Sarkasmus und elbischer Humor
Nach Valinor zu gelangen, war kinderleicht gewesen. Fast so leicht wie morgens am Frühstückstisch zu apparieren. Er befand sich auf einer Lichtung. Es war die perfekteste Lichtung, die er je gesehen hatte. Eine Lichtung, auf der die hübsche Prinzessin aus dem Märchenbuch immer tanzt oder wo das kleine Rehlein aus dem Bilderbuch herumspringt. Sie war ganz in einem bunten Grün gehalten… oder in einem grünen Bunt, wie man es auch sehen konnte. Was nicht Gras war, waren garantiert zarte Frühlingsblumen in Pastelltönen. Herrlich bunte Schmetterlinge flatterten umher. Grillen zirpten, Käfer summten durch die Luft, einem strahlend blauen Himmel entgegen. Auf den umstehenden Bäumen, alle miteinander gerade und wunderschön gewachsen, einzigartige Kunstwerke der Natur, schnäbelten und trällerten süße kleine Vögelchen. Dracos Magen reagierte auf diese Anhäufung von Nettigkeiten mit einem Rückwärtssalto. Das saftig grüne, perfekte Gras wurde von seinem Hinterteil geplättet, weil er sich setzten musste, da ihm schwindlig geworden war. Perfektion war schon eine feine Sache, aber das hier war einfach grotesk. Er musste seine Aufgabe so schnell wie möglich erledigen. Entschlossen stemmte er sich hoch und griff nach dem Farbtopf. Hinter ihm richteten sich die zerdrückten Grashalme wieder auf und hier und da erblühten neue Blumen. Draco sah es nicht, und das war gut so. Er wäre ansonsten übergeschnappt.
Er wanderte durch die Natur und wunderte sich. Von den versprochenen Hauswänden war weit und breit nichts zu sehen. Nur Bäume, Bäume und noch einmal Bäume. Riesige Bäume, uralte Bäume, mit Moos und Farn bewachsene Bäume, Bäume mit Fenstern und Mauern… mit Fenstern und Mauern?! Nein, er hatte keine Halluzinationen, da war er sich völlig sicher. Dieser Baum dort war mit einem Gebäude verwachsen, wenn nicht gar in ihm gewachsen. Genau wie der daneben. Und der gegenüber auch. Draco wurde bewusst, dass er gar nicht durch die freie, unberührte Natur spazierte, sondern durch eine bizarre Stadt. Die weißen Wände der Gebäude mit den verzierten Säulen sahen sehr alt und brüchig, doch nicht schäbig aus. Sie strahlten im Glanz einer vergangenen Ära. Fasziniert betrachtete Draco im Gehen wie hinter einem der Spitzbogenfenster eine schemenhafte schlanke Gestalt erschien. Unglücklicherweise konnte er das weitere Handeln der Gestalt nicht beobachten, da er mit einem Fremdkörper zusammenstieß. Der erboste Blick verschwand aus den Augen des jungen Malfoy und machte dem Erstaunen Platz.
Graue Augen starrten direkt in ein Paar kornblumenblaue, die zu einem bildhübschen männlichen, jedoch sehr feinen Gesicht mit hohen Wangenknochen gehörten. Langes Haar fiel wie ein Teppich aus Gold über die schmalen Schultern und den Rücken hinab. Der Körper dieses wunderhübschen fremden Mannes war züchtig mit wallenden, strahlenden Gewändern verhüllt. Sein Blick verharrte auf der Orkrüstung, dann wandte er sich ab und lief einfach davon. Es gehörte sich nicht, jemanden anzustarren. Draco wusste nun endlich, warum in die Nazgûl ausgerechnet an diesen eher harmlosen Ort geschickt hatten. Für ihre Verhältnisse herrschte hier das Grauen. Das hatte er sogleich an den spitzen Ohren seines Gegenübers erkannt. Hier lebten Elben. Nun, er selbst hatte mit Elben bisher ziemlich wenig zu tun gehabt. Nur mit den Hauselfen in Wiltshire, aber die zählten ja nicht. So konnte er nur hoffen. Hoffen, dass Elben zu der Sorte leichtgläubiger Lebewesen gehören, die sich von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Er ging hinter einem der Bäume in Deckung.
