Die unwirkliche Stadt
Kapitel 1: Ertrinken (Death by Water)Schon seit langer Zeit, scheint mir, habe ich von Númenor geträumt, von der dunklen Flut, die sich gnadenlos gegen seine stolzen Türme und noch stolzeren Menschen erhob. Bereits in meiner Kindheit kam dieser Traum zu mir, das erste mal im Sommer nach dem Tod meiner Mutter. Aber zuerst war er formlos, die vage Drohung einer heraufziehende Dunkelheit, von der ich zitternd vor Angst erwachte.
Als ich heranwuchs, nahm der Traum Form an. Zuerst ritt ich hoch über dem Land wie von einem mächtigen Adler getragen, und ich schaute hinunter und sah den mitleidlosen Ansturm der Flutwelle, die alles mitriß, Gerechte wie Ungerechte. Später gewann der Traum mehr an Detail. Ich selbst ging bergan durch die grünen Landschaften oder die mächtigen Straßen von Númenor, meinen Schritt beschleunigend als ich das plätschernde Geräusch von Wasser wahrnahm, das schnell zu einer tosenden Flut wurde. Ich rannte, um eine Anhöhe zu erreichen, aber es war immer vergeblich. Am Rande des Ertrinkens wachte ich auf.
Mein Vater bedachte diese Visionen mit Verachtung; ein weiteres Zeichen der Unzulänglichkeit seines jüngeren Sohnes. Mein Bruder nahm einfach an, ich lese zu viel, aber er hätte mich nicht anders haben wollen. Ich selbst vermutete, daß ich daraus herauswachsen würde, und tatsächlich, als unser Land bedrängt wurde und ich mehr Zeit in Ithilien in unserem unaufhörlichen Kampf gegen den Feind verbrachte, schien es als ebbte die Flut ab, und der Traum beunruhigte mich weniger.
Wann immer der Traum kam, war es, wenn ich für einige Zeit zurück in Minas Tirith war. Aber ich war nicht so unvorsichtig, es zu erwähnen. Ich hatte zwar nicht die Gewohnheit angenommen, Dinge vor meinem Herrn und Vater zu verbergen – aber ich war seines Zorns müde und hatte kein Verlangen danach, mich seiner Wut über Gebühren auszusetzen. Dies, denke ich, war eine weitere Quelle seiner Unzufriedenheit mit mir, denn er ahnte, daß ich noch immer träumte, aber es lieber nicht mit ihm erörterte. In dieser Hinsicht, das spürte er, konnte er nicht über mich befehlen, und deshalb mißtraute er mir.
Aber der Traum, der mich nach dem Angriff auf Osgiliath heimsuchte, konnte nicht verheimlicht werden. Mehr wie eine Vision war er, und er störte meinen Schlaf jede Nacht mit zunehmender Intensität. Vier Nächte lang konnte ich nicht zur Ruhe kommen, und dies war mir schließlich anzusehen. Mein Vater war zunächst der Ansicht, daß sich keiner seiner Hauptmänner in einer für Gondor so gefährlichen Zeit mit solchen Phantasien krank machen sollte, aber, als der Traum auch zu meinem Bruder kam, konnte er nicht länger mißachtet werden.
Die Tatsache, daß wir auf einen unserer Hauptmänner – und zudem auf Boromir – verzichteten, damit er nach Imladris suchte, war vielleicht ein Maß dafür, wie verzweifelt unsere Not inzwischen geworden war; und wie beunruhigt mein Vater war. Und wenn mir der Gedanke kam, daß mein Vater seine Zustimmung nur gab, weil auch mein Bruder diesen Traum gehabt hatte, dann äußerte ich dies nicht; denn so vordringlich schien es mir den Ruf des Traumes zu befolgten, daß ich keinen Unwillen, sondern nur Erleichterung darüber fühlte, daß sich jemand der Sache angenommen hatte.
An einem kalten Nachmittag Ende Februar ging ich alleine in dem Hof, wo der Springbrunnen stand, hin und her und wartete darauf, von meinem Vater gerufen zu werden. In dieser Nacht sollte ich, bevor ich nach Ithilien zurückkehren würde, zu unserem Außenposten in Osgiliath reiten. Wir hatten Kunde von einem Regiment von Männern aus Harad, die die Nordstraße heraufzogen, und wir konnten sie nicht ungehindert vorbei lassen. Zu lange war es mittlerweile her, daß ich bei meinen Männern in Ithilien gewesen war, und noch mußte ich mehrere Nächte in Osgiliath verweilen. Zu wenige Hauptmänner hatten wir für die Durchführung dieses Krieges, und nun war es fast acht Monate her, seit Boromir losgezogen war. Und wir hatten seither nichts von ihm gehört.
„Du blickst Richtung Norden, sehe ich. Auch meine Gedanken richten sich dort hin."
Ich wendete mich um und sah meinen Vater hinter mir stehen und war überrascht, da ich erwartet hatte, gerufen und nicht aufgesucht zu werden.
„Mein Herr", sagte ich zur Begrüßung und beugte mich nieder, um den silbernen Ring an seiner ausgestreckten Hand zu küssen.
