Das wirkliche Ich
Okay, es geht auch gleich weiter...
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2. Kapitel - Der Schein des Seins
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Müde lag Harry in seinem Bett, den Vorhang zugezogen lauschte er den ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen seiner Zimmermitbewohner. Im Jungenschlafsaal Gryffindors war es recht schnell ruhig geworden, alle waren sie müde; die Hausauswahl und das folgende Festessen waren wie immer großartig gewesen.
Nur Harry konnte noch immer nicht schlafen, zu viel geisterte in seinem Kopf umher, ließ nicht zu, dass er in die Dunkelheit wegdriftete, so gern er dies auch wollte. Also verbrachte er - wie es ihm schien - schon Stunden damit zu, sich von der einen auf die andere Seite zu drehen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Gereizt schlug er die Decke zurück, zog den Vorhang auf und erhob sich, ging zum geöffneten Fenster und blickte hinaus in die sternenklare, vom Vollmond hell erleuchtete Nacht.
Seufzend stützte er die Ellenbogen auf, ließ seinen Blick schweifen, versuchte so viel wie möglich zu erkennen. Ein flatterndes Etwas neben ihm ließ ihn herum fahren, doch als er Hedwigs im Mondlicht silbrig schimmerndes Federkleid ausmachte beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Was hatte er denn eigentlich erwartet?!
Seine treue Eule setzte sich auf seine Schulter, gab gurrende Geräusche von sich und liebkoste vorsichtig und sanft mit dem Schnabel sein Ohrläppchen. Harry hob eine Hand, kraulte durch das weiche Federkleid und strich die aufgewühlten Federn immer wieder glatt. "Na meine Schöne, was machst du zu dieser Zeit noch hier, hm?", fragte er leise, keinen Augenblick lang die Liebkosungen unterbrechend.
Ein etwas stärkerer Biss in sein Ohr ließ ihn zusammenzucken, schmerzhaft verzog er das Gesicht. "Autsch, Hedwig, das tat weh! Aber ich hab schon verstanden, geht mich ja auch nichts an, wo du deine Freizeit verbringst... Außerdem bin ich ja auch nicht besser....", murmelte er. "Kannst du dir das vorstellen?! Dass ich mich um IHN sorge?? Und eigentlich selber nicht weiß, warum?" Er machte eine kleine Pause, lauschte erneut den Atemzügen der anderen Jungs. "Weißt du, ist ja nicht so, dass es mir etwas ausmachen würde, mich um jemanden zu sorgen. Ist schließlich was völlig normales. Aber ausgerechnet er!! Und warum auf einmal?? Nur, weil er sich ein bisschen komisch benommen hat! Das ist doch schon nicht mehr normal, dass ich mir sorgen mache, weil er mich nicht ärgert!! Klingt ja schon so, als WOLLTE ich, dass er mich ärgert!"
Hedwig gurrte erneut, rieb mit dem Schnabel leicht über seine Wange und plusterte sich auf. Dann hopste sie auf das Fensterbrett, glättete ihr Federkleid und blickte Harry kurz aus unergründlichen Augen an, ehe sie wegflog. Ein wenig mürrisch blickte der Junge ihr hinterher. "Klar, du findest das wohl sehr lustig, dass ich dir erst mein Herz ausschütte und du dann einfach die Kurve kratzt, was? Wahrscheinlich hältst du mich auch für bescheuert, weil ich mir Gedanken um das Wohlbefinden Draco Malfoys mache! Aber ich kann's nicht ändern....." Noch immer vor sich hin grummelnd ging Harry zurück in sein Bett, zog den Vorhang harscher zurück als nötig und versteckte den Kopf unter seinem Kissen.
Seit dem letzten Schuljahr hatte er so oder so ein wenig Angst davor, einzuschlafen, so aufgewühlt zu sein verbesserte die Situation nicht gerade.
*+*+*
Morgens erwachte Harry dadurch, dass jemand an seiner Schulter rüttelte und seinen Namen rief. Blinzelnd öffnete er die grünen Augen, blickte im ersten Moment ein wenig desorientiert herum. Dann erkannte er Rons Sommersprossiges Gesicht und er gähnte ihn zur Begrüßung erst mal ausgiebig an. "Guten Morgen, Harry! Ich dachte schon, ich krieg dich gar nicht mehr wach!"
Dann setzte er sich auf, strich sich durch das ewig verstrubbelte Haar und unterdrückte ein weiteres Gähnen. Er war erst im Morgengrauen eingeschlafen und fühlte sich, als hätte man den Hogwarts-Express über ihn drüber rollen lassen.
"Morgen Ron", brachte er schließlich hervor und grinste seinen Freund an. "Los, jetzt, Harry, du hast voll verschlafen! Das Frühstück fängt gleich an!", drängte ihn dieser. "Ja doch, ja doch...", grummelte der Schwarzhaarige, quälte sich sichtlich dazu, das warme, kuschelige, ihn zum weiterschlafen drängende Bett zu verlassen.
Eine superschnelle, superkalte Dusche später folgte er mit feuchten Haaren Ron und Hermine in den großen Saal, in dem es schon sehr lebhaft zu ging. Fast schon automatisch glitt Harrys Blick über die Köpfe der Anwesenden, jeden Tisch betrachtete er genau. Er bemerkte allerdings erst, das er gezielt nach Malfoy Ausschau hielt, nachdem er den Blondschopf nirgendwo entdecken konnte und schon versucht war, hinter sich die Gänge entlang zu blicken.
