Kriegerische Karriereaussichten

Weit entfernt von dem Geschehen in Mordor, weit entfernt von Mittelerde, nur die Valar wussten, wie weit, brach in einem düsteren, jedoch auch eindrucksvollen Anwesen in Wiltshire, England, ein ganz gewöhnlicher Morgen an. Koboldartige Wesen, scherzhaft „Hauselfen" genannt, wuselten geschäftig umher, öffneten schwere Samtvorhänge, deckten den Tisch und bereiteten das Frühstück zu. Zwischen all den hurtigen Kreaturen war eine, die mit Begräbnismiene in die oberen Stockwerke schlich. Diesem Hauself war die schwere Bürde auferlegt worden, die Herrschaften zu wecken. Und deren gute Laune hielt sich am frühen Morgen in Grenzen. Besonders die junge Herrschaft konnte sehr ungehalten reagieren. Deshalb unterdrückte die kleine, knochige Gestalt ein Schluchzen, als sie ins Schlafzimmer des Ehepaars trat.

Am Ende des Ganges befand sich ein wunderschönes Zimmer. Da gab es hübsche alte Möbel aus dunklem Holz, wuchtige Sessel und antike Gemälde in Goldrahmen. An der Wand gegenüber der Tür stand ein Himmelbett, dessen smaragdgrüne Vorhänge zu dieser Zeit zugezogen waren. Es war eines dieser Zimmer, bei denen vornehme alte Tanten in Ohs und Ahs ausbrechen und englische Lords gerne ihre toten Fasane und erschossenen Füchse aufstellen. Aber die Idylle war trügerisch. Wer genau hinsah, entdeckte ein paar kleine Schönheitsfehler. Zum Beispiel den Schädel im Bücherregal. Oder die geschnitzte Teufelsfratze, die zwischen den Goldrahmen-Gemälden hing. Oder die silberne Schlangenstatue mit Edelsteinaugen auf dem Sekretär. Jetzt öffnete der kleine Hauself mit der schweren Bürde und noch schwererem Herzen die Tür und tappte unsicher auf das Bett zu. Behutsam zog er die Vorhänge zurück. „Junger Herr, es ist Zeit!", fiepte er. Die Bettdecke bewegte sich leicht unter den gleichmäßigen Atemzügen des Schlafenden. Sonst rührte sich nichts. „Der junge Herr muss jetzt frühstücken!", piepste der Hauself weiter. Ein unartikuliertes Geräusch, vielleicht der Versuch einer Antwort, drang aus den Tiefen des Federbetts. „Bitte, der junge Herr muss aufstehen!", winselte der Bedienstete, während er vorsichtig an der Bettdecke zog. Zu seiner großen Erleichterung vernahm er das Gähnen des jungen Herrn, der sich kurz darauf aufrichtete. Er mochte vielleicht achtzehn oder neunzehn sein. Sein Körper war schlank, fast schon zerbrechlich, aber dies verlieh ihm wiederum unvorstellbare Schönheit und Anmut. Halblanges weißblondes Haar, welches im Sonnenlicht silbrig glänzte, umrahmte ein schmales, blasses Gesicht voll edler Züge. Graue Augen wirkten wie Nebelschleier und verbargen die Gefahr im Innern des jungen Mannes. Die Täuschung, der falsche Schein, das war es, was die Malfoys so gehasst und gefürchtet machte. Und er, Draco Malfoy, setzte diese Tradition erfolgreich fort.