„Geh ein Stück mit mir", befahl er und leitete mich östlich des Weißen Turms und entlang des großen Keils der Stadt. Während wir gingen, befragte er mich über meine bevorstehende Unternehmung, meinen Auftrag in Ithilien und gab seinen Rat und fand einmal keinen Fehler.
Ermutigt durch seine wie gewöhnlich strenge, aber nicht - wie so oft - kalte Gemütsverfassung sprach ich freier von meinen größten Sorgen; von meiner Überzeugung, daß es jetzt nicht mehr lange dauern könne, bis die Kompanie von Ithilien sich auf die Westseite des Anduin zurückziehen müsse; und von meiner Sorge um die Einheit in Osgiliath, die ich für schwach hielt; und ich spekulierte darüber, wie viele Kräfte wohl erübrigt und dorthin geschickt werden könnten. Er hörte aufmerksam zu, hin und wieder nickend, und, während ich sprach, kam es mir plötzlich in den Sinn, daß er mir gegenüber in den Monaten, seit Boromir losgezogen war, größere Höflichkeit zeigte als ich je zuvor von ihm erfahren hatte. Als wir schließlich den östlichsten Punkt erreicht hatten, blieben wir stehen, er tief in Gedanken, und ich konnte mir fast selbst einreden, daß die Stille zwischen uns freundschaftlich war.
Als wir dort standen, begann der Sonnenuntergang, die Berge zu färben, und ein kalter Wind kam von Norden her. Mich fröstelte. Erneut richtete ich meine Sinne nordwärts, mein Blick schweifte über den Pelennor und bis hinter das Tor im Rammas, die Straße hinauf Richtung Anórien. Und dann hörte ich es, vom Wind mir zugetragen, den leisen Klang eines Horns, in meinen Gedanken widerhallend, ein Ruf, den ich kannte und liebte.
Man muß mir etwas angesehen haben, oder vielleicht habe ich unbewußt nach Luft geschnappt.
„Was ist?" fragte mein Vater, und sein schneidend scharfer Ton war wie ein kalter Windstoß in meinem Gesicht. Ich erhob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, ohne an mögliche Konsequenzen zu denken, denn nur die Tollkühnen stellen die Geduld meines Herrn, des Truchseß, auf die Probe – aber ich mußte sicher sein, was ich gehört hatte.
„Faramir!" sagte er streng, und ein wohl bekannter Unterton von Wut war in seine Stimme zurückgekehrt.
„Hört!" flüsterte ich.
Sein Gesichtsausdruck wurde hart, so als ob er wieder einmal überlegte, warum er mit einem derart schwierigen und launenhaften Sohn gestraft worden war; aber er wendete sich nach Norden. Und dann sah ich, daß auch er es hörte. Hinaus über den Pelennor blickte er, und dann zerbrach etwas in diesem stolzen Gesicht, und mitten in meiner eigenen Angst war ich von Mitleid für ihn erfüllt. Sich umwendend begegnete er meinem Blick und sein Ausdruck verhärtete sich. Schnell senkte ich meine Augen.
„Dies bedeutet nichts", sagte er harsch. „Du wirst mit niemandem hierüber sprechen, hörst du?"
Ich schaute wieder zu ihm hoch, auf sein unnachgiebiges Gesicht, und sagte leise:
„Euch zu Befehl, mein Vater."
„Dann kümmere dich um deine Pflichten. Ithilien erwartet dich." Und er wendete sich ab und ging zurück zum Turm. Ich war entlassen.
Noch in derselben Stunde machte ich mich auf den Weg nach Osgiliath. Hinter mir ging die Sonne über Mindolluin unter. Als ich von der sechsten Ebene der Stadt los ritt und kurz zurückblickte, mußte ich meine Augen vor ihrem roten Schein schützen, aber ich glaubte dennoch, ein fahles Licht an der Spitze des Turms flackern gesehen zu haben. Doch ich hatte einen langen Weg vor mir und viele Sorgen, und ich drängte diese neue aus meinen Gedanken und ritt ostwärts.
* * * * * * * * * * * * * *
Dunkelheit lag über Osgiliath. Einstmals die starke und schöne Hauptstadt, Juwel der mächtigen Krone von Gondor, lag es nun in Ruinen, in zwei geteilt durch die Zerstörung der Brücke, sein Ostteil in Feindeshand, und sein westlicher Teil nur von den Männern heimgesucht, die durch die zerstörten Straßen huschten, um es zu verteidigen, - und von Geistern.
Dies war das Kommando meines Bruders gewesen. Ich selbst hätte es nicht ertragen können, Tag ein Tag aus durch ihr Zwielicht auf die Trümmer der Hochzeit von Gondor zu blicken. Für meinen Bruder jedoch war es eher ein Ansporn dafür, die Stadt noch mächtiger wieder aufgebaut zu sehen. Sehr hat er um die Zerstörung der Brücke getrauert. Nach nur drei Tagen sehnte ich mich weg von hier, aber nicht zurück zu den Rätseln und dem Schweigen von Minas Tirith. Mein Herz sehnte sich nach Ithilien und meinen eigenen Männern, um die mir, während ich in Osgiliath aufgehalten wurde und das Ostufer des Anduin bewachte, stündlich mehr bangte. Aber wir waren im Krieg, und dies war unser Hauptaußenposten, und ich konnte nicht immer dort sein, wo ich wollte.