Doch er unterdrückte diesen Drang, beeilte sich lieber, seinen beiden Freunden zum Gryffindortisch zu folgen, wo sich schnell Plätze bei Neville, Seamus und Dean fanden. Die Klassenkameraden unterhielten sich gerade darüber, wer wohl dieses Jahr Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichten würde - Professor Dumbledore hatte dazu gesterrn nichts gesagt und ein neues Gesicht am Lehrertisch hatte man auch nicht entdecken können - und alle äußerten sie den Wunsch, dass ihnen jeder Lehrer recht wäre - ausgenommen Lockhardt, Umbridge und Snape.
Bei Lockhardt mussten sie sich keine Gedanken machen, informierte Neville sie, er litt noch immer unter dem Amnesia-Zauberspruch, der damals in der Kammer des Schreckens nach hinten losgegangen war und befände sich noch immer im sicheren Gewahrsam in St. Mungos Hospital. Die Umbridge hatte sich wohl auch noch nicht von dem Schock erholt, den sie im Verbotenen Wald erfahren hatte. Snape allerdings schien gute Karten für dieses Fach zu haben, begehrte er es doch schon seit mehreren Jahren.
Harry beteiligte sich kaum an dem lebhaften Gespräch, viel mehr mühte er sich darum, so unauffällig wie möglich weiterhin Ausschau nach Malfoy zu halten. Er wusste selbst nicht so genau warum, aber irgend etwas in ihm zwang ihn geradezu dazu, sich immer wieder suchend umzublicken. Hermine, die mit Ron ihm gegenüber saß, bemerkte seine gedankliche Abwesenheit, hielt aber den Mund. Sie würde Harry später darauf ansprechen; vielleicht war er einfach nur übermüdet. Ron hatte ihr von Harrys Startproblemen in den Tag erzählt und das braunhaarige Mädchen machte sich Sorgen darüber, dass es vielleicht wieder mit den seltsamen Träumen und Voldemort zu tun haben könnte.
Nach dem Frühstück auf dem Weg zur ersten Unterrichtsstunde - ausgerechnet Zaubertränke bei Snape! - war Harry wirklich besorgt. Malfoy hatte sich beim Frühstück nicht blicken lassen, nur seine Wachhunde Goyle und Crabbe waren erschienen. Anscheinend hatte nicht nur er die Abwesenheit des Jungen bemerkt, am Slytherintisch wurde heftig getuschelt und Crabbe und Goyle praktisch mit Fragen überhäuft. Harry hatte sehen können, wie sie mehrmals in einer hilflosen Geste die Schultern zuckten, woraus er schloss, dass selbst die beiden nicht wussten, was mit Malfoy los war.
Erst vor dem Klassenzimmer bemerkte Harry, dass er vergessen hatte, Pergament, Feder und Tinte mitzunehmen; eiligst informierte er seine beiden Freunde darüber und rannte zurück in den Gryffindorturm um die Utensilien zu holen. Gerade noch rechtzeitig stand er wieder im Kerkerzimmer, bis auf eine der vorderen Bänke war alles besetzt. Unschlüssig stand er noch kurz an der Tür, überlegte gerade, ob Neville wohl mit ihm tauschen würde, so dass er hinter Ron und Hermine sitzen konnte, als er grob von hinten angerempelt wurde und ein paar Schritte nach vorne taumelte.
Nur eine Hand, die sich geistesgegenwärtig in seinen Umhang krallte hinderte ihn daran vornüber auf den Boden zu fallen; als er wieder sicher stand erblickte er die blasse Gestalt Malfoys, welcher ihn gerade los ließ. Harry meinte ein leises "Entschuldigung" zu hören, als Professor Snape herein rauschte und seine Sachen auf den Pult vorne knallte. "Malfoy, Potter, wären Sie dann so freundlich, auf Ihre Plätze zu gehen?", fragte er und deutete mit dem Zauberstab auf die leere Bank.
Harry - der sich immer noch fragte, ob er gerade eben richtig gehört hatte - folgte augenblicklich diesem 'Befehl', Sekunden später saß auch Malfoy neben ihm. Die Augen der ganzen Klasse hatten in diesem Moment auf ihnen geruht und Harry wussten, dass sie ein gehässig-böses Kommentar von Malfoy erwarteten, ein ergebenes Seufzen und Augenverdrehen von ihm. Doch es geschah einfach nichts. Malfoy blickte stumm die Tischplatte vor sich an, hatte anscheinend mühe, nicht sofort einzuschlafen. Harry selbst war viel zu sehr in Grübeleien versunken, als dass er daran gedacht hätte, den Schein zu wahren und so zu tun, als würde ihm Malfoys Anwesenheit auf die Nerven gehen.
Die Zaubertränkestunde verlief wie immer - sprich: Neville wurde von Snape runtergemacht, der Lehrer zog Gryffindor wegen jeder Kleinigkeit unnötig viele Punkte ab und ignorierte die selben Fehler Slytherins. Insgeheim war Harry dankbar dafür, denn irgendwie hatte er sich davor gefürchtet, dass Snape sich vielleicht auch so drastisch geändert haben könnte wie Malfoy. Mit einem zurückhaltenden, vielleicht sogar netten Draco Malfoy konnte er ja leben, aber ein netter Professor Snape wäre selbst seiner Vorstellungskraft nach absolut abartig. Vor allem, da er ja wusste, weshalb dieser immer so gemein zu ihm war.
Der restliche Schultag verlief ebenfalls so, wie man es gewohnt war. In Wahrsagen prophezeite ihm Professor Trelawney - die die erste der beiden Wochenstunden übernahm; die nächste hatten sie Mittwochs bei Firenze - dass er dieses Jahr WIRKLICH sterben würde, Professor Spout's Unterricht war zum Gähnen langweilig und auch Pflege magischer Geschöpfe konnte Harry nicht wirklich mitreißen. In jeder Unterrichtsstunde, ob Malfoy nun dabei war oder nicht, fand er sich nach wenigen Minuten wieder dabei, über ihn nach zu denken.