Das Volk der Elben war dafür bekannt, dass es ausgedehnte Spaziergänge durch Wald und Flur liebte. Besonders an sonnigen Tagen. An diesem Tag war das Wetter leider ziemlich durchwachsen, sodass nur wenige Elben die Straßen auf und ab flanierten. Denjenigen wurde allerdings ein seltener Anblick geboten. Der weißblonde junge Mann schritt energisch an ihnen vorbei. Das war ja nicht wirklich etwas Außergewöhnliches. Seltsam waren nur die rostige Orkrüstung und der zerbeulte Eimer. Nun ja, so aufregend war das auch wieder nicht. Schließlich bestand kein Zweifel daran, dass der Jüngling mit seinem blonden Haaren, seinem aristokratischen Gesicht und, vor allem, seinem spitzen Ohren, von elbischer Abstammung war. Draco war sehr stolz auf sich. Bei Verwandlungen lebender Organismen hatte es bisher oft gehapert. Aber das Ohrenwachstum und das anschließende Anspitzen hatten vortrefflich funktioniert. Jetzt musste er nur noch unbeobachtet eine Wand voll schmieren und der Herrscherthron war ihm sicher. Allmählich wurde es auch Zeit, dass er die Aufgabe hinter sich brachte. Die Scharniere der Rüstung scheuerten ihm die Haut auf und es juckte ihn entsetzlich an den Stellen, wo die dicksten Panzerplatten angebracht worden waren. Trotz dieser Unannehmlichkeiten grinste er in sich hinein Was waren diese Kuttenkerle doch für Schwachköpfe! Dachten sie wirklich, sie würden einen Malfoy damit überfordern? Er schlich sich in eine Seitengasse, zumindest hielt er es für eine, die Bäume standen hier nämlich enger beieinander, und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war. Draco rieb sich die Hände. Bald würde die schöne weiße Wand vor ihm mit einem leuchtend roten Spruch verziert sein. Aber… was sollte er schreiben? Ihm fiel beim besten Willen nichts ein.
Plötzlich zuckten seine frisch gespitzten Ohren. Wahrscheinlich ein Nebeneffekt. Der junge Zauberer wäre vor Schreck fast aus der Rüstung gefahren, als sich zwei zarte Hände aus dem Nichts auf seine Schultern legten. Er fuhr herum und stand zwei dunkelhaarigen Elben gegenüber. Die beiden glichen sich aufs Haar. Doch während derjenige, der ihn festhielt, sich in Lumpen kleidete und den unangenehmen Geruch eines toten Iltis verströmte, trug der andere die übliche Tracht der Elben, hatte aber ein überirdisch glückseliges Lächeln auf den Lippen. Er sagte etwas, das in Dracos Ohren wie „Engelfischlein" klang und das ergab nun wirklich keinen Sinn. So entgegnete er mit deutlicher Betonung: „Tut mir leid, mein Elbisch ist etwas eingerostet. Ich verstehe kein Wort." „Verzeiht", sagte der stur lächelnde Elb in der Gemeinsamen Sprache. „Mein Bruder interessiert sich sehr für Eure Rüstung. Er erfreut sich nun einmal an solch weltlichen Dingen." „Wer seid ihr?", fragte Draco, während er sich aus dem Griff des ersten wand. Wieder antwortete der Lächelnde: „Ach ja, Namen werden in der Gesellschaft ja als wichtig erachtet. Man nennt mich Elrohir und das ist mein Bruder Elladan." „Er möchte ein Ork sein", fügte er erklärend hinzu, als Elladan ungeniert ausspuckte. „Sehr erfreut." Draco verbeugte sich. „Mein Name ist Draco Ma… ich meine, Dramaecoirion, aber alle nennen mich Draco." „Dann wollen wir Euch auch so nennen, Draco", zwitscherte Elrohir. „Du musst neu hier sein", Elladan zwang die wohlklingende Elbenstimme zu einem rauen Knurren, „hab dich noch nie gesehen." „Das stimmt. Um genau zu sein, ich bin heute angekommen." „Ach ja, Reisen hat so etwas Spirituelles", seufzte Elrohir, „Als wir unsere Reise nach Valinor angetreten haben, da wusste ich sofort…" „Woher kommst du? Aus Lórien?", unterbrach ihn Elladan unhöflich, wie es sich für einen Möchtegern-Ork gehörte.
