Herrscher oder Himmelfahrtskommando?

Die Nazgûl waren bitter enttäuscht. Seit vier Tagen warteten sie nun schon auf einen Kandidaten, doch bis jetzt hatte sich nichts getan. Sie saßen in der großen Halle ihrer Zitadelle auf ziemlich unbequemen Stühlen und seufzten und ächzten wie es sonst nur Poltergeister tun, nicht aber Ringgeister. Gerade wollte einer erwähnen, dass es besser sei, allmählich die Hoffnung aufzugeben, als sie lautes Rufen hörten: „Ein Eindringling! Ein Eindringling!" Die Tür wurde aufgerissen und eine abgehetzte Orkwache stürmte herein. „Was ist los? Was soll der Lärm?", fragte das Oberhaupt in herrischem Ton. „Ein Fremder!", keuchte der Ork. „Er kommt direkt auf die Zitadelle zu!" „Wieso haben die Wachen ihn durchgelassen?" „Die Wachen haben versucht ihn aufzuhalten, aber auf einmal waren sie fort und an ihrer Stelle standen… Teetassen auf dem Boden." „Teetassen?!" Der Ork ließ die Zunge aus dem Maul hängen, was seine Rede etwas undeutlich klingen ließ. „Ja, Teetassen mit Blumenmustern." Die Nazgûl begannen aufgeregt zu tuscheln. Was war das nur für ein Wesen, das einen Haufen Orks im Alleingang bezwang? „Wer ist der Fremde?", wollte ein Nazgûl wissen. „Ist er ein Istari oder gar ein… Elbenkrieger?" „Nein", antwortete die Wache, die bei dem Wort „Elbenkrieger" erschrocken die Hand vor den Mund geschlagen hatte, „er ist… seltsam." Noch mehr aufgeregtes Tuscheln.

Das Oberhaupt bat zischend um Ruhe. Gemächlich lehnte es sich in seinem Stuhl zurück und sagte einen Satz, nur einen Satz: „Freunde, wir haben einen Anwärter." Sofort waren alle auf den Beinen. Sklaven schleppten die Dekoration, Getränke und Platten mit kaltem Aufschnitt herein. Mehrere weibliche Orks wurden hereingebeten. Sie hatten ihre unförmigen Körper in hautenge  Kleider in schreienden Farben gezwängt, warfen sich in Posen und schnitten Grimassen, die sie für aufreizend und charmant hielten. Jede hoffte auf eine Stelle als Lieblingskonkubine des neuen Herrn. In all dem Durcheinander und der Hektik gab es plötzlich einen Laut, bei dem augenblicklich Totenstille eintrat: Die große Doppeltür schwang knarrend auf. Der Ober-Nazgûl machte eine einladende Geste: „Willkommen, Fremder!" Gleichzeitig dachte er: „Was soll das denn sein? Sieht aus wie ein Lumpensammler, der von einem Wirbelsturm geträumt hat. Zu meiner Zeit hätte so was nicht einmal den Boden schrubben dürfen!"

Es ließ sich nicht leugnen, das Auftreten des Fremden war auf den ersten Blick… deprimierend. Man stellte ja keine großen Anforderungen, ein Hüne in schwarz glänzender Rüstung mit ein paar reich verzierten Waffen wäre ja genug, vielleicht noch ein Schlachtross. Aber doch nicht solch ein mickriger Knabe! Wenn es überhaupt ein Knabe war, bei der heutigen Jugend und den vielen Mischehen konnte man ja nie wissen… Man konnte es für einen Elben halten… nein, nicht unbedingt. Mensch konnte vielleicht stimmen… nein, auch nicht. „Seltsam" traf es noch am ehesten. „Es ist mir eine Ehre", erwiderte der Fremde und setzte ein sehr gezwungenes Lächeln auf. „Setzt Euch, bitte!" Er nahm auf dem einzigen freien Stuhl Platz. Ein Sklave reichte ein Tablett mit einem Glas, in welchem sich eine blaue dampfende Flüssigkeit befand. „Eine kleine Erfrischung, Herr?" Der junge Mann, bei genauerem Hinsehen erwies es sich als männlich, schlürfte vornehm von dem Gebräu. Das war der ultimative Beweis: Elben und Menschen wären allein bei dem Geruch ohnmächtig geworden. „Wie ist Euer Name, Herr?", fragte ein weiterer Nazgûl. „Draco Malfoy", sagte Draco. „Der Name ist mir gänzlich unbekannt", bemerkte das Oberhaupt und setzte sich Draco gegenüber. „Wer ist Euer Vater?" „Lucius Malfoy." „Ihr seid nicht von hier, oder?" „Nein." Einige Sekunden Stille.