Kurz vor dem Mittagessen stand Harry in den Toilettenräumen vor dem Spiegel und starrte sich selbst an. Das konnte doch alles nicht wahr sein!! Was fiel Malfoy ein, sich in seine Gedanken einzuschleichen und ihn dort nicht mehr in Frieden zu lassen! Reichte es denn nicht, dass er ihn bisher immer genervt und schikaniert hatte? Hatte er sich denn nicht auch mal eine kleine Auszeit verdient? Aber nein, er musste sich ja den Kopf über seinen Feind zerbrechen.
Er klatschte sich eine Ladung eiskaltes Wasser ins Gesicht, welches dadurch allerdings nicht sehr viel munterer aussah. Was ihn wiederum zurück zu Draco brachte. Der Junge hatte ausgesehen, als hätte er nächtelang nicht mehr geschlafen, seine sonst so schöne milchweiße Haut wirkte kränklich-blass und ungesund, die ausdruckslosen, graublauen Augen wurden von dicken, tiefen Augenringen unterlegt. Alles in allem wirkte er mehr wie ein Schatten seiner selbst.
Harry starrte sich an. "Nein! Das bringt nichts! Du hörst jetzt sofort auf, darüber nach zu denken!", herrschte er sein Spiegelbild an und schüttelte dann über sich selbst den Kopf. Jetzt redete er auch noch mit sich selbst... Seufzend verließ er die Toilettenräume um im Großen Saal endlich sein Mittagessen einzunehmen.
Es kostete ihn alles an Selbstbeherrschung, nicht doch ab und zu zum Slytherintisch zu blicken, wo er - wie er wusste - Draco zwischen Goyle und Crabbe entdecken würde. Fast genau so schwer war es, der Unterhaltung seiner Freunde zu folgen und ein paar Kommentare dazu abzugeben, sich natürlich und 'Harry-typisch' zu verhalten. Den ganzen restlichen Tag über gelang ihm das sogar ausgesprochen gut, nur als er dann wieder in der Stille des Schlafsaals lag und den Atemzügen der anderen lauschte konnte er die sorgenvollen Gedanken nicht mehr verdrängen.
+++
Die ersten Wochen vergingen sehr schnell und Harry hatte kaum Zeit, sich über irgend etwas Gedanken zu machen. Kam er schon im 5. Schuljahr kaum mit seinen Hausaufgaben hinterher war es nun nicht wesentlich besser geworden, obwohl er nicht mehr von visionellen Alpträumen geplagt wurde und einige wenige Schüler in Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichtete.
Die gesamte Schülerschaft war gleichermaßen überrascht wie erfreut gewesen, als sich der neue Lehrer in Verteidigung gegen die dunklen Künste als Remus Lupin herausgestellt hatte. Zwar meldeten einige Eltern bedenken an, ihre Kinder von einem Werwolf unterrichten zu lassen, doch ob der Tatsache, dass in Remus' letztem Schuljahr als Lehrer nichts passiert war, waren die Einwände schnell beseitigt worden. Harry war froh, jemanden zu haben, mit dem er offen über Sirius reden konnte. Ron und Hermine waren in letzter Zeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen und Harry wollte auch nicht unbedingt mit ihnen darüber reden.
Er erinnerte sich noch zu genau an die Erinnerung Snapes an seine Eltern, Sirius und Remus, als diese noch Schüler waren und ihn übelst getriezt hatten. In den Sommerferien hatte Harry oft darüber nachgedacht und manchmal kam er nicht umhin, die Ähnlichkeiten zwischen der damaligen James/Sirius-Snape-Beziehung und der heutigen Harry-Draco-Beziehung zu bemerken.
Es war mal wieder eine sternenklare Nacht und Harry konnte nicht schlafen. Leise stand er auf, zog seinen Tarnumhang an und schlich sich hinaus. Ganz so, wie es Nachts sein sollte war es still in den Gängen Hogwarts und Harry begegnete keiner Menschenseele - auch keinem der Geister - auf dem Weg zum Astronomieturm, wo die Aussicht einfach am besten war. Er schlüpfte hinaus und blieb wie festgefroren stehen, als er sah, dass er nicht der Einzige war, der nicht schlafen konnte.
Nicht einmal drei Meter von ihm entfernt saß Draco Malfoy, Harry konnte ihn leicht erkennen. Das helle, silberblonde Haar reflektierte Sternenlicht und die weiße Haut schimmert leicht; die Knie hatte er dicht angezogen und die Arme darum geschlungen. Harry überlegte kurz, ob er nicht besser gehen sollte, als er sah, wie sich eine Träne langsam aus Dracos Augenwinkeln löste und sich einen Weg seine Wange hinunter bahnte, bis zum Kinn, von wo aus sie auf die Knie des Slytherins tropfte. Draco machte sich nicht einmal die Mühe, die folgenden aufzuhalten oder weg zu wischen.
Betroffen starrte Harry die Szene vor sich an, er konnte sich nicht erinnern, Malfoy jemals weinen gesehen zu haben. Kein Ton verließ die leicht geöffneten Lippen seines zusammengekauerten Gegenübers, kein Muskel bewegte sich. Hätte Harry nicht die glitzernden Tränen gesehen, hätte er schwören können, einer Statue gegenüber zu stehen, die Draco nur ähnlich sah.
Harrys Herz klopfte zum zerspringen in seiner Brust und er konnte jetzt unmöglich noch den Anblick der sternenklaren Nacht genießen. Langsam ging er auf ihn zu, immer darauf achtend, dass sein Umhang nicht verrutschte und er auch keinerlei Geräusche verursachte. Doch Harry glaubte sowieso nicht, dass Draco diese bemerken würde, der Slytherin schien viel zu sehr in seiner eigenen Welt gefangen zu sein.