Vielleicht lag es daran, daß ich drei Tage zwischen den Ruinen des Triumphs von Gondor verbracht hatte. Oder vielleicht war es tatsächlich eine Botschaft, die mir geschickt wurde, ich weiß nicht woher. Alles, was ich weiß, ist, daß ich, als ich in der dritten Nacht schließlich zu meinem Zelt zurückkehrte, mich müde nach einem langen Tag auf mein Feldbett legte, und sogleich in einen Traum verfiel, der lebhafter war als je zuvor.
Im Traum ging ich durch ein fruchtbares, grünes Tal, und die Sonne schien auf mich herunter. Die Landschaft war Ithilien sehr ähnlich, aber ich kannte den Ort nicht, obwohl ich ganz Ithilien kannte, denn es war mein eigen. Und das Land war still; kein Laut von Vögeln oder Tieren, nicht einmal ein Rascheln des Windes in den Blättern. Durch Ithilien zu wandern beflügelte den Geist, selbst noch in diesen dunklen Zeiten, aber hier war die Luft gefüllt mit Grauen, sogar im Sonnenschein. Mich niederbeugend berührte ich den Boden und fühlte, daß sogar die Blätter der Gräser erstarrt zu ein schienen - wartend.
Ich ging weiter und kam schließlich zu einer weiß gepflasterten, breiten Straße. Aufwärts streckte sie sich vor mir aus, auf der linken Seite in Abständen von hohen Steinstatuen gesäumt. Ich hatte mir genug Hochelbisch beigebracht, um die Namen zu verstehen, und außerdem kannte ich sie auswendig, denn es waren die Namen der Könige und Königinnen von Númenor. Es kam eine Stelle, an der die Namen sich veränderten, die Sprache wurde stolzer und harscher, und die Statuen waren noch höher. Und obwohl die Fertigkeit, mit der sie gemacht worden waren, größer war, waren sie weniger schön. Am Ende der Reihe waren zwei Statuen, etwas von der Straße zurückgesetzt die einer Frau, davor die eines Mannes, und seine Statue war die mächtigste, mit Ausnahme vielleicht von der allerersten. Fast wie ein Gott erschien er, aber sein Gesichtsausdruck war grausam.
Dann schaute ich nach vorne und sah vor mir einen mächtigen Tempel. Riesig war er, jenseits aller Vorstellungskraft, größer als jedes Bauwerk von Gondor in seiner Blütezeit, aber seine Kuppel war schwarz, und ein übler Gestank ging von ihm aus. Schließlich hörte ich ein Geräusch, das leise Wehklagen der Mütter; und ich wußte, daß ich vor dem mächtigsten Gebäude der Númenoräer stand und vor ihrer größten Schande, dem Tempel von Morgoth in Armenelos. Und die Frauen weinten um ihre Väter und Söhne und Brüder, deren Blut vergossen worden war als Opfergabe für Morgoth. Der Gestank hing schwer über dem geschenkten Land, und in meinem Herzen verfluchte ich den Namen und die Täuschungen von Sauron, der meine Vorväter in solche Verderbtheit geführt hatte.
Über mir verdunkelte sich der Himmel, und ein kalter Wind zog von Westen auf. Im Aufblicken sah ich eine große Wolke, und es schien mir, als sei sie wie ein Adler geformt. Dann begann der Regen. Er fiel in dichten Schauern, wie ein Schleier, der vor meinen Augen zugezogen wurde. Es folgte ein gewaltiges Donnern und Blitzen, und ein flammender Blitz schlug in die Kuppel des Tempels ein. Er fing Feuer, aber stand fest. Ständig im Wasser ausgleitend floh ich von diesem Ort, verzweifelt versuchend den hohen Hügel zu erreichen, den ich in Richtung Westen liegen sah.
Ich rannte den Hang hinauf, das Wasser gegen meine Füße plätschernd, und ich fühlte die Erde beben, als ob sie unter mir zerbersten wollte. Für einen Moment wendete ich mich um, schaute zurück und sah eine mächtige Flutwelle, meergrün und unbestechlich sich gegen mich erhebend – der Zorn der Valar über den Verrat von Númenor. Und alles war verloren unter ihrem Vorrücken, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen; die ganze Weisheit und der Glanz von Númenor; ach, und seine Schande.
