Ein klassischer Fall

"Schüler, ich habe etwas bekanntzugeben. Letzte Nacht hat jemand von euch..."

Der Direktor ließ seinen Blick über die Menge der Schüler gleiten. In der Aula war es mucksmäusschenstill.

"...irgendjemand die Schulregeln auf eine Art und Weise verletzt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Anscheinend hat ein Schüler während der Nacht das Gebäude verlassen und auf dem Schulgelände eine Art... Geschoss gezündet, das in *meinem Büro* explodiert ist."

Ein paar Schüler kicherten und Mr. Clifton warf ihnen einen tödlichen Blick zu. Sofort wurden sie wieder still.

"Der Schaden beläuft sich auf über 500 Pfund und ich kann euch versichern, wir werden den Schuldigen finden und zur Rechenschaft ziehen."

Bis jetzt hatte sich Malcolm eigentlich ganz gut gehalten, doch als er Mr.Clifton zusah, wie er mit immer röter werdendem Gesicht auf der Tribüne auf und abschritt, und seine Stimme immer eisiger und eisiger wurde, fühlte er sich, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Er schloss die Augen und betete darum, dass es ihm gelang, seinen Magen im Zaum zu halten. Vielleicht, vielleicht würde ja niemand den Schweiß sehen, der ihm von der Stirn rann und das Zittern seiner Hände bemerken, als er zwischen den anderen Schülern stand und sich darum bemühte, ebenso unschuldig-überrascht auszusehen wie sie.

Er wusste genau, wer es getan hatte. Er wusste, wer das Geschoss gezündet hatte, dass schließlich im Büro des Direktors explodiert war und 500 Pfund an Schadenskosten verursacht hatte. Aber er hatte es nicht absichtlich getan. Wirklich nicht.

Malcolm sah auf die Leuchtziffern seines Weckers, schob die Decke beiseite und setzte sich auf. Es war jetzt genau ein Uhr und nach den ruhigen Atemzügen und dem Schnarchen der anderen Jungen zu urteilen, waren seine Zimmergenossen endlich eingeschlafen. Er hatte befürchtet, ihm könnten ebenfalls die Augen zufallen, bevor er Gelegenheit bekam, seinen Plan in die Tat umzusetzen, doch tatsächlich war es ziemlich leicht gewesen, wach zu bleiben. Heute Nacht war er viel zu aufgeregt, um zu schlafen. Heute Nacht war DIE GROSSE NACHT.

Leise, um die anderen nicht zu wecken, stand er auf und hob vorsichtig das Fußende seiner Matratze an. Er tastete in dem Zwischenraum zwischen Matratze und Bettgestell herum und endlich spürte er, wie eine zylindrische Form gegen seine Fingerspitzen stieß. Er schloss die Hand darum und sehr vorsichtig, um nicht die Zündschnur abzureißen, holte er sie unter der Matratze heraus. In dem schwachen Licht, das von der Leuchtanzeige des Weckers kam, nahm er auf dem Bett Platz und untersuchte sie noch einmal gründlich. Seine Fantastische Funkensprühende Fünfzehn- Zoll-Flammenrakete. Sie war wunderschön.

Drei Wochen lang hatte er daran gearbeitet, und obwohl die Zimmer der Erstklässler jede Woche kontrolliert wurden, hatte keiner der Lehrer sie entdeckt. Jede Minute seiner Freizeit hatte er damit verbracht, an ihr herumzubasteln, sie immer wieder auseinanderzunehmen, wieder zusammenzusetzen und neue interessante Sprengstoffmischungen hinzuzufügen, deren Zutaten er im Chemielabor hatte mitgehen lassen. Er hatte sogar ein paar Knallfrösche aus seiner Sammlung geopfert, das Pulver aus ihnen herausgekratzt und ebenfalls in die Rakete gestopft. Nach drei Wochen entsprach sie nun endlich seinen Vorstellungen einer Fantastischen Funkensprühenden Fünfzehn-Zoll-Flammenrakete, und war für den Abschuss bereit. Natürlich konnte er sie nicht tagsüber starten, denn dann würden sie ihn schneller hinauswerfen, als man "unerlaubter Waffenbesitz" sagen konnte. Aber das war ihm ganz Recht; in der Nacht würde die Explosion noch viel beeindruckender sein.