Vorsichtig umrundete der Schwarzhaarige den Sitzenden, ehe er sich auf dessen anderen Seite nieder ließ. Noch immer strömten die Tränen aus den blaugrauen Augen, langsam und stetig wie ein Fluss. Harry verspürte den Wunsch, sie ihm wegzuwischen, ihn tröstend in den Arm zu nehmen. Doch er wusste, dass Draco das wohl niemals zulassen würde...
Erst als die Sonne langsam aufging bemerkte Harry, dass er mehrere Stunden damit zugebracht hatte, still neben Draco zu sitzen und ihm beim Weinen zuzusehen. Er betrachtete nur kurz den Sonnenaufgang und fühlte sich unendlich erschöpft und müde als er aufstand, um die restlichen drei Stunden die ihm bis zum Frühstück blieben zu schlafen.
Er warf einen letzten Blick auf Malfoy, der noch immer genau so da saß, wie Harry ihn gefunden hatte. Die Tränen waren mittlerweile versiegt und im Morgenlicht konnte der Schwarzhaarige erkennen, dass die Augen gerötet und von dunklen, tiefen Ringen untermalt waren. Er schüttelte kurz den Kopf und verließ den Astronomieturm entgültig.
Er musste mit jemandem darüber reden.
*+*+*
Die erste Stunde an diesem Morgen war ausgerechnet Geschichte der Zauberei und Professor Binns hatte ein nicht sehr interessantes Thema ausgewählt. Harry kämpfte tapfer dagegen an, nicht einzuschlafen oder ganz offensichtlich desinteressiert zu gucken. Als nächstes folgten zwei Stunden Zaubertränke und als Harry als letzter vor Snape das Klassenzimmer im Kerker betrat heftete sich sein Blick automatisch auf Malfoy.
Der saß hinter Goyle und Crabbe und hatte Pansy Parkinson neben sich, welche ihm irgend etwas erzählte, was ihn - seinem Gesichtsausdruck nach - nicht interessierte. Draco lachte ein paar Mal über irgendwelche gehässigen Kommentare seiner Slytherinkameraden, ansonsten blieb er aber recht still.
Harry ließ sich neben Neville nieder und fragte sich, wie Malfoy es schaffte, nach so einer Nacht nicht wenigstens ein wenig k.o. oder übernächtigt zu wirken. Die Blässe der Haut und die Augenringe erzählten zwar davon, aber der Junge selbst ließ sich nichts anmerken. Kopfschüttelnd blickte Harry nach vorne, wo Snape gerade mit dem Zauberstab auf die Tafel deutete und ihnen somit die Zutatenliste dieser Stunde gab.
Neville war nur ein wenig nervös, nachdem er am Ende des letzten Schuljahrs gegen die Todesser gekämpft hatte und auch in Verteidigung gegen die dunklen Küste wesentliche Fortschritte gemacht hatte, hatte er weniger Angst vor Snape, stellte sich aber durchaus nicht sehr viel besser an. Harry hingegen war die ganze Zeit unkonzentriert, so dass am Ende der Stunde ihr Zaubertrank irgendwie nicht ganz so aussah, wie die der anderen: statt eines intensiven Rottons hatte ihrer eine grünlich-braune Farbe angenommen.
Snape hob nur eine Augenbraue und sagte: "Natürlich, Potter und Longbottom. Klar, dass ihr nichts zustande bringt! 10 Punkte Abzug für Gryffindor!" Die Augen sämtlicher Mitschüler ruhte auf den beiden, die ein wenig schuldbewusst den Kopf gesenkt hatten, und in ihnen stand entweder Mitleid oder Häme. Als Snape der Klasse den Rücken kehrte schnitt Harry ihm schnell eine Grimasse und als er den Kopf rasch in eine andere Richtung wandte, begegnete er Malfoys Blick und wäre fast umgekippt als er dessen leichtes, kaum wahrnehmbares Lächeln entdeckte.
Weder Häme noch Mitleid stand in diesem kurzen Augenblick in dem blassen Gesicht, nur Amüsement. Doch noch ehe Harry sich mit einem weiteren Blick vergewissern konnte, hatte Snape mit einem Wink seines Zauberstabs die Zutatenliste für die zweite Stunde aufgerufen. Seufzend beugte er sich wieder mit Neville über seinen Kessel, zerkleinerte vorsichtig und überaus genau die Zutaten, wog noch vorsichtiger und genauer die selbigen ab.
Dieses Mal schafften sie es und Harry hörte Neville leise erleichtert aufseufzen, als der Trank auch noch die erwünschte Wirkung an dem Trainingsobjekt - einer armen Maus, die sich hier wohl irgendwo herumgetrieben hatte - zeigte. Mit ein wenig Genugtuung sah Harry Snapes enttäuschtes Gesicht, sicherlich hätte der Zaubertränkelehrer nichts dagegen gehabt, hätten die beiden wieder Mist gebaut.
Was Harry allerdings sehr überraschte war der leichte Anflug von Besorgnis, der in Snapes Augen erschien, wann immer sein stechender Blick Draco streifte, der, Pansy ignorierend, über seinen Kessel gebeugt da saß. "Malfoy", durchbrach die kühle Stimme des Hauslehrers Slytherins die angespannt-geschäftige Stille im Raum. "ich möchte Sie nachher noch kurz sprechen."
