Yrch! Yrch!

Elronds Stirn lag in tiefen Sorgenfalten. Er sah aus wie ein alter Bluthund, wenn auch wie ein sehr elbischer. „Tee, Galadriel?", fragte er, nervös mit den Fingern auf den Tisch trommelnd. „Wenn es deine Erbeer-Vanille-Mischung ist, sag ich nicht nein", erwiderte seine Schwiegermutter gelassen. Celeborn knabberte währenddessen vornehm an einem Stück Zimt-Lembas. Sonst mochte es Elrond, wenn seine Schwiegereltern zu Besuch kamen. Abgesehen von kleinen Streitigkeiten zwischen ihm und seiner Schwiegermutter war es immer ein gemütliches Beisammensein. An diesem Tag waren sie allerdings in einer ernsten Angelegenheit gekommen. Es ging, wie sollte es auch anders sein, um die Schrift an der Wand. Der erste Spruch war schon allerhand gewesen und hatte einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Da hatte doch tatsächlich jemand das Volk der Elben mit Pfuscherei in Verbindung gebracht und sie zum Nachdenken aufgefordert. Die Elben! Und dann hatte sich dieser Schmierfink noch erdreistet, Orks als eine Unterart der Elben zu bezeichnen. Hat man so etwas schon mal gehört? Nun, das schöne Volk kochte vor Zorn über diese Freveltat. Und es kannte nur zwei Personen, die in Valinor lebten und denen man das Verbrechen zum Vorwurf machen konnte. Umsichtig, wie Elben nun einmal sind, hatten sie Celeborn und Galadriel zu ihren Vertretern ernannt, um ein ernstes Wörtchen mit Elladan, Elrohir und auch deren Vater zu reden. Elrond war natürlich im Bilde, was ihn, der sich gern als Sinnbild des Musterelben ansah, äußerst beunruhigte. Er fürchtete regelrecht die Dinge, die da kommen sollten. Nun war es soweit. Nur die beiden Hauptpersonen fehlten.

„Deine Söhne sind unpünktlich, Elrond", bemerkte Celeborn, „eine weitere Untugend, die man als Vater unterbinden sollte." „Von ihrer Mutter haben sie das nicht!", betonte Galadriel zwischen zwei Schlückchen Tee. „Aber ich kann die beiden irgendwie verstehen", setzte sie hinzu. „Wenn man miterlebt, wie der eigene Vater von der Mutter sitzengelassen wird, da muss man ja ein wenig… eigen werden. Arme Kinder!"

Celebrian, die Mutter von Elladan und Elrohir, hatte eines Tages, genauer gesagt vor zwei Monaten, den Koffer gepackt. Galadriel gegenüber hatte sie den Grund für die Trennung folgendermaßen ausgedrückt: „Ich halte ihn einfach nicht mehr aus. Diese Autorität, die er ausstrahlt, erdrückt mich fast. Er sieht mich immer so vorwurfsvoll an. Andauernd legt er die Stirn in Falten, sie sieht schon aus wie quergestreift. Und wenn ich noch einmal etwas von Räten, diesem verrückten Hobbit, Baldo oder wie er heißt, oder ‚Findest du meine Geheimratsecken attraktiv?' höre, drehe ich durch." An dieser Stelle hatte sie kokett ihre Barbiepuppenbeine übereinander geschlagen und ihr Haar zurückgeworfen: „Außerdem ist Thaurfalaths Stirn noch wunderbar glatt." „Thaurfalath?", hatte Galadriel ungläubig wiederholt. „Ja, ein blutjunges Ding, keine dreitausend Jahre alt. Zwar ein bisschen einfältig, wie diese jungen Burschen eben sind, aber was das Aussehen betrifft liegen zwischen ihm und Elrond Welten!" So war das also gewesen.

