Spritztour

"Charlie!"

Charles Tucker III hörte die Stimme seiner kleinen Schwester und drehte sich um. Er sah, wie Lizzy über die Wiese auf die Schaukel zulief und fröhlich winkte. Schnell ließ er die Kekse in seiner Hosentasche verschwinden und stopfte sich den, an dem er gerade geknabbert hatte, in den Mund. So wie er Lizzy kannte, wären die Kekse in Nullkommanichts verschwunden, wenn sie sie in die Finger bekäme.

Lizzy setzte sich auf die Schaukel neben ihm, vergrub ihre Zehen im Sand und sah zu ihrem neunjährigen Bruder auf.

"Du bist ganz voller Brösel. Hast du was gegessen?"

Er wischte sich die Kekskrümel von der Hose und bemühte sich um einen unschuldigen Gesichtsausdruck. "Ne, hab ich nicht. Wo warst du denn den ganzen Tag, ich hab dich gar nicht gesehen."

Lizzy verdrehte die Augen. "Mom ist Grandma besuchen gegangen und ich musste mit. Sie wollte, dass du auch mitkommst, aber sie hat dich nicht gefunden."

"Glück gehabt." Charlie war froh, dass er um diesen Besuch herumgekommen war. Er mochte Grandma, aber es war so schrecklich langweilig, stundenlang still in einem Sessel sitzen und zuhören zu müssen, wie sie und Mom über die Nachbarschaft herzogen. Aber um ehrlich zu sein, war es hier auch nicht viel interessanter. Vor einer Woche hatten die Sommerferien begonnen, und alle seine Freunde waren mit ihren Familien in den Urlaub gefahren. Brad war bei seinem Onkel in Kalifornien und Mike besuchte seine Verwandten in England. Nur er hatte natürlich wieder zu Hause auf der blöden Farm bleiben müssen. Das einzige, was er hier tun konnte, war seinem Vater aus dem Weg zu gehen, um nicht ständig neue Pflichten aufgebrummt zu bekommen. Charlie hatte nicht vor, die ganzen Ferien über Unkraut zu jäten und den Hühnerstall auszumisten.

Lizzy begann auf der Schaukel auf und ab zu hüpfen, wobei sie eine Menge Sand aufwirbelte.

"Mir is' langweilig," sagte sie in einer Stimme, die Charlie nur zu gut kannte. Sie bedeutete: Los, lass dir was einfallen! Und er wusste, dass es besser war, darauf einzugehen, denn meistens gab es Ärger, wenn er nicht genau das tat, was sie wollte. Nun, in den meisten Fällen gab es noch viel mehr Ärger (zumindest für ihn), wenn er tat, was sie wollte, aber im Moment konnte ein bißchen Ärger gar nicht schaden. Alles war besser, als eine weitere Stunde untätig herumzusitzen und sich zu langweilen.

Er stand auf. "Wozu hättest du denn Lust?"

Lizzy zog eine Schnute. "Weiß nicht. Denk du dir was aus."

Er überlegte. "Wollen wir zum See runter und bißchen schwimmen?"

"Ne, dazu ist es viel zu heiß."

"Oder wir könnten reingehen und uns das Video anschauen, das ich zum Geburtstag gekriegt hab?"

Sie schüttelte den Kopf. "Auch langweilig. Außerdem ist der Fernseher kaputt, er knallt immer so komisch, wenn man umschaltet."

Charlie erinnerte sich daran, wie er vor ein paar Tagen das Gehäuse des Fernsehers aufgeschraubt und auseinandergenommen hatte, weil er sehen wollte, wie das Ding eigentlich funktionierte. Nachdem er einige Minuten mit einem alten Schraubenzieher im Inneren des Fernsehers herumgestochert hatte, war irgendein Kabel abgerissen und hatte zu schmoren begonnen. Ein Funkenregen war auf ihn niedergegangen und er hatte sich die Hand verbrannt, als er versuchte, den Schaden zu reparieren.

Er räusperte sich nervös. "Naja, Mom würde uns jetzt sowieso nicht fernsehen lassen."

Lizzy warf ihm einen langen Blick zu, der ihm verriet, dass sie genau Bescheid wusste, ihn jedoch vorerst nicht verpetzen würde. Das konnte sie schließlich immer noch tun, wenn er sich nicht schnellstens etwas einfallen ließ, um sie zu unterhalten. Charlie sah sich um, und sein Blick fiel auf den alten Jeep vor der Garage. Die frisch lackierte Kühlerhaube glitzerte im Sonnenlicht.

"Wie wär's mit 'ner kleinen Spritztour?"

Lizzy verzog das Gesicht. "Haha. Du bist noch viel zu klein, um Auto zu fahren. Und außerdem hast du keinen *Führerschein*."