Langsam stand er auf und ließ es sich nicht nehmen, sich genüsslich zu strecken. Dann fiel sein Blick auf die zusammengekauerte Kreatur. Die schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch die Augen blickten weiterhin kalt und undurchdringlich. Der Hauself versuchte es ebenfalls mit einem Lächeln, das ihm aber wieder vom Gesicht rutschte. Draco hob drohend eine Hand und machte einen Schritt auf seinen Diener zu. Dieser duckte sich, während er zurückwich. Er quiekte erschrocken, als seine Wange schmerzhafte Bekanntschaft mit der Rückhand seines Herrn machte. Dessen Grinsen wurde noch breiter: „Danke, dass du mich geweckt hast!" Damit schritt er pfeifend an ihm vorbei. So ein bisschen Terror am frühen Morgen war doch sehr erfrischend. Der junge Mann lief zur Treppe und wollte gerade die ersten Stufen nehmen. Er stockte, eine Hand am Geländer, einen Fuß in der Schwebe. Die andere Hand glitt in die Hosentasche und holte einen dünnen Stab heraus. Konzentriert schloss er die Augen, murmelte wundersame Worte und… löste sich in Nichts auf. Fast im selben Augenblick gab es im Erdgeschoss ein leises „plopp" und Draco saß auf einem Stuhl am Frühstückstisch und genehmigte sich einen Schluck Kaffee. Apparieren zählte zu seinen Spezialitäten. Bei seiner Abschlussprüfung an Hogwarts, der Zaubererschule, die schon seine Ahnen besucht hatten, hatte er fürs Apparieren die Bestnote erhalten. Aber bei Zaubertränken konnte ihm so gut wie niemand das Wasser reichen. Vielleicht diese grässliche Granger, das Schlammblut, aber davon wollte er nun, da er sie fast erfolgreich aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte, nicht mehr anfangen.

Mit ihm am Tisch saßen nur seine Eltern, Lucius und Narcissa Malfoy. Während Lucius noch seinen Morgenmantel trug, das lange blonde Haar offen und ungekämmt, trug seine Gattin bereits ein hochgeschlossenes scharlachrotes Kleid, war perfekt geschminkt und so vollendet frisiert, dass kein Härchen es gewagt hätte, seinen Platz zu verlassen. Stil wurde im Hause Malfoy großgeschrieben. Draco seufzte. Früher war sein Vater genauso elegant wie seine Angetraute zum Frühstück erschienen, doch nun… Man musste wissen, dass Lucius Malfoy ein leidenschaftlicher Anhänger Voldemorts, des Dunklen Lords, war und deswegen mehrmals in Askaban, dem Zauberergefängnis, gesessen hatte. Und jetzt, nach der Vernichtung Voldemorts durch Harry Potter, möge ihn ein Drache verspeisen und seine Knochen als Zahnstocher verwenden, und nach unzähligen Aufenthalten in Askaban war es um Mr. Malfoys geistigen Zustand nicht mehr allzu gut bestellt. Sein Arbeitsstelle hatte er längst verloren, war aber immer noch dazu imstande, mit Erpressung und obskuren Geschäften seinen Geldbeutel zu füllen. Wahrscheinlich war dies das einzige, was ihn vom völligen Wahnsinn abhielt. Und all das wegen dieser Made Potter! Voll zorniger Erinnerung rührte Draco so heftig in seinem Kaffee, dass die Tasse klirrte. Voldemort hatte es nicht geschafft, Potter zu vernichten. Doch er, Draco Malfoy, würde das schon erledigen. Irgendwann würde Potter vor ihm im Staub liegen und um seinen Tod betteln. Irgendwann… „Hast du gut geschlafen, Draco?", riss ihn die melodische Stimme seiner Mutter aus seinen düsteren Gedanken. „Öhm, ja, sehr gut, danke", murmelte er. Sein Blick wanderte zu seinem Vater, der feierlich einen Zuckerwürfel in seinen Kaffee fallen ließ. Er hob den Kopf und strahlte seinen Sohn, der ihn mitleidig beobachtete, an: „Voldemort trinkt seinen Kaffe immer schwarz, nur mit einem Stück Zucker!" „Jetzt nicht mehr", erwiderte Draco, „er ist tot."