In panischer Angst rannte ich weiter, denn ich wußte, daß auf der Kuppe des Hügels ein heiliger Ort war. Der Wind blies mir entgegen, und ich fiel auf die Knie und versuchte so, die Anhöhe zu erreichen, und ich rief den Himmel um Gnade an. Dann hörte ich einen Schrei hinter mir. Ich schaute hinab und sah eine Frau. Ihr Gesicht hatte ich schon zuvor gesehen, es war das der in der Reihe der Könige und Königinnen etwas zurückgesetzten Statue. Ich streckte meine Hand aus, um ihr zu helfen, aber die grüne Flut holte sie ein und spülte sie weg, und sie war vor meinen Augen verloren. Dann kam das Wasser über mich, stieg über meine Brust und meine Schultern und in meinen Mund, und ich wurde von seiner starken Strömung hin und her geworfen, und ich erwachte mit einem Schrei. Jemand schüttelte mich.
„Hauptmann?" Es war Haldar, der Leutnant meines Bruders. „Du hast im Schlaf aufgeschrien."
Ich setzte mich auf und wischte mit der Hand über mein Gesicht, es war schweißbedeckt. Und ich fühlte mich beschämt, denn im Gegensatz zu meinen Männern in Ithilien, die meine Träume gewöhnt waren, war ich hier unter Männern, die mich nicht so gut kannten, und ich konnte es mir nicht leisten, ihr Vertrauen und ihren Respekt in einer so verzweifelten Zeit zu verlieren.
„Ein böser Traum, nicht mehr", murmelte ich, obwohl dies eine Untertreibung war, aber ich wollte nicht versuchen, diesem strengen Soldaten zu erklären, daß ich gerade den Untergang Númenors gesehen hatte. Ich schaute durch die offene Klappe des Zeltes hinaus in die Dunkelheit.
„Wie spät ist es?"
„Noch nicht Mitternacht."
Ich hatte nicht einmal eine Stunde geschlafen. Aber ich wollte mich nicht wieder hinlegen, denn der Schrecken des Traumes steckte mir noch in den Gliedern.
„Ich gehe besser and die frische Luft", sagte ich und stand auf, zog meine Kleider an, mein Schwert, und einen Mantel darüber.
Zuerst fand ich, die langsame Strömung des Wassers dem Meer entgegen betrachtend, etwas Ruhe am Flußufer, und der junge, blasse Mond schien silbrig auf die Wellen. Meine Gedanken wandten sich meinem Bruder zu, und ich sehnte mich danach, sein Gesicht wiederzusehen und Mut in seiner Kraft und seiner Fruchtlosigkeit zu schöpfen, die alle um ihn herum ermutigte. Und ich dachte an die Verteidigung des Westufers, die wir zusammen durchgestanden, die Brücke, die wir gemeinsam zerstört hatten, und wie wir die Stellung hielten sogar als ein Schrecken, wie wir ihn nie zuvor gekannt hatten, auf uns niederstieß. Und ich wußte, ohne den andern hätten wir nicht widerstehen können, denn nur weil ich wußte, er war bei mir, konnte ich meinen Willen zusammenhalten und war nicht vor diesem Grauen geflohen, und er sagte danach dasselbe zu mir. Als damals die Brücke unter uns zusammenstürzte, schaute ich zu ihm und lachte ihm zu, und er lachte zurück, und wir hielten uns aneinander fest, als wir ins Wasser sprangen.
Bei der Erinnerung an ihn lächelte ich und wünschte erneut, bald sein Gesicht zu sehen. Und die Valar erfüllten meinen Wunsch, denn in diesem Augenblick hörte ich ein Rascheln im Röhricht, und ein Boot kam mir auf dem Wasser entgegen. Ein fahles Licht ging von ihm aus, und davon angezogen, watete ich hinaus dem Boot entgegen und erblickte meinen geliebten Bruder – tot.
Als ich mich gefaßt hatte, und dies dauerte eine Weile, kehrte ich schnell zum Lager zurück und weckte Haldar. Den Schlaf aus seinen Augen reibend, schaute er zu mir hoch.
„Ich muß nach Minas Tirith zurück", sagte ich erregt.
„Am Morgen, Herr?" fragte er verwirrt.
„Nein, jetzt. Ich muß sofort mit dem Herrn der Stadt sprechen."
Er schaute mich an als wüßte er wieder nicht, was er von mir halten solle, dann zuckte er mit den Schultern:
"Du hast den Oberbefehl, Hauptmann." Er stand auf und folgte mir zu den Pferden, und während ich mein Pferd bestieg, nahm er meine Anweisungen entgegen.
„Ich werde hier Station machen bevor ich nach Ithilien reite", sagte ich ihm, denn ich wußte, daß die Einheit in Osgiliath zuerst die Nachricht vom Tod ihres Hauptmanns hören sollte; und dann ritt ich gen Westen so schnell ich konnte.
Viele Male hatte ich den Ritt vom Fluß zur Stadt schon gemacht, aber noch nie war ich so hart geritten und noch nie mit Tränen in den Augen. Es war noch sehr früh am Morgen, als ich zu den Toren kam und die Ebenen der Stadt hoch ritt. Von den Stallungen rannte ich zum Weißen Turm, und daher betrat ich keuchend und, ich glaube, mit einem wilden Ausdruck in den Augen, die Große Halle. Und ich sah mit Erstaunen, daß, trotz der späten Stunde, mein Vater in seinem Stuhl am Fuße der Stufen saß, seine Diener um ihn versammelt. Er schaute auf, und die Diener zogen sich zurück, und ich sah in seinem Schoß die zerbrochenen Stücke des Horns, das ich vermißt hatte, als das Boot an mir vorüber glitt, und ich wußte, daß er bereits die Kunde vernommen hatte, die ich zu überbringen gekommen war.