Der helle Haarschopf war nach oben geschossen und er war noch blasser geworden, falls das überhaupt noch möglich war. In Harry kribbelte es, er brannte darauf zu erfahren, warum Snape wohl seinen Lieblingsschüler sprechen wollte. Als die Stunde um war und die Schüler lärmend und erfreut den Kerkerraum verließen, blieb er drei Schritte später stehen und sah sich nach allen Seiten um. Ron und Hermine waren - wie in letzter Zeit öfters - schon als ein paar der Ersten verschwunden, so dass er innerhalb weniger Augenblicke allein da stand.
Rasch zog er seinen Tarnumhang, den er in seiner Büchertasche mit sich rumtrug, heraus und legte ihn an. Glücklicher weise war die Türe noch nicht geschlossen worden, so dass er noch rasch hineinschlüpfen konnte. Gerade noch rechtzeitig, wie er bemerkte, den keine zwei Sekunden später schloss Snape mit einem Wink seines Zauberstabs die Türe.
"Draco", hörte er die Stimme des verhassten Lehrers als er sich nach einem sicheren Platz umsah, "was ist in letzter Zeit los mit dir? Seit den Ferien scheinst du... irgendwie verändert." Überrascht horchte Harry auf und stellte sich so, dass er Schüler und Lehrer im Blick hatte. Snape hatte unüberhörbar besorgt geklungen und das 'Sie' wie selbstverständlich gegen das 'du' getauscht.
"Nichts", antwortete Draco mit leiser Stimme, wobei er den Professor allerdings nicht ansah. "Es ist alles in Ordnung."
Snape war währenddessen auf den Blondschopf zu gegangen und stand nun direkt neben ihm an dessen Sitzbank. "Draco... würdest du mir mal bitte deinen Arm geben?"
Die Reaktion die daraufhin von Malfoy folgte überrascht Harry. Der Slytherin war schneller aus der Bank geglitten und aufgestanden, als Harry gucken konnte, die Arme dabei beide hinter dem Rücken verschränkt. "Wieso?", fragte er leise, blickte seinen Lehrer dabei immer noch nicht an. Schon beinahe grob packte dieser ihn am linken Oberarm, entzwang dem schmächtigen Jungen ein leises, schmerzerfülltes Aufkeuchen.
"Deinen Arm, zeig ihn mir! Du und ich, wir wissen beide, dass dein Vater nicht mehr in Askaban ist. Ich hab ihn beim vorletzten Treffen gesehen, Draco. Und ich weiß auch, dass der Lord nicht gerade erfreut darüber war, dass du immer noch nicht sein Zeichen trägst. Er hat deinen Vater ganz schön dafür bluten lassen und ich denke nicht, dass dieser diese Demütigung einfach so hin nahm. Die anderen haben alle schon das Zeichen, du bist der Einzige, der es bis dahin noch nicht hatte. Deinen Arm, Draco, ich will ihn sehen."
Langsam ließ Harry sich auf die hinterste Sitzbank gleiten. Er wusste nicht, was ihn mehr überraschen sollte: die Tatsache, das Lucius Malfoy aus Askaban geflohen war, ohne dass es im Tagesprophet erschien war oder irgend jemand davon wusste; oder die Tatsache, dass Draco noch nicht das Mal eines Todessers trug. Harry war sich im letzten Schuljahr sicher gewesen, dass Draco es spätestens jetzt tragen würde!
Draco hatte sich zwischenzeitlich von Snape losgerissen und seinen linken Arm fest an sich gepresst. Die graublauen Augen waren weit aufgerissen und die Haut aschfahl. Snape packte den jüngeren erneut an den Schultern, schüttelte ihn leicht. "Drac", sagte er leise und eindringlich, "die anderen reden schon darüber. Du musst doch zugeben, dass es höchst seltsam ist, dass der Sohn seines treuesten Anhängers noch nicht das Mal trägt! Und ich weiß nicht warum, aber der Lord will dich haben!"
Von Draco kam nur ein kleines Wimmern, dann schlossen sich dessen Augen und er biss sich auf die Unterlippe. "Ich...", fing er an, stoppte dann jedoch. "Du...?", hakte Snape nach und hob eine Augenbraue. "Ich will das Mal nicht!", brach es schließlich aus dem schmächtigen Jungen hervor. "Verstehst du nicht, Severus? Ich will es nicht! All die Jahre hab ich getan, was mein Vater wollte, habe nicht widersprochen und Sachen gemacht, die ich niemals tun wollte. Und seit ich in Hogwarts bin, ist das alles nur noch viel schlimmer geworden! Letzten Sommer hab ich ihm versprochen, diesen Sommer den Todessern 'beizutreten', aber dann hab ich sie einmal zufällig gesehen und... Ich kann das nicht, Severus! Ich kann so was einfach nicht machen!"
Die Augen wieder aufgerissen schimmerten von den Tränen, die ihn ihnen standen. Das sonst so schöne graublau war dunkel geworden vor Verzweiflung und Draco hatte seine kleinen Hände mit den dünnen, zerbrechlich wirkenden Fingern fest in Snapes Umhang gekrallt. Er schluchzte trocken auf und Harry dachte eigentlich, dass genau dies der Moment wäre, wo Snape ihn eigentlich von sich stoßen sollte. Doch dann überraschte er Harry erneut, als er Draco einfach in eine kurze, aber innige Umarmung zog. Mit offenem Mund starrte der Gryffindor die beiden an.