Lucius ließ eine halb gegessene Toastscheibe fallen. „Was?!" Seine Hände umklammerten zitternd die Armlehnen. „Aber ohne den Dunklen Lord sind wir verloren!", rief er. „Wer soll Potter dann besiegen? Was wird dann aus uns?" Schwer atmend ließ er den Blick unruhig umherschweifen. Plötzlich stand er so abrupt auf, dass er dabei seinen Stuhl umwarf. „Dann muss ich es eben tun! Narcissa, hol meinen Mantel!" Narcissa warf ihrem Sohn einen warnenden Blick zu und ihr Mund formte lautlos die Worte: „Sag, dass du nur einen Witz gemacht hast!" „Es ist alles in Ordnung, Vater", Draco hielt Mr. Malfoy am Ärmel fest, „ich wollte dich nur ein bisschen ärgern. Es ist alles gut." Lucius' panischer Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein glückseliges Lächeln. „Sehr schön, dann kann ich also in Ruhe weiterfrühstücken." Und damit stellte er den Stuhl auf und nahm wieder Platz, als wäre nichts geschehen.

Der Rest des Frühstücks wurde schweigend verzehrt, bis neben dem Tisch ein schüchternes Räuspern ertönte. Es war ein weiterer Hauself, der die Zeitung, den „Tagespropheten", brachte. Draco nahm sie wortlos an sich und begann darin zu blättern. Währenddessen tupfte sich seine Mutter mit der Serviette imaginäre Krümel aus den Mundwinkeln. Der junge Zauberer wusste genau, dass nun wieder der als Frage getarnte Befehl folgen würde. Da war er schon: „Willst du dir nicht mal die Stellenanzeigen ansehen, Dracolein?", fragte Narcissa wie beiläufig. Lucius sah überrascht von seinem hart gekochten Ei auf: „Willst du etwa einen Ferienjob machen, mein Junge? Übernimmst du dich da nicht? Denk an deine Schulaufgaben!" Sein Sohn stöhnte leise auf. Seine Frau setzte ihr breitestes Lächeln auf und sagte mit gespielter Fröhlichkeit: „Aber, Lucius, dein Sohn hat doch schon längst seine Abschlussprüfungen hinter sich und will sich jetzt um eine gute Arbeitsstelle bemühen, schließlich will er dich nicht enttäuschen. Wo du es doch so weit gebracht hast!" Sie tätschelte ihn wie einen Hund. „So, und während ich dir deine Kleidung rauslege, wird sich Draco die Anzeigen durchlesen, damit du ganz stolz auf ihn sein kannst!" Mit diesen Worten trippelte sie mit ihrem Mann im Schlepptau davon. „Wirf die Zeitung ja nicht weg! Du weißt schon, wegen meinem Album", rief er Draco im Hinausgehen zu. Er hatte sich nämlich ein Album zugelegt, in das er alles einklebte, was er über Voldemort finden konnte, auch wenn dieser nur in einem Nebensatz erwähnt wurde.

Normalerweise hätte Draco den „Tagespropheten" trotzig zur Seite gelegt, aber das Gerede von wegen Vaterstolz hatte ihn berührt, da er seinen Vater sehr gern hatte. Sein Herz war nun einmal doch nicht völlig kalt, höchstens etwas gekühlt. Also schlug er die Seite mit den Anzeigen auf und konzentrierte sich auf die Rubrik. „Stellenangebote". Dort gab es einiges zu lesen:

„Animateur und/oder Reiseleiter für Skelette, Zombies und Mumien gesucht. Gutes Gehalt, eigene Gruft, Geld für Selbstverpflegung (Letzteres, falls sie noch zu den Lebenden zählen). Nekromanten bevorzugt. Bewerbungen bitte an ‚Krachknochen-Karibik-Tours'"

„Wir suchen: Dolmetscher/in. Benötigte Sprachkenntnisse: Elfisch, sämtliche Feen-Dialekte. Bitte melden bei der ‚WWOERW' (Weltweite Organisation zur Erhaltung Reizender Waldgeschöpfe)"  

„Lieben Sie Tiere? Auch die etwas außergewöhnlichen? Lieben Sie sie so sehr, dass es Ihnen nichts ausmacht, von ihnen gebissen, zertrampelt oder gefressen zu werden? Wollten Sie schon immer wissen, wie man einen gebrochenen Feenflügel schient? Wollten Sie schon immer lernen, wie man einen Drachenhusten kuriert ohne sich dabei zu verbrennen (zumindest nicht allzu sehr)? Dann bewerben Sie sich doch im ‚Laurencia Lafiora-Krankenhaus für Fabelwesen aller Art'!"