* * * * * * * * * * * * * *
Groß war die Finsternis, die mich in den Wochen, die folgen sollten, bestürmte; Schrecken und Erschöpfung und endloses Gemetzel und der schleichende und unaufhörliche Beginn der Verzweiflung. Aber bis dahin hatte ich nichts in meinem Leben gekannt, das so kummervoll gewesen wäre wie das Treffen mit meinem Vater, das folgte. Er entließ seine Diener mit einem Wink seiner Hand und blickte mich voll Kälte an.
„Was bringt dich hierher, Herr Faramir, und weg von deinen Pflichten in Osgiliath? Ist der Außenposten gefallen?"
„Nichts so schwerwiegendes für die Verteidigung von Minas Tirith, mein Herr", antwortete ich, noch immer etwas außer Atem von meinem Ritt, „aber dennoch ein großer Schmerz." Und ich schaute auf die Bruchstücke in seinem Schoß.
Er hielt sie hoch. „Bringst du Neuigkeiten hierüber?" fragte er scharf.
„Leider ja, Vater."
„Wie kann das sein?"
Und ich erzählte ihm von dem, was ich nicht einmal zwei Stunden zuvor gesehen hatte; von meinem Bruder und dem fremdartigen Boot, in dem er lag. Während ich sprach, erhob sich mein Vater und ging vor den Stufen auf und ab. Dann legte er die Stücke des Horns auf seinen Sitz und sprach davon, wie sie gefunden und zur Stadt gebracht worden waren, das letzte erst eine halbe Stunde vor meiner Rückkehr.
„Weh für meinen geliebten Bruder!" rief ich. „Und keine Nachricht haben wir darüber, wie ihn das Schicksal ereilte, obwohl mir scheint, es war im Kampf, wie er es sich gewünscht hätte, und sein Ausdruck war friedvoll uns so schön wie im Leben. Den Valar sei Dank, daß ich von meinen Träumen geweckt wurde, denn wenn diese nicht geschehen wären, wäre ich nicht hinunter zum Fluß gegangen und hätte ihn nicht gesehen, und wir hätten nur sein zerbrochenes Horn und große Angst und Ungewißheit."
Mein Vater hörte auf, hin und her zu gehen, und blieb vor mir stehen.
„Von Träumen, sagst du?" Seine Augen verschmälerten sich, und ich verfluchte meine Unachtsamkeit.
„Ja, Herr", sagte ich vorsichtig. „Ich träumte ..."
Er schnitt mir das Wort ab.
„Deine Träume!" rief er. „Ja, ich kenne sie, und ich verfluche dich dafür, denn war es nicht einer deiner Träume, der meinen geliebten Sohn von mir genommen und ihn dann getötet hat? Verflucht seist du und deine Träume!" Und Tränen standen in seinen Augen, und er kämpfte darum, sie zurückzuhalten.
Nie zuvor war ich so zornig auf ihn gewesen. Immer, wenn er früher etwas an mir auszusetzen gehabt hatte, hatte ich mich zurückgehalten und ohne Klagen seine Meinung angehört, denn er war mein Gebieter und ich stand unter seinem Befehl. Aber dieser Schmerz war zu bitter, ich hatte genauso einen Bruder verloren wie er einen Sohn; und wahrlich hatte er mich tief getroffen, denn als ich Richtung Stadt geritten war, hatte ich darüber geweint, daß es mein Traum gewesen war und es meine Reise hätte sein sollen, und daß mein Bruder dann noch hätte am Leben sein können.
„Ihr seid ungerecht, Vater!" erwiderte ich heftig, meine Stimme voller Tränen. Er schaute mich erstaunt an.
„Ungerecht!" rief er.
„Jawohl, Herr! Denn der Traum war nicht meiner allein, und ich hätte die Reise auf mich genommen, wenn sich der Wille des Herrn der Stadt im Rat nicht durchgesetzt hätte. Und es bin nicht nur ich allein in diesem Hause, der die Gabe der Träume hat, Herr. Ihr mögt weitsichtig sein, aber ihr seht nicht alles!"
Er durchbohrte mich mit seinem scharfen Blick, seine dunklen Augen durchforschten meine Züge. Und er fand, was er suchte; seine Augen weiteten sich, als er erkannte, daß ich um die Quelle seines großen Wissens wußte, und um seine Gefahr, und ich hatte richtig geraten, wie sehr sie seine Entscheidungen leitete; in allen Angelegenheiten, nicht nur bei der Wahl, welchen Sohn er auf eine Reise schicken sollte, die wegen eines Traums unternommen wurde.