Er schlich sich aus dem Zimmer und ging leise den Flur hinunter. Plötzlich knarzte eines der Dielenbretter unter seinem nackten Fuß. Er zuckte zusammen und warf einen nervösen Blick über seine Schulter, doch alles blieb still. Schnell und möglichst geräuschlos lief er die Treppen hinunter und kam schließlich vor der Tür der Toilette im Erdgeschoss an. Er wusste, dass sie das Toilettenfenster in der Nacht immer offenließen, und als er vorsichtig am Fenstergriff drehte, ging es auch wie erwartet auf. Er kletterte aufs Fensterbrett, hielt seine Fantastische Flammenrakete schützend in den Armen und sprang. Als er auf dem nassen Gras landete, wäre er beinahe ausgerutscht, fing sich jedoch im letzten Moment. Fröstelnd in der kalten Nachtluft machte er sich auf den Weg zum Sportgelände. Er hielt es für das Beste, die Rakete vom Fußballfeld aus abzuschießen, da es dort weniger Bäume gab, die Feuer fangen konnten, falls etwas schiefgehen sollte. Natürlich *würde* nichts schiefgehen, doch es war immer besser, auf Nummer Sicher zu gehen. Nach Wochen sorgfältiger Planung, in denen er immer neue Pläne aufgestellt und wieder verworfen hatte, hatte er schließlich eine Vorgehensweise entwickelt, die er für sinnvoll hielt. Er zog seinen Zettel aus der Hosentasche und prüfte, ob er auch nichts vergessen hatte.

LEITFADEN ZUM ABSCHUSS

EINER FANTASTISCHEN FUNKENSPRÜHENDEN FÜNFZEHN-ZOLL-FLAMMENRAKETE

(Auszuführen NUR vom Sachverständigen selbst)

1. Am Tag vor DER GROSSEN NACHT sollte der Sachverständige einen passenden Stock (etwa vierzig Zentimeter lang, nicht zu dick), eine Rolle Paketschnur und eine Schere unter der Hecke bei den Mülltonnen verstecken.

2. Am Abend vor DER GROSSEN NACHT muss der Sachverständige UNTER ALLEN UMSTÄNDEN vermeiden, einzuschlafen!!

3. Wenn der Sachverständige sein Zimmer verlässt, darf er nicht vergessen, eine Schachtel Streichhölzer mitzunehmen. Oder besser zwei.

4. Bevor der Sachverständige das Gebäude verlässt, muss er sich versichern, dass das Toilettenfenster einen Spalt offen steht, damit er später wieder hineinklettern kann.

Bis jetzt hatte alles wunderbar geklappt. Er zog die Plastiktüte mit dem Stock und der Paketschnur unter den Büschen hervor und trug sie hinaus aufs Fußballfeld bis zu dem Platz, den er zu seiner Flammenraketenabschussrampe bestimmt hatte. Nachdem er ein Stück Schnur abgeschnitten hatte, band er die Rakete an den Stock und prüfte, ob die Knoten fest genug waren. Dann rammte er den Stock in den schlammigen Boden und achtete darauf, ihn tief genug in die Erde zu stecken, so dass er nicht im entscheidenden Moment umkippte. Schließlich trat er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk. Die Schritte Nr.5 (Der Sachverständige besorgt sich seine Ausrüstung) und Nr.6 (Die FFFZF-Rakete wird vorbereitet) waren abgehakt, und er konnte endlich zu Schritt Nr.7 übergehen: Die Zündschnur wird gezündet.

Er griff in die Tasche seines Schlafanzugs und zog eine der Streichholzschachteln hervor, die er (Schritt Nr.3) aus seinem Zimmer mitgebracht hatte. Feierlich zündete er eines der Streichhölzer an. Die kleine Flamme flackerte im Wind und wäre fast erloschen, wenn er nicht die Hand davorgehalten hätte.

'Jeder, der jetzt aus dem Fenster sieht, wird dich entdecken.'

Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf und nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte einen Tarnumhang genau wie Harry Potter. Der wäre für solche Unternehmungen genau das Richtige.

Malcolm schüttelte den Kopf. Von solchen Gedanken durfte er sich jetzt nicht ablenken lassen. Er trat einen Schritt auf die Rakete zu, und seine Hand zitterte fast gar nicht, als er das brennende Streichholz an die Zündschnur hielt.

Gebannt von dem Anblick, als die kurze Schnur Feuer fing, erinnerte er sich gerade noch rechtzeitig an Schritt Nr.8: NICHTS WIE WEG!!!

