Postpubertäre Problematik

Er konnte es nicht fassen. Wieder und wieder las er sich dieselben Zeilen durch.

„… befürchten wir, dass Mordor bald wieder eine Bedrohung darstellen wird. Sie suchen nach einem mächtigen Herrn für einen weiteren Krieg. Woher wir wissen, dass unsere Befürchtungen begründet sind? Nun, diese tumben Trottel haben hier in Minas Tirith einen Aufruf verlesen lassen. In allen anderen Orten von Mittelerde übrigens auch, sogar im Auenland, kannst du dir das vorstellen? Und deswegen nun meine Bitte: Könntet ihr uns nur noch dieses eine Mal ein paar Elbenkrieger (möglichst Bogenschützen) ausleihen? Es müssen nicht viele sein, achthundert reichen völlig. Würdest du das für uns hinkriegen? Biiiiiiitte! In der Hoffnung auf eine baldige Antwort

Dein  König Aragorn

PS: Ich schick dir tausend Küsse, Papi! Dein ‚kleines Sternchen' Arwen"

Elrond ließ sich schwer in den Sessel fallen. Er nahm eine Handvoll in Honig getauchte Früchte aus der Schale neben ihm und schob sich alles auf einmal in den Mund. Das tat er immer, wenn er aufgeregt oder nervös war, natürlich nur heimlich, wenn keiner zusah. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass sich bereits ein schwammiger Ring um die makellose Elbenhüfte gelegt hatte. Glücklicherweise trug  man aber diese herrlichen weiten Gewänder, unter denen sich viel verstecken ließ. Elrond legte seine ganze Sorge in einen Seufzer. Wäre er nicht so vornehm gewesen, hätte er jetzt gerne geflucht. Achthundert Elbenkrieger! Daran merkte man wieder, dass Aragorn die Vernunft eines Elben fehlte. Typisch Mensch! Glaubte er etwa, dass er, Elrond, einfach so sagen konnte: „So, und weil ich heute lustig bin, schicke ich achthundert Krieger nach Mittelerde, merkt sicher keiner"? Aragorn hatte vielleicht Ideen… Nichts als Flausen im Kopf, der Junge, daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert. Elrond konnte es immer noch in Gedanken hören: „Komm schon, das wird sicher lustig, diesen wilden Eber zu reizen! Los, wir zwanzig Reiter galoppieren aus der Burg und stellen uns den zehntausend Uruk-Hai, da kann nichts schief gehen! Mach doch mit, Elrond, das sind doch nur zwanzig bis an die Zähne bewaffnete Orks und du bist ein nicht mehr ganz so rüstiger Elb, dem ab und zu die Knie versagen, das schaffst du bestimmt!" Gut, dass er nun hier in Valinor lebte, weit, weit weg von dieser Nervensäge, obwohl Aragorn eigentlich eine liebenswerte Nervensäge war. Trotzdem, fand Elrond und langte erneut nach der Schale, er hatte sich Valinor verdient, diese Ruhe, dieser Frieden… der in letzter Zeit erheblich gestört wurde.

Der Grund dafür hörte auf zwei Namen: Elladan und Elrohir, Elronds Zwillingssöhne. Celeborn meinte, dass sie gerade eine schwierige Phase der Selbstfindung durchmachten, die schnell wieder vergehen würde, und Galadriel, die immer alles besser wissen musste, fachsimpelte etwas von „postpubertären Identitätskrisen". Letzteres konnte prinzipiell stimmen, da Elronds Söhne ihre Pubertät längst hinter sich hatten. Aber so, wie sie sich aufführten, tippte ihr Vater auf das nächstliegende: Ein plötzlicher Anfall von Spinnerei.

Da war zunächst Elladan, immer freundlich, immer ein angenehmer, höflicher junger Mann. Seit zwei Monaten hatte sich daran etwas geändert. Zum Beispiel weigerte er sich, zu baden und seine Haare zu waschen. Wenn er den Kopf schüttelte, flogen die Fettklumpen. Seine schönen, strahlenden Gewänder hatte er in den hintersten Winkeln seines Kleiderschranks vergraben. Dafür zog er nun an, was ihm in die Hände kam oder was er vom Boden auflas. Seine neuste Kreation bestand aus einem muffig riechenden Zwergenhemd, das ihm die Arme abschnürte und nicht einmal über den Bauchnabel reichte,  einer alte Lederweste, auf die er Teile eines Kettenhemdes genäht hatte, scheußlichen roten Kniebundhosen und Sandalen, die er mit elbischen Runen (die „Egal!" besagten) verziert hatte. Kurz gesagt, zum Davonlaufen. Elladan fand sich in dieser Aufmachung interessanter. Elrond fand, dass er schlimmer als ein Haufen Orkmist aussah. „Ich unterstreiche damit nur meine Individualität", hatte Elladan einmal seinem Vater mitgeteilt. „Du unterstreichst damit nur deinen schlechten Geschmack, alle werden dich für einen dahergelaufenen Ork halten!", hatte Elrond gezetert. „Ist es denn eine Schande, ein Ork zu sein?" „Ja!" „Dann bin ich eben ein Ork!" „Nein!" „Doch! Und zwar aus reiner Solidarität zu den armen Orks! Das ist ja wieder völlig diskriminierend!" „Nein!" „Doch! Ich geh nach Mordor, ich schlafe in einer Höhle, ich esse rohes Fleisch! Es lebe das Orkleben!" „Nicht, solange ich noch da bin!" „Ach, lass mich in Ruhe!" Das war einer von Elladans neuen Lieblingssätzen, neben „Ist mir egal!", „Wie auch immer!" und „Nein!". Seit Neuestem übte er sich im Grunzen und Elrond hatte in seinem Zimmer, in das er rein zufällig reingeschaut hatte, ein Buch voll orkischer Flüche entdeckt. Während Elladan also in die untersten Schichten der Gesellschaft abtauchte, schwebte Elrohir in anderen Sphären.