Elrond zerkrümelte etwas Gebäck zwischen den Fingern und wollte schon erwidern, dass seine Söhne längst keine Kinder mehr waren, doch Celeborn kam ihn zuvor. „Nun lass doch diese Geschichte aus dem Spiel, Liebes", sagte er zu seiner Gattin. „Du hältst dich da raus!", fuhr sie ihn an. „Du wusstest genau, dass Celebrian sich zu ihrem 785. Geburtstag ein Einhorn wünschte. Und was hast du ihr geschenkt? ‚Das Handbuch für den Drachenliebhaber'!" „Das hat doch jetzt gar nichts damit zu tun!", murrte Celeborn. „Oh, doch!" Galadriels Augen traten bedrohlich aus den Höhlen hervor. „Hättest du ihr das Einhorn geschenkt, wäre vielleicht alles anders gekommen und sie hätte nicht so einen Versager von Halbelben geheiratet!" Elrond räusperte sich überdeutlich. Das streitende Pärchen stockte, beide strichen peinlich berührt ihre Kleider glatt. „Wollen wir nicht über etwas Erfreulicheres reden, bis sich meine beiden ‚Künstler' hierher bequemen?", fragte Elrond. „Also", begann Galadriel im Plauderton, „gestern warf ich wieder einmal einen Blick in meinen Spiegel…" „Ich dachte, den hättest du endlich weggeworfen!", rief ihr Angetrauter aus. „Der zeigt doch seit Wochen nur noch Saurons Auge mit dem Schriftzug: ‚Kurze Unterbrechung'." „Seit gestern nicht mehr", antwortete sie schnippisch. Celeborn lachte ungläubig, woraufhin Galadriel ihm Blicke wie Dolche zuschickte. „Jedenfalls sah ich gestern in den Spiegel", griff sie das Thema erneut auf, „und was sah ich?" „Ein Bild von Saurons Auge und den Schriftzug ‚Kurze Unterbrechung'?", riet Elrond. Seine Schwiegermutter schnaubte verächtlich. „Ich sah das Grauen!" „Wie jedes Mal", warf Celeborn lakonisch ein. Galadriel ließ sich nicht beirren: „Ich sah eine große Schar…" Jemand polterte die Treppen herauf. Elrond sackte wie von einem Pfeil getroffen zusammen. „Ich glaube meine Söhne sind jetzt hier", murmelte er.

Und wirklich: Da standen sie auch schon neben ihrem Vater. „Du wolltest uns sprechen?", fragte Elrohir. „Mach's aber kurz", knurrte Elladan. Galadriel und Celeborn warfen sich mit hochgezogenen Augenbrauen pikierte Blicke zu. „Würdet ihr bitte zuerst unsere Gäste begrüßen?", zischte Elrond seinen Sprösslingen zu. Elrohir verdrehte entnervt die Augen. „Oh, bitte!", stöhnte er. „Wie oft soll ich dir sagen, dass ich mich von diesen gesellschaftlichen Zwängen losgelöst habe? Wie soll denn sonst meine Energie frei fließen?" „Und Orks grüßen nicht!", schloss sich Elladan an. Mit bangem Blick sah der Halbelb von einem Schwiegerelternteil zum anderen. Langsam stellte Celeborn seine Tasse ab. „Orks grüßen also nicht", sagte er ruhig. „Sieh mal einer an." „Richtig, Spitzohr!", entgegnete Elladan. „Schon gar kein dreckiges Elbenpack, dem treten sie höchsten in…" „Noch ein Stück Kuchen?", unterbrach ihn Elrond hastig und reichte den Teller herum. „Setzt euch", gebot Galadriel. Die jungen Elben nahmen auf den Stühlen zur Rechten und zur Linken ihres Vaters Platz. „Was hast du denn schon wieder an?", raunzte Elrond Elladan an. „Lass mich in Ruhe!", fauchte dieser und umklammerte den Brustharnisch der Orkrüstung. „Ich mag das!" „Er versucht doch nur, sich selbst zu verwirklichen!", mischte sich Elrohir ein. „Du ziehst auf der Stelle dieses Ding aus!" „Nein!" „Solange du die Füße unter meinen Tisch streckst, ziehst du dich anständig an!" Elrond hatte vor Wut rote Flecken im Gesicht. Elladan funkelte ihn zornig an und legte demonstrativ die Füße in den dreckigen Stiefeln auf die schöne Tischdecke. „Tsss!", machte Galadriel und Celeborn schüttelte nur den Kopf. Elrond schämte sich in Grund und Boden. Es war wie in dem Traum, der immer wiederkehrte: Er stand vor den Valar, hielt eine mitreißende Rede und musste feststellen, dass ihm, er wurde jetzt noch rot, wenn er daran dachte, ein langer schleimiger Faden, so lang wie eine Anakonda, aus der Nase hing.