Nach ein paar Augenblicken schob Snape seinen Schüler ein Stückchen von sich, sanft, aber bestimmt. "Was meinst du damit, dass es schlimmer geworden ist, seid du in Hogwarts bist? Meiner Meinung nach hat sich dein Vater nicht sehr geändert..." Draco zuckte leicht die Schultern. "Na ja", fing er an. "das beste Beispiel dafür ist ja wohl Potter!" Harry zuckte bei der Nennung seines Namens kurz zusammen; Snape runzelte nur die Stirn. "Na komm schon, Severus, wenn du mal beiseite schiebst, dass du seinen Vater und seinen Patenonkel gehasst hast, musst du doch zugeben, dass er gar nicht so schlimm ist! Eigentlich denke ich, dass ich mich gut mit ihm verstanden hätte... wenn er nicht wäre, wer er ist und ich nicht ich wäre."
Snape hatte - wie Harry - leicht fassungslos nach Luft geschnappt und Draco angeguckt, als hätte er sich vor seinen Augen in eine Frau verwandelt. "Draco!", zischte der Professor. "Du bist ein Mal-" "Oh bitte, Severus", unterbrach Draco ihn. "das höre ich schon seit ich ein Baby bin!" Er räusperte sich kurz: "Du bist ein Malfoy, ein Malfoy tut so was nicht! Ein Malfoy zeigt keine Gefühle und ein Malfoy hasst Schlammblüter und Harry Potter sowieso!", zitierte er und amte die Stimme seines Vaters nach, die Harry nur zu gut kannte. "Na und", fuhr er dann wieder normal fort. "Ich hab mir ja nicht ausgesucht, ein Malfoy zu werden! Ich habe es satt! Meinetwegen soll er doch sein Leben für Voldemort wegschmeißen, ich habe das nicht vor, da kann er machen, was er will!"
Kopfschüttelnd sah Snape den jungen Slytherin an. "Drac... du fährst über die Ferien doch wieder nach hause, oder?" Überrascht ob des Themenumschwungs blinzelte der Angesprochene ein paar mal, ehe er antwortete. "Ja, klar, ich fahr doch immer heim. Was hat das jetzt damit zu tun?" "Wo ist dein Vater?"
Draco wurde noch eine Spur blasser, er wich bis an die kalte Kellerwand zurück und starrte Snape an. "Was... warum... Was hat das damit zu tun?", fragte er leise. Snape lachte heiser auf. "Draco, für die Weihnachtsferien ist ein weiteres Treffen angekündigt worden. Und ich kenne deinen Vater lange und gut genug um zu wissen, dass er dich notfalls zwingt, das Mal zu erhalten. Aber deine Mutter ist kein Todesser, sie würde also nicht auf eines der Treffen gehen. Wenn dein Vater also bis dahin wieder in Askaban ist, läufst du keine Gefahr..."
Der Zaubertränkelehrer ließ seinen Satz offen, doch sowohl Draco als auch der unsichtbare Harry wussten, was Snape sagen wollte. Man konnte regelrecht sehen, wie es hinter Malfoys Stirn arbeitete, doch dann schüttelte der Blondschopf den Kopf. "Ich kann es dir nicht sagen", brachte er hervor, leise und mit viel Mühe. Snape musterte ihn kurz, dann nickte er. "Verstehe... War ja eigentlich klar...", murmelte er kaum hörbar für Harry. "Kannst du mir wenigstens sagen, welchen Bann er angewandt hat?" Ein heftiges Kopfschütteln von Malfoy und Snape seufzte. "Aufschreiben?" - Wieder ein Kopfschütteln.
Dann herrschte einige Augenblicke Stille in dem Kerkerklassenzimmer. "Okay", meinte Snape schließlich. "Ich werde ein paar Orte nennen, und du nickst oder schüttelst den Kopf ja?" Ein knappes Nicken war die Antwort. "Nun, ich nehme an, zuhause wird er nicht sein.... In euerem Landhaus? - Nein?... Hmm... irgendwo in London? - Auch nicht... Bei einem anderen Todesser? - Ja? ....."
Erstaunt sah Harry dieser Prozedur zu, nur langsam begriff er, was genau hier vor sich ging. Lucius Malfoy war aus Askaban ausgebrochen, so viel hatte er gleich zu Anfang mitbekommen. Und er wollte Draco dazu zwingen, ein Todesser zu werden, was der aber nicht wollte... Und anscheinend hatte er einen Bann auf seinen Sohn gelegt, damit der keinem verraten konnte, wo er sich aufhielt. Harry hasste Lucius Malfoy mit jeder Sekunde mehr. Nicht, dass ihm dieser Mann jemals sympathisch war, aber seinem eigenen Sohn so etwas anzutun, dazu musste man noch eine ganze Ecke schlechter und mieser sein, als Harry bisher angenommen hatte.
Ein wenig besorgt sah der junge Gryffindor Draco an, dem die 'Befragung' ziemlich schwer fiel, er schwitzte leicht und war nun so blass, dass Harry die bläulichen, sehr feinen Adern unter der Haut klar erkennen konnte. Die noch immer ganz dunklen Augen wirkten in dem schmalen, blassen Gesicht riesengroß und wie die eines verängstigten, in die Falle geratenen Tieres. Es tat ihm weh, den Jungen so zu sehen.
In den letzten Minuten hatte er seine Meinung über Malfoy drastisch geändert; was musste der bisher für ein Leben gehabt haben, dass er immer tat, was sein Vater von ihm verlangte, auch wenn er ganz anderer Meinung war. Harry wollte so schnell wie möglich aus diesem Zimmer raus; er hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen, um die Szenerie vor sich nicht mehr wahrnehmen zu müssen.
Er dachte nur daran, wie großartig Draco bisher seine Rolle gespielt hatte und wie sie alle darauf reingefallen waren.
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Ende 2. Kapitel
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Okay, es geht auch gleich weiter...
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2. Kapitel - Der Schein des Seins
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Müde lag Harry in seinem Bett, den Vorhang zugezogen lauschte er den ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen seiner Zimmermitbewohner. Im Jungenschlafsaal Gryffindors war es recht schnell ruhig geworden, alle waren sie müde; die Hausauswahl und das folgende Festessen waren wie immer großartig gewesen.