Mit der linken Hand ausholend, schlug er mir mit dem Handrücken über das Gesicht, und trotz seines Alters war er noch immer stark. Ich fühlte, wie der Ring, den er am kleinen Finger dieser Hand trug, in meine linke Wange schnitt, gerade unter dem Auge. Rückwärts taumelnd hob ich die rechte Hand zu meinem Gesicht und sah, daß ich blutete. Um mich vor ihm zu schützen, hielt ich die Hand vors Gesicht. Mein Atem ging stoßweise, damit ich nicht anfing zu schluchzen und mich dadurch beschämte.
Als er sprach, hatte sich seine Stimme beruhigt.
„Nimm die Hand herunter."
Ich konnte sie nicht bewegen.
„Tu, was ich dir sage, Faramir. Nimm deine Hand weg."
Ich gehorchte.
„Sieh mich an!"
Ich hob meinen Kopf. Er griff nach mir, und ich schaffte es, den Drang, instinktiv zurückzuweichen, zu unterdrücken. Er griff mein Kinn und drehte mein Gesicht, um sein Werk zu betrachten, nicht grausam, aber ohne jede Freundlichkeit.
„Der Schnitt ist nicht tief", sagte er. „Er wird schnell heilen." Und dann ließ er zu meiner großen Erleichterung los und wand sich ab. „Geh", sagte er, seinen Kopf langsam schüttelnd, „denn mein Kummer ist groß."
Dies war seine Art, mich um Verzeihung zu bitten. Ich senkte meinen Kopf. „Vater", flüsterte ich, entgegen besseren Wissens, aber ich hatte ernsthaft den Wunsch, ihn zu trösten und unseren Kummer zu teilen.
Er drehte sich wieder mir zu und hob seine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.
„Geh und ruh dich aus. Sieh nach diesem Schnitt, und schlafe. Wir werden morgen wieder sprechen. Jetzt wünsche ich, allein zu sein und meinen Sohn zu betrauern."
Ich verbeugte mich, drehte mich um und tat, wie geheißen, und ging zu meinem Zimmer und überließ ihn in der von ihm gewünschten Einsamkeit seinem Schmerz. Ich schickte nach heißem Wasser und betrachtete dann mein Gesicht im Spiegel. Die Wunde war, wie er gesagt hatte, nicht tief, und es war nicht viel Mühe, das Blut weg zu waschen, aber die Arbeit wurde durch die lautlosen Tränen, die mein Gesicht herabströmten, erschwert. Schließlich versiegten die Tränen, und ich wusch mich und schaute von neuem in den Spiegel. Ich war müde, aber Schlaf würde dem abhelfen. Ein paar blaue Flecken würden zu sehen sein, aber nur für wenige Tage. Der Schnitt würde schnell heilen und eine Narbe würde nicht zurückbleiben. Viel schlimmeres hatte ich im Feld abbekommen, aber vielleicht nichts so schmerzhaftes.
Als Junge hatte ich oft seine harte Hand zu spüren bekommen, aber als ich größer und stärker wurde, wurde er zögerlicher, mich zu schlagen. Eine unnötige Vorsicht von ihm. Ich hätte nie meine Hand gegen den Herrn von Gondor erhoben, auch nicht zur Verteidigung. Das letzte mal, daß er mich geschlagen hat, war, als ich sechzehn war, und ich hätte ihn ohne Zweifel wegstoßen können. Was damals seinen Zorn verursacht hatte, weiß ich nicht mehr; und tatsächlich hatte ich schon lange den Versuch aufgegeben, darüber nachzudenken, was seine Wut auf mich auslösen würde, denn es war unberechenbar. Der einzige gemeinsame Faktor, den ich erkennen konnte, war, daß ich lebte, und das war mitunter genug, um ihn jenseits aller Vernunft zu erzürnen.
Dieses letzte Mal griff er mich bei den Schultern und schleuderte mich rückwärts so fest gegen die Wand, daß ich mit dem Kopf dagegen schlug und für einen Augenblick alles schwarz wurde. Alles, was ich hören konnte, war sein Wüten und meines Bruders eindringliches Bitten. Daß Boromir, der sonst wegen seiner Stellung immer unparteiisch in unseren Auseinandersetzungen geblieben war, sich gezwungen sah einzugreifen und so lange an meinem Vater zu zerren, bis er mich losließ, zeigte, wie furchtbar diese Szene war. Schließlich schleppte er mich benommen in mein Zimmer, um den Schaden wieder zusammen zu flicken.
Vater hielt von da an Abstand, und ich glaube, er und Boromir dürften harte Worte wegen des Vorfalls gewechselt haben, obwohl mein Bruder nichts sagte, und ich nicht fragte. Aber ich war betrübt, daß ich der Anlaß für Streit zwischen Vater und Sohn gewesen war, deren gegenseitige Liebe immer unbeeinträchtigt gewesen war. Und wieder ich trauerte für meinen Vater, der nun seine Frau und seinen über alles geliebten Erben verloren hatte.