Seufzend ließ der junge Malfoy die Zeitung sinken. Er war kein Nekromant, konnte kein Wort Elfisch und Tiere konnte er nicht leiden. Und außerdem erschien ihm jede der angebotenen Stellen viel zu anstrengend. Dazu kam noch, dass sie sowieso alle unter seiner Würde waren. Also wirklich, ein Malfoy machte sich weder für ein paar vertrocknete Leichen zum Affen, noch hockte er sich auf eine Waldlichtung, um mit ein paar Elfen über die Schönheit der Natur, die er absolut scheußlich fand, zu palavern, noch hatte er Lust dazu, von einem Drachen angehustet oder gar angeniest zu werden. Schon wollte er die Zeitung zusammenfalten und sich nach oben begeben, sich waschen, anziehen und vor dem Mittagessen vielleicht ein paar Muggel, nichtmagische Menschen, terrorisieren… Aber was war das? Ganz unten, in der allerletzten Spalte, stand klein und verschämt noch eine Anzeige. Der junge Mann kniff neugierig die Augen zusammen und begann zu lesen:

„Herrscher zwecks Krieg gegen das Gute gesucht. Uneingeschränkte Tyrannei, großes Reich, Armee und Spezialeinheit. Zum Vorstellungsgespräch bitte nach Minas Morgul, Mordor, kommen. Nur ernsthafte Bewerber zugelassen (ansonsten droht sofortige Hinrichtung)."

Perplex las er die Anzeige ein zweites Mal. Und ein drittes. So etwas fand man nicht alle Tage. Was noch erstaunlicher war: Er war interessiert. Draco Malfoy war ernsthaft an einer Arbeitsstelle interessiert! Aber halt, alles schön der Reihe nach. Was machten diese nüchternen Worte für ihn so aufregend? Nachdenklich kaute er auf einer Haarsträhne. „Zwecks Krieg gegen das Gute". Er war in einer Familie von Anhängern des Bösen groß geworden. Sein Erzfeind Potter zählte zu den Guten. Ein Punkt für den Job. „Uneingeschränkte Tyrannei". Draco liebte es, wenn alle nach seiner Pfeife tanzten. Das war schon in der Schule so gewesen, wo er sich zwei grobschlächtige, dümmliche Klassenkameraden als „Untertanen" gehalten hatte. Ein weiterer Punkt. „Armee und Sondereinheit". Voldemort hatte versagt, Potter war noch am Leben. Mithilfe einer Armee und dieser ominösen Spezialeinheit wäre er vielleicht, höchstvermutlich, in der Lage, das Werk des Dunklen Lords zu vollenden. Drei zu null. „Minas Morgul, Mordor". Draco wusste, dass Mordor nicht auf dieser Welt zu finden war. Mordor war der Ostteil einer Welt, die man „Mittelerde" nannte. Um dort hinzugelangen, würde ein Dimensionssprung nötig sein. War wohl nichts mit: „Heute Abend gegen sechs bin ich wieder daheim." Andererseits winkte die Aussicht auf einen eigenen Palast oder eine eigene Festung. And the winner is… die Herrscher-Stelle! Draco war so zufrieden wie schon lange nicht mehr. Gewiss, ein paar unbedeutende Einschränkungen würde er in Kauf nehmen müssen. Beispielsweise würde er wohl nicht mehr in ausgewaschenen Trainingshosen und seinem Lieblings-T-shirt (das mit der Aufschrift „Muggelmörder und stolz darauf") zum Frühstück erscheinen können. Aber sei's drum, dachte er glücklich und malte mit dem Zeigefinger gedankenverloren unsichtbare Krönchen auf die Tischplatte. Draco hatte seinen Traumberuf gefunden.