In sicherer Entfernung hielt er schließlich an und drehte sich um. Genau in dem Moment hob die Fantastische Funkensprühende Fünfzehn-Zoll-Flammenrakete mit einem entsetzlich lauten Knall vom Boden ab und ließ eine große Wolke aus Rauch und Staub hinter sich. Mit einem aufgeregten Kitzeln im Magen sah Malcolm, wie sie höher und höher stieg. Als sie immer weiter raste und dabei einen breiten Feuerstreifen hinter sich ließ, konnte er sich ein glückliches Grinsen nicht verkneifen. Er hätte nie gedacht, dass sie *so* hoch fliegen würde.

Plötzlich jedoch änderte die Rakete ihren Kurs, und als Malcolm sah, worauf sie zuflog, fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Rakete hatte einen eleganten Bogen gemacht und schoss nun direkt auf das Schulgebäude zu. Entsetzt krallte Malcolm die Hände in die Wangen, als er zusehen musste, wie seine Fantastische Funkensprühende Fünfzehn-Zoll-Flammenrakete auf eines der Fenster im zweiten Stock zuraste.

Nein, dachte er, neineinneinneinnein - KLIRR! Die Rakete sauste durch das Fenster und sprengte es dabei in tausend Stücke, die auf den Rasen vor der Schule herabregneten. Einen Moment lang herrschte Stille. Dann gab es einen Knall, als die Rakete explodierte, genau wie er es geplant hatte, nur dass die Explosion zehnmal gewaltiger war, als er es sich je in seinem wildesten Träumen ausgemalt hatte. Grüne, rote, gelbe, pinke und blaue Lichtblitze zuckten auf, es fauchte, krachte und zischte, und Malcolm fielen die Knallfrösche ein, die er ganz oben in die Rakete gestopft hatte. Er stand völlig erstarrt da, entsetzt und ekstatisch zugleich, als er zusah, wie seine Fantastische Funkensprühende Fünfzehn-Zoll-Flammenrakete im Büro des Direktors explodierte.

Plötzlich gingen überall im Haus die Lichter an und Malcolm konnte verwirrte Stimmen laut durcheinanderreden und -schreien hören. Er erwachte aus seiner Trance und erinnerte sich an Schritt Nr. 9 seines Plans: Wenn sie kommen, um zu sehen, was es mit dem Krach auf sich hat, muss der Sachverständige verschwunden sein.

Mit einem letzten Blick auf die Rauchschwaden, die aus dem Fenster des Direktors quollen, drehte er sich um und rannte davon.

"...und ihr habt mein Wort darauf, wenn wir den Schuldigen gefunden haben, werde ich persönlich dafür sorgen, dass er nie wieder einen Fuß in diese Schule setzt!"

Mr.Clifton fixierte die Menge mit einem tödlichen Blick und Malcolm spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Schritt Nr.10, "Der Sachverständige wird hinausgeworfen und anschließend von seinem Vater umgebracht", war nie Teil seines Plans gewesen, und er hoffte und betete inständig, dass es auch nicht dazu kommen würde. Seine Zimmergenossen hatten gar nicht gemerkt, dass er fort gewesen war; als er zurückkam, standen sie am Gang herum, um zu sehen, was es mit dem Lärm aus sich hatte, und Malcolm hatte ihnen einfach erzählt, er käme gerade von der Toilette zurück. Er war sich ziemlich sicher, dass ihn sonst niemand gesehen hatte, als er ins Schulgebäude zurückgeschlichen war, aber trotzdem erwartete er, jeden Moment nach vorne gerufen zu werden. Mr.Clifton jedoch schien mit seiner Ansprache zu Ende gekommen zu sein. Er trat von der Tribüne herunter und mit einer kurzen wütenden Handbewegung in Richtung der Schüler knurrte er: "Wegtreten."

Die Jungen strömten aus der Aula und Malcolm schlich hinter seinen Klassenkameraden her die Treppe hinauf. Er konnte sein Glück kaum fassen. Vielleicht würde man ihn ja doch nicht erwischen. Er dachte an die fantastische Explosion, die er heraufbeschworen hatte, und grinste ein bißchen. Die Rakete war immerhin vom Fußballfeld bis zum Fenster des Direktors geflogen, und das waren bestimmt gute 200 Meter, vielleicht sogar mehr. Er überlegte. Wenn er nun die Sagenhafte Superschnelle Siebzehn-Zoll-Starrakete kaufte und sie ein wenig verbesserte, konnte er sie vielleicht sogar auf 300 Meter bringen.

Wunderschöne Bilder entstanden vor seinem geistigen Auge und ohne überhaupt zu merken, wohin er ging, folgte Malcolm den anderen ins Klassenzimmer.

Merke: Gewisse Neigungen zeichnen sich schon in der Kindheit ab.