Als ich im Spiegel mein verletztes Gesicht betrachtete, inzwischen zwanzig Jahre älter, erinnerte ich mich daran, was ich noch aus diesem Zwischenfall gelernt hatte: da ich nicht das sein konnte, was mein Vater wollte – denn ich wußte nicht, was dies war – würde ich zumindest mir selbst treu bleiben und darin Mut fassen, daß ich meine Ehre und meine Liebe zu ihm als Vater wie auch als Herrn des letzten Reiches der Númenoräer bewahren würde. Und so wie dieser Junge damals seinen Frieden gemacht hatte, so machte ich dies noch einmal als Mann; um meinen Vater zu ehren und meine Integrität zu wahren. Dies war mein Tribut an ihn, ob er ihn wollte oder nicht, denn dies war alles, was ich ihm geben und womit ich meine Liebe zu ihm zeigen konnte. Denn ich fühlte in meinem Herzen, daß in der dunkelsten Stunde Trauer und Verzweiflung meines Vaters Urteilskraft wanken lassen könnten, und ich würde ihn davor bewahren, wenn ich nur irgend könnte, auch wenn dies einen noch größeren Zorn auf mich herab beschwören würde als der, den er mir gerade gezeigt hatte. Als ich diesen zerbrechlichen Frieden gemacht hatte, schlief ich ein.
* * * * * * * * * * * * * *
„Hat es weh getan?" fragte ich.
Mein Bruder hörte auf, Steine übers Wasser gleiten zu lassen und schaute zu mir herüber. „Hat was weh getan?" fragte er zurück.
„Sterben natürlich", sagte ich scharf. „Was sonst würde ich dich fragen wollen?" Manchmal benutzte mein Bruder Begriffsstutzigkeit als Mantel für Unwilligkeit.
Er überlegte einen Moment.
„Nein, es tat nicht weh", sagte er und schaute mich mit seinem breiten Grinsen an. „Aber die Pfeile." Und dann lachte er, und ich mußte mit lachen, meinen Kopf über ihn schüttelnd.
Wir saßen für eine Weile in freundschaftlichem Schweigen, während wir den Sommer genossen und zusahen, wie die Wellen ans Ufer der Bucht plätscherten, die Dol Amroth beschützte. Der Sand war warm und trocken unter meiner Hand, und über uns kreisten die Möwen, doch ich konnte ihre Rufe nicht hören. In der Luft lag ein frischer Salzgeschmack. Dies war die Heimat des Bruders meiner Mutter, und wir waren als Kinder oft hierher gekommen, um unsere Verwandten zu besuchen. Wir waren hier glücklich gewesen. Der Krieg hatte uns nie gestattet, als erwachsene Männer hier auszuruhen. Ich hatte nicht gedacht, so hier mit ihm sitzen zu können bevor nicht der Feind geschlagen wäre. Das Meer war so blau und so beruhigend, ich hätte hier ewig sitzen können. Aber leise seufzend stand mein Bruder auf und streifte den Sand von seinen Kleidern. Mein Blick fiel auf den fremdartigen Gürtel aus verbundenen goldenen Blättern um seine Hüften, und ich öffnete den Mund, um danach zu fragen, aber er sprach zuerst.
„Zeit zu gehen, Bruder", sagte er und streckte mir seine Hand entgegen. Ich ergriff sie, und leicht zog er mich mit seinem festen Griff und starken Arm hoch. Dann streifte er leicht mit seinen Fingern über meine linke Wange, und trotz der Zartheit seiner Berührung fühlte ich die Wunde dort pochen. Einen Moment lang sah er traurig aus, aber dann legte er seine Hände auf meine Schultern und lächelte mir zu; Mein Bruder wie ich ihn für immer in Erinnerung behalten werde, stark und gutaussehend, furchtlos und schön; mein teuerster, meist geliebter Freund. Ich lächelte zurück, und er schaute mir in die Augen.
„Leb wohl, Faramir", sagte er mit Liebe. Und dann wachte ich auf einem kalten Tag Ende Februar entgegen und einer steinernen Stadt in Trauer.
Einer der Diener meines Vaters beugte sich über mich.
„Mein Herr Faramir", sagte er, „der Herr Truchseß verlangt, daß ihr noch in dieser Stunde am Rat teilnehmt."
Anscheinend hatte ich bis nach Mittag geschlafen, und ich konnte nicht umhin zuzugeben, daß ich mich deshalb und wegen des tröstlichen Traumes besser fühlte. Schnell stand ich auf, wusch mich, kleidete mich an und machte mich auf den Weg zum Turm, wo der Rat versammelt war. Seine Mitglieder waren daran gewöhnt, die Söhne Denethors verwundet aus dem Feld zurückkehren zu sehen, und niemand dort hatte mich in der Nacht unverletzt in der Stadt ankommen sehen. Ich trat zu meinem Vater und küßte den Ring an seinem Finger, wie von mir erwartet wurde. Er begrüßte mich ruhig, und wenn sein durchdringender Blick überhaupt auf meinem Gesicht verweilte, dann war es nur für einen kurzen Augenblick.
„Guten Morgen, Herr Faramir. Du hast geruht, nehme ich an, nach deiner späten Reise?"
„Danke, ja, Herr", sagte ich leise. „Dann setz dich zu uns; denn wir haben vieles zu überdenken infolge des Verlusts unseres meist geliebten Heerführers."