Jedenfalls richtete seine Schwiegermutter nun das Wort an seine Söhne: „Euch ist sicher schon bekannt, dass eure kleine… Maßnahme zur Verschönerung der Außenfassade eines Hauses auf… Unverständnis gestoßen ist." „Mit anderen Worten: Ihr müsst die Schrift wieder entfernen", erklärte Celeborn bestimmt. „Nein!", riefen die Zwillinge aus. „Was habt ihr euch nur dabei gedacht?", fragte Galadriel. „Ihr seid doch sonst nicht so", ergänzte Celeborn. „Ihr benehmt euch zurzeit zwar etwas eigenartig, aber ihr würdet nie das Eigentum eines anderen beschädigen", fügte Elrond hinzu. „Wir haben es für Draco getan!", rechtfertigte sich Elrohir und Elladan nickte bekräftigend. „Wer ist Draco?" Drei Paar Elbenaugen sahen sie neugierig an. „Eigentlich heißt er Dramaecoirion", erzählte Elrohir. „Er ist gerade erst in Valinor angekommen." „Er muss ziemlich lange unter Menschen gelebt haben", überlegte Elladan laut. „Er spricht nämlich so gut wie kein Elbisch mehr." „Er ist erst vor kurzem nach Valinor gesegelt", berichtete Elrohir weiterhin. „Neuankömmlinge? Davon weiß ich ja gar nichts", gab Galadriel zu. „Ach, keinen Blick in den Spiegel geworfen?", feixte Elrond. „Gut, dass du mich daran erinnerst. Ich wollte euch doch erzählen, was ich gestern im Spiegel…", begann sie, doch Celeborn fuhr dazwischen: „Und was genau, meine lieben jungen Elben, hat dieser Neuling mit der Schrift zu tun?" „Ja, verstehst du denn nicht?", Elrohir warf sich so dramatisch nach vorne, dass er fast den Tisch mitgerissen hätte. „Er ist unser Freund! Ein Freigeist, ein Rebell…" „und Orkfreund", grinste Elladan und ließ die rostigen Scharniere der Rüstung quietschen. „Ich verbitte mir solche Ausdrücke", tadelte ihn Galadriel, die hübsch gewachsene Nase gerümpft. „Und ich verbitte mir, dass ihr beide euch mit solchem Gelicher herumtreibt", setzte Elrond noch eins drauf. Die Zwillinge klappten gleichzeitig empört den Mund auf, schlossen ihn jedoch sogleich wieder wie sterbende Fische. „Seid wohlerzogene Elben und sagt, dass ihr euch nicht mehr mit Draco trefft!", meinte Celeborn in väterlichem Ton. Elladan und Elrohir sahen sich einen Moment lang schweigend an. „Gut, dann sagen wir, dass wir uns nicht mehr mit Draco treffen wollen", sagten sie im Chor.