Er zuckte mit den Schultern und versuchte so zu klingen, als wüsste er nicht, warum sie sich so anstellte. "Na und? Deshalb kann ich trotzdem Auto fahren. Hab ich schon hundert Mal gemacht."

"Hast du nicht! Und außerdem würde dir Dad nie im Leben den Autoschlüssel geben! Weißt du noch, was das letzte Mal passiert ist, als du ihn einfach genommen hast und-"

"Das war ein Unfall," unterbrach er sie schnell. "Und es ist ja auch schon über ein Jahr her. Jetzt bin ich viel älter."

"Trotzdem wird er dir den Schlüssel nicht geben! Und du kriegst schrecklichen Ärger, wenn du ihn wieder klaust-"

"Ich brauch den Schlüssel gar nicht." Ihm war ein Gedanke gekommen und er grinste auf seine kleine Schwester herab, die skeptisch eine Augenbraue hob.

"Wie willst du dann das Auto anlassen?"

"Ich werd's ganz einfach kurzschließen."

Lizzy runzelte die Stirn. "Was heißt das, 'kurzschließen'?"

"Kurzschließen heißt, dass man ein Auto ohne Schlüssel anlässt."

"Das geht nicht!"

"Doch. Ich hab neulich eine Dokumentation über Autodiebe gesehen, und die haben das die ganze Zeit gemacht. Ist ganz leicht."

Er ließ seinen Blick fachmännisch über den Jeep gleiten, dann sah er wieder Lizzy an. "Dauert nicht länger als zehn Minuten," meinte er lässig. "Ich hol nur schnell mein Werkzeug und dann sehen wir weiter."

Lizzy lief hinter ihm her, als er seinen Werkzeugkasten aus dem Schuppen holte.

"Autodiebe?!" fragte sie und beeilte sich, zu ihm aufzuholen, als er den Hof überquerte und neben dem Jeep stehenblieb. "Du wirst Ärger kriegen, Charlie!"

Er öffnete die Autotür und kletterte hinter das Steuerrad. Einmal drinnen begann er, das mitgebrachte Werkzeug sorgfältig auf dem Beifahrersitz auszubreiten. Lizzy stand immer noch vor der Tür, die Hände in die Hüften gestemmt.

"Das kannst du nicht machen. Dad wird dich umbringen!"

Er sah auf. "Der wird gar nichts merken. Ich hab dir doch gesagt, es ist ganz einfach. Also, willst du jetzt eine Spritztour machen oder nicht?"

Lizzy war zwar eine schreckliche kleine Petze, doch feige war sie nicht. Sie wusste, dass sie herausgefordert worden war. Ohne ein weiteres Wort kletterte sie auf den Rücksitz und lehnte sich zwischen den Vordersitzen nach vorn, um besser sehen zu können, was er tat. Charlie versuchte sich inzwischen daran zu erinnern, was genau der Typ im Fernsehen gemacht hatte, nachdem er all diese Drähte und Kabel herausgezogen hatte. So weit er sich erinnerte, hatte es ziemlich einfach ausgesehen, aber irgendwie sahen diese Drähte alle gleich aus und er wusste nicht, welche von ihnen er verbinden musste, um die Zündung in Gang zu setzen.

Warum können sie so etwas nicht in Zeitlupe wiederholen, dachte er missmutig und stocherte im Inneren des Armaturenbretts herum.

"Siehst du? Ich habs dir doch gesagt!" Lizzys Stimme klang sehr befriedigt, wenn auch ein wenig enttäuscht. "Man kann ein Auto nicht ohne Schlüssel-"

Funken stoben, der Jeep gab ein würgendes Geräusch von sich und Charlie, der damit nicht gerechnet hatte, trat vor Schreck aufs Gaspedal. Der Jeep machte einen Satz nach vorne, Lizzy kreischte und krallte sich an Charlies Schulter fest.

"Halt an! Du musst bremsen!"

"Ich kann nicht!" brüllte er und drehte wie wild am Steuerrad. "Irgendwas klemmt!"

Der Jeep verfehlte das Garagentor um Haaresbreite, schoss auf den Hof hinaus und jagte auf den alten Feuerholzschuppen zu, der am anderen Ende stand. Charlie geriet in Panik, ließ das Steuerrad los und packte mit beiden Händen die Handbremse, doch zu spät. Sie krachten in die Schuppenwand, Lizzy kreischte und irgendetwas Schweres sauste auf die Windschutzscheibe herab, die in tausend Stücke zersplitterte. Ein Regen winziger Glasscherben ging auf sie herab. Der Motor gab ein letztes Stöhnen von sich und verstummte. Auf einmal war alles sehr dunkel und still. Die hölzernen Wände des Schuppen, die über ihnen zusammengekracht waren, ließen fast kein Licht hindurch. Einen Moment lang saßen sie wie erstarrt und starrten auf das Schuppendach, das nun quer über der Windschutzscheibe lag, die morschen Bretter vollkommen zersplittert.