Nur Harry konnte noch immer nicht schlafen, zu viel geisterte in seinem Kopf umher, ließ nicht zu, dass er in die Dunkelheit wegdriftete, so gern er dies auch wollte. Also verbrachte er - wie es ihm schien - schon Stunden damit zu, sich von der einen auf die andere Seite zu drehen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Gereizt schlug er die Decke zurück, zog den Vorhang auf und erhob sich, ging zum geöffneten Fenster und blickte hinaus in die sternenklare, vom Vollmond hell erleuchtete Nacht.
Seufzend stützte er die Ellenbogen auf, ließ seinen Blick schweifen, versuchte so viel wie möglich zu erkennen. Ein flatterndes Etwas neben ihm ließ ihn herum fahren, doch als er Hedwigs im Mondlicht silbrig schimmerndes Federkleid ausmachte beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Was hatte er denn eigentlich erwartet?!
Seine treue Eule setzte sich auf seine Schulter, gab gurrende Geräusche von sich und liebkoste vorsichtig und sanft mit dem Schnabel sein Ohrläppchen. Harry hob eine Hand, kraulte durch das weiche Federkleid und strich die aufgewühlten Federn immer wieder glatt. "Na meine Schöne, was machst du zu dieser Zeit noch hier, hm?", fragte er leise, keinen Augenblick lang die Liebkosungen unterbrechend.
Ein etwas stärkerer Biss in sein Ohr ließ ihn zusammenzucken, schmerzhaft verzog er das Gesicht. "Autsch, Hedwig, das tat weh! Aber ich hab schon verstanden, geht mich ja auch nichts an, wo du deine Freizeit verbringst... Außerdem bin ich ja auch nicht besser....", murmelte er. "Kannst du dir das vorstellen?! Dass ich mich um IHN sorge?? Und eigentlich selber nicht weiß, warum?" Er machte eine kleine Pause, lauschte erneut den Atemzügen der anderen Jungs. "Weißt du, ist ja nicht so, dass es mir etwas ausmachen würde, mich um jemanden zu sorgen. Ist schließlich was völlig normales. Aber ausgerechnet er!! Und warum auf einmal?? Nur, weil er sich ein bisschen komisch benommen hat! Das ist doch schon nicht mehr normal, dass ich mir sorgen mache, weil er mich nicht ärgert!! Klingt ja schon so, als WOLLTE ich, dass er mich ärgert!"
Hedwig gurrte erneut, rieb mit dem Schnabel leicht über seine Wange und plusterte sich auf. Dann hopste sie auf das Fensterbrett, glättete ihr Federkleid und blickte Harry kurz aus unergründlichen Augen an, ehe sie wegflog. Ein wenig mürrisch blickte der Junge ihr hinterher. "Klar, du findest das wohl sehr lustig, dass ich dir erst mein Herz ausschütte und du dann einfach die Kurve kratzt, was? Wahrscheinlich hältst du mich auch für bescheuert, weil ich mir Gedanken um das Wohlbefinden Draco Malfoys mache! Aber ich kann's nicht ändern....." Noch immer vor sich hin grummelnd ging Harry zurück in sein Bett, zog den Vorhang harscher zurück als nötig und versteckte den Kopf unter seinem Kissen.
Seit dem letzten Schuljahr hatte er so oder so ein wenig Angst davor, einzuschlafen, so aufgewühlt zu sein verbesserte die Situation nicht gerade.
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Morgens erwachte Harry dadurch, dass jemand an seiner Schulter rüttelte und seinen Namen rief. Blinzelnd öffnete er die grünen Augen, blickte im ersten Moment ein wenig desorientiert herum. Dann erkannte er Rons Sommersprossiges Gesicht und er gähnte ihn zur Begrüßung erst mal ausgiebig an. "Guten Morgen, Harry! Ich dachte schon, ich krieg dich gar nicht mehr wach!"
Dann setzte er sich auf, strich sich durch das ewig verstrubbelte Haar und unterdrückte ein weiteres Gähnen. Er war erst im Morgengrauen eingeschlafen und fühlte sich, als hätte man den Hogwarts-Express über ihn drüber rollen lassen.
"Morgen Ron", brachte er schließlich hervor und grinste seinen Freund an. "Los, jetzt, Harry, du hast voll verschlafen! Das Frühstück fängt gleich an!", drängte ihn dieser. "Ja doch, ja doch...", grummelte der Schwarzhaarige, quälte sich sichtlich dazu, das warme, kuschelige, ihn zum weiterschlafen drängende Bett zu verlassen.
Eine superschnelle, superkalte Dusche später folgte er mit feuchten Haaren Ron und Hermine in den großen Saal, in dem es schon sehr lebhaft zu ging. Fast schon automatisch glitt Harrys Blick über die Köpfe der Anwesenden, jeden Tisch betrachtete er genau. Er bemerkte allerdings erst, das er gezielt nach Malfoy Ausschau hielt, nachdem er den Blondschopf nirgendwo entdecken konnte und schon versucht war, hinter sich die Gänge entlang zu blicken.
Doch er unterdrückte diesen Drang, beeilte sich lieber, seinen beiden Freunden zum Gryffindortisch zu folgen, wo sich schnell Plätze bei Neville, Seamus und Dean fanden. Die Klassenkameraden unterhielten sich gerade darüber, wer wohl dieses Jahr Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichten würde - Professor Dumbledore hatte dazu gesterrn nichts gesagt und ein neues Gesicht am Lehrertisch hatte man auch nicht entdecken können - und alle äußerten sie den Wunsch, dass ihnen jeder Lehrer recht wäre - ausgenommen Lockhardt, Umbridge und Snape.