Die Muse hatte ihn geküsst und ihn dabei, wie es so schön heißt, „bohemisiert", mit anderen Worten, ihn in einen Pseudo-Künstler verwandelt. Besonders die Malerei hatte es ihm angetan. Aber keine Stillleben mit Obstschalen und Weinflaschen, keine Darstellungen von Schlachten seiner Vorfahren bannte er auf die Leinwand. Er hatte sich ganz dem Expressionismus verschrieben, was hieß: Er kleckste und schmierte, was das Zeug hielt. Aber was wäre ein richtiges expressionistisches Kunstwerk ohne einen unverständlichen Titel? Da hatte Elrohir beispielsweise eine ganze Fläche grün angestrichen und hier und da ein paar rote Punkte und blaue Flecken gesetzt. Und mittendrin ein großer schwarzer Strich. Der Titel des Kunstwerks lautete: „Die Rohirrim". Das war noch eines der einleuchtenden Bilder. Viel schlimmer als die Malerei war Elrohirs Angewohnheit, jeden Kieselstein zu interpretieren und aus sinnlosen Gedichten zu zitieren. Ein normales Gespräch mit seinem Vater spielte sich ungefähr so ab:

Elrond: „Wie geht es dir, mein Junge?"

Elrohir: „Bitte, Vater, belaste meinen Geist nicht mit diesen bürgerlichen Floskeln!"

Elrond: „…Wie du meinst. Hilfst du mir heute die Bücher zu ordnen?"

Elrohir: „Bücher ordnen. Wissen in Reih und Glied. Ein tragisches Abbild unserer eingeschränkten Denkweise!"

Elrond: „Ähm, ganz wie du meinst. Also muss ich sie alleine ordnen."

Elrohir: „Allein! Ein Wort, das so viel Trostlosigkeit in sich birgt! Oh, Einsamkeit, willkommener Feind, der du mein Schicksal beim Namen nennst!"

Elrond: „…Wie du meinst."

So oder so ähnlich lief das jedes Mal ab. Elrond fühlte sich regelrecht gestraft. Seine Söhne waren zu einem rüpelhaften Orkfreund und einer weltfremden Künstlerseele mutiert. Das Leben war schon hart! Seltsamerweise hielten die Zwillinge trotz den unterschiedlichen Neigungen immer noch zusammen. Selten traf man einen allein an. Das einzig gute an diesen verrückten Phasen war, dass man die beiden endlich auseinanderhalten konnte. In diesem Moment, Elrond sah gerade aus dem Fenster, liefen sie gemeinsam am Haus vorbei. Das heißt, Elladan trampelte und Elrohir tänzelte. „Juhuuuu!" Elrond winkte ihnen mit dem Brief. Elladan knurrte widerwillig und Elrohir setzte eine blasierte Miene auf. Doch die eineiigen Zwillinge sahen zum Fenster hinauf. „Ich habe hier einen Brief von Aragorn!", erklärte Elrond. Bevor seine Söhne etwas erwidern konnten, fuhr er fort: „Er sucht nach Elben, die ihm im Krieg gegen Mordor ein wenig unter die Arme greifen. Ihr seid doch sicher so freundlich und reist nach Gondor, nicht wahr?" Dann bekomme ich endlich meine wohlverdiente Ruhe, fügte er in Gedanken hinzu. Sie starrten ihn an, als hätte er soeben verkündet, einen Balrog zum Kaffeekränzchen einzuladen. Elrohir fand als Erster seine Sprache wieder: „Vater, ich bitte dich! Krieg, das ist der Abgrund des elbischen Daseins! Es wird meinem Karma nicht bekommen. Und denk auch an meine Kreativität, sie wird ebenfalls darunter leiden. Oh, schwarzer Vogel Krieg, flieg, flieg mit deinen Schwingen aus Asche!" Er fing an, mit den Armen zu wedeln und im Kreis zu tanzen. „Ach, niemals, niemals, schwarzer Vogel Krieg, will ich auf deinem Rücken reiten!", sang er dabei. Elrond verkniff sich taktvoll die Bemerkung, dass Elrohir schon einmal auf dem Schlachtfeld Orks das Fürchten gelehrt hatte. Elladans Antwort war so kurz wie präzise: „Nein!" Und fort waren sie. Der Halbelb fühlte sich mit einem Mal schrecklich erschöpft. Er plumpste zurück in den Sessel und genehmigte sich eine weitere Handvoll Früchte. Schon die dritte an diesem Vormittag. Und die Chancen standen gut, dass es noch mehr werden würden.