Lizzy machte als Erste den Mund auf.

"Du wirst Ärger kriegen. Du hast das Auto kaputtgemacht *und* den Schuppen einstürzen lassen. Ooh Mann, du wirst einen solchen Ärger kriegen."

Charlie ließ seinen Blick über die Glasscherben und Holzsplitter auf dem Armaturenbrett wandern. Er konnte nicht glauben, dass innerhalb von fünf Minuten sein Todesurteil gefallen war.

"Diesmal haut dich Dad," meinte Lizzy und lehnte sich höchst befriedigt in ihrem Sitz zurück.

"Halt die Klappe," murmelte er und wusste nur zu gut, dass sie wahrscheinlich Recht hatte. Vorsichtig streckte er die Hand durch die zerbrochene Windschutzscheibe und drückte gegen das Schuppendach. Irgendetwas quietschte, und es gab einen lauten Krach, als einige Bretter verrutschten und zu Boden fielen. Schnell zog er seine Hand zurück.

"CHARLES!"

Charlie hörte, wie jemand die Bretter beiseite stieß. Im nächsten Moment tauchte sein Vater auf. Völlig außer Atem kam er neben dem Jeep zu stehen und starrte ihn durchs Fenster hindurch an. Reines Entsetzen spiegelte sich auf seinem Gesicht.

"Mein Gott! Was ist passiert?"

Er stieß ein paar Bretter zur Seite, die ihm im Weg waren, riß die Autotür auf und packte Charlie am Arm.

"Bist du verletzt?"

Charlie schluckte und schüttelte den Kopf, brachte aber keinen Ton heraus. Lizzy hingegen hatte keine derartigen Probleme.

"Ich hab mir das Knie angehauen."

Erschrocken drehte sein Vater den Kopf. "Lizzy!?"

Er sah wieder Charlie an und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. "Was zum Teufel-"

Dann fiel sein Blick auf die Drähte, die unter dem Steuerrad heraushingen und sein Gesicht lief rot an.

"Du- du- du hast das AUTO KURZGESCHLOSSEN!!? Bist du denn total verrückt?!!"

Bevor Charlie antworten konnte, hatte sein Vater ihn schon aus dem Jeep gezogen und schüttelte ihm wie wild.

"HAST DU DENN EIGENTLICH NICHTS ALS BLÖDMATSCH IM HIRN, DAS AUTO KURZZUSCHLIESSEN, IHR HÄTTET BEIDE TOT SEIN KÖNNEN, IHR-"

"Ich hab ihm gesagt, er soll es lassen, aber er wollte nicht auf mich hören." Lizzy war ebenfalls aus dem Auto geklettert und neben sie getreten, die Arme über der Brust verschränkt und ein selbstzufriedenes Lächeln auf dem Gesicht.

Sein Vater ließ ihn los und drehte sich um. Der alte Holzschuppen war vollkommen zusammengekracht und der Jeep kaum noch zu sehen unter dem riesigen Bretterhaufen. Doch was man noch erkennen konnte, sah ziemlich kaputt aus; die Windschutzscheibe war zersplittert, die Verkleidung voller Beulen und Dellen, und die frisch lackierte Kühlerhaube vollständig zerkratzt und verbogen. Es war ein schrecklicher Anblick. Charles Tucker II gab ein seltsames Geräusch von sich, etwas zwischen einem Würgen und einem Schluchzen.

"Mein Auto! Du hast mein Auto kaputtgemacht! Schon WIEDER!!"

Er drehte sich wieder um, und Charlie konnte praktisch sehen, wie ihm der Dampf aus den Ohren stieg. Instinktiv trat er einen Schritt zurück, doch sein Vater hatte ihn bereits am Arm erwischt und schleifte ihn in Richtung Haus.

"Was in Gottes Namen hast du dir dabei GEDACHT, du hättest dich UMBRINGEN können, du hättest deine SCHWESTER umbringen können, woher weißt du überhaupt, wie man ein AUTO KURZSCHLIESST-"

Sie waren bei der Veranda angekommen und Charlie stolperte hinter seinem Vater die Stufen hinauf. Er hörte ihn brüllen und schreien, aber er verstand den Sinn seiner Worte nicht. Er stand unter Schock. In seinem Kopf war nur ein einziger, alles beherrschender Gedanke:

'Das war's. Ich hab das Auto zum zweiten Mal kaputtgemacht. Jetzt ist es vorbei.'