Und so debattierten wir bis spät in den Tag, obwohl sich wenig an unserer schwierigen Lage geändert hatte, außer daß wir nun Boromirs beraubt waren. Es war schon fast Mitternacht bis ich zurück nach Osgiliath aufbrechen konnte. Als ich darauf wartete, daß mein Pferd bereit gemacht wurde, sah ich, daß es zu regnen begonnen hatte, ein dünnes, aber beständiges Nieseln, das mich in der Zeit, bis ich den Fluß erreichte, völlig durchnäßt haben würde. Ich zog eine Grimasse, und genoß, so lange ich noch konnte, die Wärme der Stallungen.
„Angenehme Nacht für einen Ritt, mein Herr", sagte der Pferdeknecht mit einem ironischen Grinsen.
„Du kannst gerne meinen Platz einnehmen, Galdor", sagte ich milde.
Er kicherte leise, und dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, und er war plötzlich sehr mit seiner Arbeit beschäftigt. Ich drehte mich um, um zu sehen, was die Ursache war, und war erstaunt, meinen Vater dort stehen zu sehen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er das letzte Mal gekommen war, um mich zu verabschieden, wenn er dies je getan hatte. Sein Haar war feucht, und, wenn seine Miene überhaupt etwas ausdrücken konnte, dann hätte ich gesagt, daß er über seine Anwesenheit hier genauso überrascht war wie ich. Ich fühlte mich etwas unangenehm berührt, als ich ihm so gegenüber stand, und mit einem Mal wurde mir bewußt, daß wir nicht gerade darin geübt waren, dem andern gegenüber Zuneigung zu zeigen. Wegen dieser Absurdität mußte ich plötzlich lächeln. Er runzelte die Stirn, und ich sah, daß ich ihn entwaffnet hatte.
„Ihr habt eine miserable Nacht gewählt, um hierher zu kommen, Herr", sagte ich.
„Ja, tatsächlich", antwortete er und schaute betont zu Galdor herüber, der versuchte, sich möglichst unauffällig zu machen. Ich verstand das Unbehagen beider und versuchte, Abhilfe zu schaffen.
„Ich führe sie hinaus, danke", murmelte ich Galdor zu, und er gab mir die Zügel und verschwand erleichtert in den Tiefen der Stallungen.
Mein Vater folgte mir hinaus in den Regen. Ich streichelte Aryn als sie ungeduldig stampfte und schnaubte, denn wenn wir schon in solch einem Wetter nach draußen mußten, sollte es wenigstens gleich losgehen.
„Ihr solltet nach drinnen gehen, Herr. Der Regen wird stärker."
Er schaute zum dunklen Himmel auf, und während ich begann aufzusteigen, legte er seine Hand auf meinen Arm. Ich hielt inne und drehte mich zu ihm um. Einen kurzen Moment lang glaubte ich, er würde mich umarmen, aber er schaute nur mit seinen dunklen Augen in mein Gesicht, denselben Augen, die mir jedesmal, wenn ich in einen Spiegel sah, entgegen blickten. Dann sagte er einfach:
„Du bist jetzt mein Erbe", und ich fühlte das Gewicht der Verantwortung, die er mir damit auferlegte, aber auch einen Stich reinster Freude über seine Anerkennung. Ich nickte und bestieg Aryn.
„Reite sicher", sagte er. „Und Faramir?" Ich schaute auf ihn herunter. „Vater?"
„Mach mich stolz."
Wir schauten uns noch einmal an, grau zu grau; dann nickte ich Lebewohl und ritt los, von der sechsten Ebene hinab durch die Stadt.
Als ich über den Pelennor ritt, fing es an, wie aus Kübeln zu regnen, und Windböen bliesen mir das Wasser ins Gesicht. Ich strich mit der Hand mein nasses Haar zurück und trieb Aryn an. Vor mir lag Osgiliath und die Trauer der Männer, wenn sie die Nachricht vom Tod ihres Hauptmanns hörten; danach Ithilien, und nur die Valar wußten, welche Prüfungen mich dort erwarteten. Für eine Weile war ich in Gedanken versunken, und einem plötzlichen Impuls folgend, schaute ich zurück nach Minas Tirith. Die Stadt war von Dunkelheit umgeben, aber an der Spitze des Turms schien ein fahles Licht.
Als der Regen noch dichter fiel, dachte ich an Númenor und wie ich öfter und lebhafter von seinem Stolz und seiner Verderbtheit träumte - und von seinem Untergang. Dann dachte ich an meinen Vater, der seinen harten Willen hierhin und dorthin lenkte und versuchte, alles für Gondors Wohlergehen zu ordnen – und ich hatte Angst, um Gondor, um mich selbst, und am meisten um diesen stolzen Mann, der keine Enttäuschung duldete, wie verdient sie auch immer war, und von dem ich wußte, daß er alles für die Verteidigung seines Reichs opfern würde.
Gondor lag in der Dunkelheit hinter mir, und vor mir lag nur der Schatten von Mordor. Durch den Regen ritt ich weiter Richtung Osten.