Dann: „So, Ihr habt also vor, über Mordor zu regieren?" Aus dem Mund des Ober-Nazgûl klang es wie ein Fluch. „Ich bin mir sogar sicher." „Habt Ihr schon Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt?" „Einige, ein wenig terrorisiert, Feinde verflucht, Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen, das Übliche." „Ah… gut." Eigentlich hatte der Anführer der Nazgûl vorgehabt, diesen jungen Möchtegern-Sauron auf Herz und Nieren zu prüfen und gehörig einzuschüchtern. Aber der Bursche hatte irgendetwas in seiner Stimme oder seinem Blick, was ihm das Gefühl gab, auf seinem Sitz zusammenzuschrumpfen. Die Orkinnen hatten sich inzwischen um Draco versammelt, was ihm nicht entgangen war. „Was ist das für ein Gruselkabinett?", fragte er. „Falls, und ich meine tatsächlich ‚falls', Ihr Herrscher werdet, dürft Ihr Euch eine von ihnen aussuchen. Sie gelten als die Schönsten des Landes, müsst Ihr wissen." „Interessant… jetzt schafft sie mir bitte aus den Augen." Zum Glück konnte niemand das Gesicht des Nazgûl sehen. Es war die Inkarnation puren Zorns. Was bildete sich dieser überhebliche, kümmerliche Kerl eigentlich ein? Na, warte…

„Ihr glaubt also, Ihr habt das Zeug dazu, ein würdiger Nachfolger Saurons zu werden?", zischte das Oberhaupt. „Das sagte ich bereits." „Das werden wir sehen…" Auf sein Zeichen hin rannte ein Ork nach draußen und blies sein Horn. Der Nazgûl erhob sich und trat zur Seite. Plötzlich erzitterte die Erde. Ein dumpfes Grollen rollte direkt auf die Zitadelle zu. Abermals schwangen die großen Türen auf. Und herein trat der größte, wildeste und gemeinste Troll von ganz Mittelerde. Die Orks, die am nächsten zur Tür standen, wichen panisch seinen um sich schlagenden Pranken, so groß wie ein Mann, aus. Waffen brauchte der Troll nicht. Er bevorzugte es, seinen Gegnern, oder besser Opfern, mit bloßen Händen wahlweise die Wirbelsäule zu zermalmen oder den Schädel einzudrücken. Draco sprang auf und funkelte zuerst den Troll, dann die Nazgûl zornig an. „Was hat das zu bedeuten?" Die Nazgûl kicherten hämisch. „Seht es als Aufnahmeprüfung an", antworteten sie. Geifernd und grunzend trampelte der Troll unaufhaltsam auf den Zauberer zu, bereit, ihn zu zerquetschen. Schon hob er die Faust zu einem Knochen zertrümmernden Schlag. Doch da hielt Draco den Zauberstab direkt auf das grausame Gesicht des Ungeheuers gerichtet. „Imperio!", donnerte er. Der Troll erstarrte mitten in der Bewegung. Sein dümmliches Gesicht blickte noch dümmlicher drein. „Pieps!", machte der Troll in Basstonlage. Und noch einmal: „Pieps-pieps! Pieps!" Dann ließ er sich auf alle Viere nieder und beschnüffelte ausgiebig den Boden. Draco formte die Hände zu Krallen und schnellte mit einem scharfen: „Miau!" nach vorne. Quiekend sauste der Troll zur Tür hinaus und hatte seit diesem Tag eine Vorliebe für Käse. Draco gähnte demonstrativ: „War das schon alles, was ihr zu bieten habt?"