Er wurde ins Haus und die Treppe hinaufgezerrt und als sie bei Charlies Zimmer angekommen waren, riss sein Vater die Tür auf und schubste ihn hinein.

"Ich geh jetzt nach draußen und seh nach, ob ich noch irgendetwas retten kann und wenn ich fertig bin, werden wir zwei uns GRÜNDLICH UNTERHALTEN! Du bleibst hier und rührst dich nicht von der Stelle!"

Die Tür knallte zu und Charlie stand wie gelähmt in der Mitte seines Zimmers. Lizzy hatte Recht gehabt; jetzt würde es definitiv schrecklichen Ärger geben.

"... und die ganze nächste Woche bleibst du hier drin. Du gehst nicht raus zum Spielen, du schaust kein Fernsehen, du machst nichts anderes als über das nachzudenken, was du heute angestellt hast und dir zu überlegen, warum du das NIE WIEDER tun wirst. IST DAS KLAR?"

Charlie wich dem wütenden Blick seines Vaters aus und schniefte.

"Ja, Dad."

"Sehr gut." Sein Vater presste die Lippen zusammen und starrte ihn an. Charlie trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

"Was ist bloß mit dir los?" fragte sein Vater schließlich. Vorsichtig sah Charlie zu ihm auf. Sein Vater runzelte die Stirn.

"Ich meine, alle kleinen Jungs machen mal Ärger, das ist ganz natürlich. Aber du... du hast das Auto jetzt schon zwei Mal kaputtgemacht, und du bist noch nicht mal sechzehn! Du bist ja noch nicht mal zehn! Ganz zu schweigen von dem Schuppen. Und das andere Mal, als du das mit der Fahnenstange und dem Klopapier gemacht hast..."

Er brach ab und Charlie sah wieder auf seine Füße hinunter. Einen Moment später hörte er seinen Vater seufzen.

"Egal, vergiss es. Du wirst dieses Zimmer heute nicht mehr verlassen, außer zum Abendessen, und danach gehst du sofort ins Bett. Und wenn du in nächster Zeit auch nur den kleinsten Unsinn anstellst, dann zieh ich dir das Fell über die Ohren, kapiert?"

Charlie nickte. "Ja, Dad."

"Gut." Mit einem letzten strengen Blick drehte sich sein Vater um und verließ den Raum. Charlie ließ sich auf sein Bett plumpsen und starrte voller Selbstmitleid an die Zimmerdecke. Warum taten sie nur alle, als ob er jemanden umgebracht oder das Haus angezündet hätte? Er hatte doch nur ein wenig Spaß haben wollen! Was war denn daran so schlimm? Sein Vater hatte ohnehin immer gesagt, dass er demnächst den Schuppen abreißen wolle. Charlie rollte sich auf den Bauch und nahm ein Comicheft vom Nachttisch. Nachdem er ein paar Minuten lustlos darin herumgeblättert hatte, ging die Tür erneut auf und Lizzy kam herein.

"Hau ab," brummte er und drehte ihr den Rücken zu. Sie hörte natürlich nicht auf ihn, kam zu seinem Bett herüber und blieb mit verschränkten Armen neben ihm stehen.

"Siehst du?" meinte sie und hörte sich genau wie Mom an. "Ich hab dir doch gesagt, dass er dich verhauen wird!"

Charlie wurde rot. "Halt die Klappe, Lizzy!"

Sie setzte sich neben ihn aufs Bett. "Ich hätte ja nie gedacht, das du es wirklich kannst. Ein Auto kurzschließen, mein ich."

"Ich hab dir doch gesagt, es ist einfach." Er legte das Comicheft weg und setzte sich auf. "Manche Leute schaffen es sogar in weniger als zwanzig Sekunden."

"Ich glaub, viel länger hast du auch nicht gebraucht." Sie lächelte ihn an, offenbar entschlossen, ihn wieder freundlich zu stimmen. "Weißt du, ich fand's echt cool, als der Schuppen zusammengekracht ist. Genau wie in dem Film, den wir letzte Woche gesehen haben."

"Und der Jeep war sowieso 'ne alte Schrottkarre." Gegen seinen Willen trat ihm ein Grinsen aufs Gesicht. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, dann nahm Charlie sein Comicheft wieder auf. Nach ein paar Minuten fühlte er, wie Lizzy ihn anstupste.

"Charlie..."

Er blickte auf und sah ein vertrautes Glitzern in ihren Augen.

"Weißt du was?

"Was?"

Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. "Mir ist langweilig."

Merke: Für das sogenannte "Tucker-Syndrom" gibt es keine Heilung.