Draco kicherte in sich hinein. Nicht zu glauben. Die beiden hielten ihn tatsächlich für ihresgleichen. Was waren sie doch dumm! Allerdings musste er zugeben, dass sie ihm eigentlich ziemlich sympathisch waren. „Woher kommst du?", wiederholte Elladan und versuche es mit einem echt orkischen Knurren, dass aber eher wie das verzagte Fauchen einer kleinen Katze klang. „Ich komme aus Wilt… aus einer großen Stadt im Westen Mordors", antwortete der falsche Elb. Elrohir machte große Augen: „Doch nicht etwa aus Minas Morgul?" Sein blondes Gegenüber lehnte sich an die Mauer. „Oh, doch", erwiderte es kühl. „Aus Minas Morgul." Die Brüder sahen sich kurz an, dann brachen sie in synchrones Gelächter aus. „Ach, Draco, du hast ja einen eigenartigen Humor. Gut, aber eigenartig", lachte Elladan. „Ja", knurrte dieser, „manchmal bin ich wirklich gut drauf." Noch mehr synchrones Gelächter. „Gut drauf! Hörst du, Elladan? Er sagt, dass er gut drauf ist!" Elrohir hielt sich den Bauch vor Lachen. Draco lachte halbherzig mit und vor seinem geistigen Auge erschienen über den Geschwistern zwei Neonleuchtreklamen mit der Aufschrift „Vollidioten". „Spaß beiseite", meinte Elrohir, „verzeiht meine Neugier, aber was befindet sich in dem Eimer?" „Nun… also… da drin befindet sich…", stammelte der Zauberer. Zum ersten Mal in seinem Leben war er um eine Antwort verlegen. Ob er diesen beiden wohl vertrauen konnte? Sie waren keine gewöhnlichen Elben, so viel stand fest. Sie waren… Revoluzzer. Und das gefiel Draco. Aber sofort wollte er sein Vorhaben noch nicht preisgeben. Stattdessen fragte er: „Euch gehen diese Normalo-Elben sicher auch auf den Wecker, oder?" Er blickte in ratlose Gesicher. „Ich meine, ihr beide zieht es vor, euch von den durchschnittlichen Elben abzuheben, nicht wahr?" Die Zwillinge nickten. „Ich auch. Und ich hasse weiße Wände. Die sind so… weiß. Da dachte ich mir, wenn ich mir ein nettes Sprüchlein ausdenke und auf eine Wand schreibe, rüttelt das die übrigen Langweiler auf." „Das ist gar keine schlechte Idee", murmelte Elladan. „Ein Spruch, rot auf weiß, die Gedanken einer Seele, die neues Denken in sich birgt? Das klingt fabelhaft", hauchte Elrohir mit vor Aufregung roten Wangen. „Das Problem ist, dass mir bis jetzt noch kein passender Spruch eingefallen ist. Könntet ihr nicht vielleicht etwas beisteuern?" „Es ist uns ein Vergnügen", antworteten die Brüder gleichzeitig. Elladan fügte noch hinzu: „Wenn du mir dafür deine Rüstung gibst." „Es ist mir ein Vergnügen", gab Draco zurück. „Ihr könnt euch gleich ans Werk machen." Er holte hinter seinem Rücken zwei Pinsel hervor. Wie waren die nur dort hingekommen?
Begierig ergriffen Elladan und Elrohir ihre Schreibutensilien. In einem Moment stummen Einverständnisses nickten sie einander zu. Danach tauchten sie die Pinsel ein und malten die ersten schön geschwungenen Runen. Keine zehn Minuten später stand da in einwandfreiem Elbisch: „Der sauberen Herren Pfuscherei ist, merk ich, schon bei euch Maxime! Elben, denkt nach!" Und darunter: „Schützt die Orks! Denn sie sind im Herzen Elben… nur ein wenig dümmer!" „Ausgezeichnet!", lobte Draco. Wie versprochen befreite er sich mit Hilfe Elladans aus dem Panzerkleid und schenkte es ihm. „Ihr tragt eine schlichte Tracht unter Eurem Harnisch!", stellte Elrohir fest. „Was seid Ihr? Ein Söldner?" „Das geht niemanden etwas an!", schnaubte der junge Magier. „Sag es uns!", forderte Elladan. „Was bist du?" „Ein Schüler", offenbarte Draco. „Ich werde nun gehen. Lebt wohl!", verabschiedete er sich. Er wollte so schnell wie möglich zurück und endlich seinen rechtmäßigen Platz einnehmen. „Werden wir Euch wieder sehen?", riefen die Geschwister ihm hinterher. Draco sah sie unverwandt an „Wieso wollt ihr das?" „Aber, Draco", rief Elrohir bestürzt, „Ihr seid unser Verbündeter, ein Bruder im Geiste, noch mehr unser Freund." Der vermeintliche Verbündete fasste sich an die Stirn und atmete tief durch. Er ließ den Blick schweifen, von der perfekten Natur über die perfekten Bauwerke zu ihren perfekten Bewohnern. „Na schön", seufzte er, „wir sehen uns wieder." „Aber unter anderen Umständen", ergänzte er flüsternd. „Welch eine Freude!", jubelten die Zwillinge. „Tut mir den Gefallen, und gewöhnt euch bis zum nächsten Mal dieses geschwollene Gerede ab. Das ist nämlich einfach nur krass!" Sprach's und entschwand ihren Blicken. „Ich mag diesen Elb!", brummte Elladan. „Er hat solch ein Charisma", sagte Elrohir. „Ich mag dieses Wort, dieses krass." „Ja, es ist ein schönes Wort. Krass… was heißt das eigentlich?"