Der Ober-Nazgûl strich seine Kutte glatt, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Das war in der Tat alles, was sie zu bieten hatten. „Natürlich ist das nicht alles, was wir zu bieten haben", sagte er. „Tatsächlich haben wir noch eine Menge Prüfungen parat. Ihr müsst wissen, dass diese stets auf den Einzelnen abgestimmt werden, damit von ihm maximale Leistung gebracht wird. Wenn Ihr uns nun entschuldigen würdet, wir müssen uns kurz beraten." Draco nickte gnädig, sodass sich die Ringgeister in die Privatgemächer zurückziehen konnten. Nachdem die Tür verriegelt worden war, atmeten alle erleichtert auf. „Er ist… unheimlicher als wir!", rief der erste Nazgûl. „Diese Augen, dieser Blick, habt ihr jemals etwas Vergleichbares gesehen? Das ist der Blick des reinen Bösen, sage ich euch!", meinte der Zweite. „Er besitzt Macht, zweifellos. Und zwar mehr Macht als jeder Istari!", sagte ein Dritter. „Das ist schlecht!", ergänzte Nummer Vier. „Schlecht für uns alle", verbesserte der Fünfte. „Ich will ihn nicht als Herrscher!", jammerte der sechste Ringgeist. „Genug!", rief der Anführer. „Was nützt das Geschrei? Wir müssen ihn loswerden, sofort!" „Ach, wirklich?", fragte der siebte sarkastisch. „Wo bleibt denn deine großartige versprochene Prüfung?" „Ich überlege ja!" Das Oberhaupt lief murmelnd hin und her. „Es muss etwas sein, was ihn garantiert umbringt, oder mindestens so demütigt, dass er freiwillig aus Mittelerde verschwindet, wobei Umbringen natürlich die bessere Lösung ist. Es muss grausam sein, es muss schwierig sein, vor allem aber muss es tödlich sein… Ich hab's! Das ist es!" „Was denn? Was ist dir eingefallen?", riefen die anderen Nazgûl durcheinander. Aber der Anführer wollte seinen Beschluss zunächst für sich behalten. „Ihr werdet es gleich erfahren. Und jetzt holt eine Orkrüstung und rote Farbe!"

Draco hatte sich in der Zwischenzeit am Büffet gütlich tun wollen, hatte es sich aber anders überlegt, als er ein pelziges, grünes Stück Fleisch umgedreht hatte, um zu sehen, ob es vielleicht kleine haarige Beine besaß. Da waren auch schon wieder diese ätzenden Kuttenträger. Einer schleppte einen Farbtopf, ein anderer eine rostige, schlecht verarbeitete Rüstung. „Für Euch haben wir etwas besonders Schönes gefunden", frohlockte die Ober-Kutte. „Und das wäre?", knurrte Draco. „Ihr werdet nun diese hübsche Rüstung anziehen und nach Valinor gehen. Wie Ihr das anstellt, ist uns gleich, aber Euch als Zauberer wird gewiss etwas einfallen. Dort sucht Ihr Euch eine dieser schönen Hauswände aus. Darauf schreibt Ihr dann mit dieser schönen roten Farbe einen beleidigenden Spruch. Einzige Bedingung: Er muss entweder das Wort ‚Elb' oder ‚elbisch' beinhalten." „Einen beleidigenden Spruch?!" „Jaja, so etwa ‚Orks sind stark, Elben nur Quark' oder so ähnlich. Und jetzt zieht die Rüstung an und macht Euch ans Werk, Ihr müsst damit noch heute fertig werden!" Noch ehe Draco protestieren konnte, trug er die unbequeme Orkpanzerung, hatte den Farbtopf in der Hand und stand auf der Straße. „Na, bitte!" Das Oberhaupt konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Den sind wir los." Einige Ringgeister prusteten los. „Was ist denn so komisch?", wollte das Oberhaupt wissen. „Orks sind stark, Elben nur Quark!", gackerte ein Nazgûl. „Das klingt vielleicht blöd!" „Und wenn schon!", schmollte der Ober-Nazgûl. „Hauptsache, wir sehen den nie wieder." „Der" bereitete sich gerade darauf vor, sich nach Valinor zu zaubern, um den Elben gehörige Probleme zu bereiten. Niemand konnte ahnen, dass es dort schon Probleme gab. Zumindest einer war ausreichend mit Problemen versorgt…