„Sehr schön!" Elrond klopfte ihnen auf die Schulter. „Ich bin stolz auf euch. Das war eine weise Entscheidung. Dieser Draco hätte nur euren Charakter verdorben. Lebte unter Menschen", er lachte spöttisch auf, „na, dabei kann ja nichts Gutes rauskommen. Er hätte euch sicherlich nur diese unflätigen Menschenausdrücke beigebracht." „So etwas wie", Celeborn senkte die Stimme zu einem Flüstern, „Hornochse oder dumme Nuss." Er wurde rot und kicherte nervös, als hätte er soeben einen zweideutigen Witz gemacht. „Da wir dieses Thema nun endlich abgehakt haben, würde ich nun gern davon berichten, wie ich gestern im Spiegel…" „Sag mal, Celeborn, woher kennst du eigentlich solche Wörter?", fragte Elrohir wie beiläufig. „Stimmt, das würde mich auch interessieren", meinte nun auch noch Elrond „Als ich also gestern nichts Böses ahnend in den Spiegel sah, da…" „Nun, also, weil ich… also, hm…", Celeborn verhaspelte sich und brach ab, das Gesicht von der Farbe einer überreifen Kirsche. „Ich blickte in den Spiegel und vor meinen Augen tat sich plötzlich…" „Still!" Elrond hob die Hand. Die übrigen verstummten, sofern sie geredet hatten (was also eigentlich nur Galadriel betraf). „Hört ihr das auch?" Natürlich hörten sie es, schließlich waren sie Elben. Sie hörten die Schreie klar und deutlich. So etwas hatte man noch nie in Valinor gehört.

„Yrch! Yrch!" Elrond stürmte zum Fenster, seine Söhne im Schlepptau. Gebannt verfolgten sie, wie ein athletisch gebauter Elb die Straße entlang rannte, nein, humpelte, immer drängender war sein Ruf: „Yrch!" In den übrigen Fensterrahmen tauchten nun weitere Elben auf, sie wisperten aufgeregt. Von allen Seiten strömten die Spaziergänger und Lustwandler. Sie bildeten einen Kreis um den elbischen Athleten, dem das Atmen schwer fiel und der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Seite hielt. „Orks!", röchelte er, „überall Orks. Und Warge. Und wilde Menschen. Und…" „Woher?", rief ihm Elrond zu. „Woher kamen sie? Wie sind sie hierher gekommen?" „Ich… ich weiß es nicht." Der Verkünder der Hiobsbotschaft schwankte. „Plötzlich waren sie da, wie aus dem Nichts. Plötzlich waren die geheiligten Ebenen Valinors von Orkfüßen getreten und geschunden." Entsetzen drang ihnen wie ein Stab aus Eis ins reine Herz. „Die Orks", der umringte Elb sprach immer undeutlicher, „sie tragen das Zeichen des Grünen Drachen." „Des was?!", rief Celeborn überrascht aus. Auch die anderen Elben rissen erstaunt die Augen auf. „Wir müssen schnell zu den Waffen greifen und uns so gut wie möglich verteidigen. Der Krieg hat begonnen! Krieg in Valinor!" „Dann führe du uns auf das Schlachtfeld, Botschafter!", rief ihm Elrond zu, doch er schüttelte nur den Kopf: „Ich glaube, das geht nicht mehr." Mit diesen Worten fiel er vornüber und rührte sich nicht mehr. Jetzt konnten alle den schwarz gefiederten Pfeil in seinem Rücken, sowie die tiefen Kratzspuren sehen.

Vorbei war es mit der üblichen Vernunft des elbischen Volkes. Hals über Kopf rannten sie in alle Richtungen, um irgendwie brauchbare Waffen aufzutreiben. Elrond packte seinerseits seine Söhne am Ohr, links Elladan, rechts Elrohir. „Auf, auf! Lasst uns Orks töten! Und wenn ihr nach der Schlacht nicht mindestens vierzig tote Feinde vorzuweisen habt, dürft ihr jedes Buch in meiner Bibliothek zehnmal kopieren", übertönte er ihr Wehklagen. Erbarmungslos schleifte er sie hinter sich her, ihre Flüche und ihr Betteln ignorierend. „Was gibt's denn da zu lachen?", fragte Celeborn seine Gemahlin, die von einem Ohr zum anderen grinste. Er selbst merkte gar nicht, dass er sich den Tee anstatt in die Tasse auf seinen Schoß goss. „Ich wollte es euch ja sagen, aber ihr habt mich ja nicht ausreden lassen", flötete sie. Sie erhob sich, um mit den anderen elbischen Frauen im Schutz eines sicheren Verstecks auf das Ende der Schlacht zu warten. Obgleich ihr Gatte nur wenige Zentimeter von ihr entfernt saß, winkte sie ihm hämisch zu: „Na dann, viel Vergnügen!"