Bei Lockhardt mussten sie sich keine Gedanken machen, informierte Neville sie, er litt noch immer unter dem Amnesia-Zauberspruch, der damals in der Kammer des Schreckens nach hinten losgegangen war und befände sich noch immer im sicheren Gewahrsam in St. Mungos Hospital. Die Umbridge hatte sich wohl auch noch nicht von dem Schock erholt, den sie im Verbotenen Wald erfahren hatte. Snape allerdings schien gute Karten für dieses Fach zu haben, begehrte er es doch schon seit mehreren Jahren.
Harry beteiligte sich kaum an dem lebhaften Gespräch, viel mehr mühte er sich darum, so unauffällig wie möglich weiterhin Ausschau nach Malfoy zu halten. Er wusste selbst nicht so genau warum, aber irgend etwas in ihm zwang ihn geradezu dazu, sich immer wieder suchend umzublicken. Hermine, die mit Ron ihm gegenüber saß, bemerkte seine gedankliche Abwesenheit, hielt aber den Mund. Sie würde Harry später darauf ansprechen; vielleicht war er einfach nur übermüdet. Ron hatte ihr von Harrys Startproblemen in den Tag erzählt und das braunhaarige Mädchen machte sich Sorgen darüber, dass es vielleicht wieder mit den seltsamen Träumen und Voldemort zu tun haben könnte.
Nach dem Frühstück auf dem Weg zur ersten Unterrichtsstunde - ausgerechnet Zaubertränke bei Snape! - war Harry wirklich besorgt. Malfoy hatte sich beim Frühstück nicht blicken lassen, nur seine Wachhunde Goyle und Crabbe waren erschienen. Anscheinend hatte nicht nur er die Abwesenheit des Jungen bemerkt, am Slytherintisch wurde heftig getuschelt und Crabbe und Goyle praktisch mit Fragen überhäuft. Harry hatte sehen können, wie sie mehrmals in einer hilflosen Geste die Schultern zuckten, woraus er schloss, dass selbst die beiden nicht wussten, was mit Malfoy los war.
Erst vor dem Klassenzimmer bemerkte Harry, dass er vergessen hatte, Pergament, Feder und Tinte mitzunehmen; eiligst informierte er seine beiden Freunde darüber und rannte zurück in den Gryffindorturm um die Utensilien zu holen. Gerade noch rechtzeitig stand er wieder im Kerkerzimmer, bis auf eine der vorderen Bänke war alles besetzt. Unschlüssig stand er noch kurz an der Tür, überlegte gerade, ob Neville wohl mit ihm tauschen würde, so dass er hinter Ron und Hermine sitzen konnte, als er grob von hinten angerempelt wurde und ein paar Schritte nach vorne taumelte.
Nur eine Hand, die sich geistesgegenwärtig in seinen Umhang krallte hinderte ihn daran vornüber auf den Boden zu fallen; als er wieder sicher stand erblickte er die blasse Gestalt Malfoys, welcher ihn gerade los ließ. Harry meinte ein leises "Entschuldigung" zu hören, als Professor Snape herein rauschte und seine Sachen auf den Pult vorne knallte. "Malfoy, Potter, wären Sie dann so freundlich, auf Ihre Plätze zu gehen?", fragte er und deutete mit dem Zauberstab auf die leere Bank.
Harry - der sich immer noch fragte, ob er gerade eben richtig gehört hatte - folgte augenblicklich diesem 'Befehl', Sekunden später saß auch Malfoy neben ihm. Die Augen der ganzen Klasse hatten in diesem Moment auf ihnen geruht und Harry wussten, dass sie ein gehässig-böses Kommentar von Malfoy erwarteten, ein ergebenes Seufzen und Augenverdrehen von ihm. Doch es geschah einfach nichts. Malfoy blickte stumm die Tischplatte vor sich an, hatte anscheinend mühe, nicht sofort einzuschlafen. Harry selbst war viel zu sehr in Grübeleien versunken, als dass er daran gedacht hätte, den Schein zu wahren und so zu tun, als würde ihm Malfoys Anwesenheit auf die Nerven gehen.
Die Zaubertränkestunde verlief wie immer - sprich: Neville wurde von Snape runtergemacht, der Lehrer zog Gryffindor wegen jeder Kleinigkeit unnötig viele Punkte ab und ignorierte die selben Fehler Slytherins. Insgeheim war Harry dankbar dafür, denn irgendwie hatte er sich davor gefürchtet, dass Snape sich vielleicht auch so drastisch geändert haben könnte wie Malfoy. Mit einem zurückhaltenden, vielleicht sogar netten Draco Malfoy konnte er ja leben, aber ein netter Professor Snape wäre selbst seiner Vorstellungskraft nach absolut abartig. Vor allem, da er ja wusste, weshalb dieser immer so gemein zu ihm war.
Der restliche Schultag verlief ebenfalls so, wie man es gewohnt war. In Wahrsagen prophezeite ihm Professor Trelawney - die die erste der beiden Wochenstunden übernahm; die nächste hatten sie Mittwochs bei Firenze - dass er dieses Jahr WIRKLICH sterben würde, Professor Spout's Unterricht war zum Gähnen langweilig und auch Pflege magischer Geschöpfe konnte Harry nicht wirklich mitreißen. In jeder Unterrichtsstunde, ob Malfoy nun dabei war oder nicht, fand er sich nach wenigen Minuten wieder dabei, über ihn nach zu denken.
Kurz vor dem Mittagessen stand Harry in den Toilettenräumen vor dem Spiegel und starrte sich selbst an. Das konnte doch alles nicht wahr sein!! