie wir uns einen beschaffen („Durch Rauben und Plündern?", fragten die Orks hoffnungsvoll.): Wir geben eine Zeitungsannonce auf. Und hier beginnt euer Einsatz. Jeder von euch wird gleich Feder und Pergament erhalten und jeder von euch hat die Aufgabe, eine Stellenanzeige zu Papier zu bringen. Die beste wird dann dazu auserkoren, die Mission zu erfüllen. Nun bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als euch gutes Gelingen zu wünschen! Hiermit gebe ich nun das Schreibwerkzeug frei!"

Zunächst gab es ein großes Gedränge und Geschubse. Rufe und empörte Schreie wurden laut: „Warum kriegt der Ork eine Adlerfeder und ich nur eine lausige Gänsefeder?" „Wie schreibt man ‚Mordor'?" „Ich weiß nicht, was eine Stellenanzeige ist!" „Kann ich ein neues Pergament haben? Ich hab das erste versehentlich gegessen."  Doch schließlich hörte man das emsige Kratzen der Federn und gedämpftes Gemurmel, wenn jemandem eine besonders vortreffliche Formulierung einfiel. Nachdem eine Stunde vergangen war, in der die  restlichen sieben Nazgûl eingetroffen waren, rief der Ober-Nazgûl: „Federn weg! Das sollte genug sein! Gebt eure Pergamente meinen sieben Assistenten!" „Was heißt hier ‚Assistenten'?" fragten die anderen wie aus einem Mund. „Ihr seid meine Assistenten, damit Schluss!", meinte ihr Anführer. Versöhnlicher fügte er hinzu: „Außerdem habt ihr so die ehrenvolle Aufgabe, das Geschriebene auszuwerten." Das war eigentlich weniger eine nette Geste als ausgemachte Faulheit. Denn so mussten sich die anderen mit orkischen Rechtschreibfehlern und Goblin'scher Sauklaue plagen, während er es sich vor dem Kamin gemütlich machen konnte.

Der erste der mehr oder weniger freiwilligen Nazgûl-Assistenten, ein besonders übereifriges Exemplar, hielt schon einige Zettel in der Hand, die er erwartungsvoll durchblätterte. Sogleich stutzte er und hob eines der Pergamente hoch, sodass es alle sehen konnten: „Das ist ja leer. Wer hat ein leeres Blatt abgegeben?" „Ich", meldete sich ein langbeiniger Ostling mit Spinnenfingern. „Und warum?" „Weil ich nicht schreiben kann", erklärte der Ostling, als wäre es das Natürlichste der Welt, als Analphabet auf eine Versammlung von Schriftgelehrten zu gehen. „Ich kam in der Hoffnung, dass es hier Essen umsonst gibt." Viele hatten diese Hoffnung geteilt und machten nun ihrer Enttäuschung Luft. „Nein, gibt es nicht!", antworteten die Ringgeister kühl. „Also macht, dass ihr wegkommt!" Murrend und finstere Drohungen ausstoßend folgten die Versammelten der Anweisung, nachdem die drachenähnlichen Reittiere der Nazgûl gefährlich tief über sie hinweggebraust waren.

Von den Sieben nahm sich jeder vier Anzeigen und nahm an einem der sieben Tischchen Platz, die hinter dem Podium standen. Das Oberhaupt hatte sie dort aufstellen lassen, weil man an der frischen Luft, falls sie in Minas Morgul jemals frisch war, angeblich besser denken konnte. In Wahrheit wollte er nicht bei seiner Faulenzerei ertappt und zur Rede gestellt werden. So kämpften sich die anderen unter dem schwermütig grauen Himmel Mordors durch Kritzelei und Unsinn aller Art, diskutierten, bis sie noch heiserer klangen als gewöhnlich, lasen wieder und wieder Blatt für Blatt. So ging das zwei Tage und Nächte.

In der Zwischenzeit ließ es sich ihr „Chef" beim Schein des Feuers und einem guten Buch (einer äußerst lustigen Geschichtensammlung namens „Quenta Silmarillion", mithilfe im Ringkrieg gefangen genommener Elben eigens für ihn in die Schwarze Sprache übersetzt)  gut gehen. Gerade musste er herzlich über Fingolfins Tod lachen, als er eine schwache Stimme nach ihm rufen hörte. Zuerst erschrak er, denn er glaubte, es wäre Fingolfins Geist, der sich gekränkt fühlte, doch die Tür öffnete sich und herein kam einer der sieben anderen, welcher, konnte er nicht sagen. Er kroch auf allen Vieren durch den Raum, eine Hand umklammerte krampfhaft ein zerknülltes Stück Papier. Der Anführer eilte zu ihm und fragte: „Seid ihr zu einem Ergebnis gekommen?" Der andere Nazgûl hob den Kopf. Und in der Schwärze unter seiner Kapuze glühten die erschöpften, rot verquollenen Augen wie Feuer. Zitternd überreichte er dem Oberhaupt das Pergament. „Es ist vollbracht!", zischte er dabei. Und bevor er endgültig zusammenbrach, flüsterte er: „Du mit deiner idiotischen ehrenvollen Aufgabe!"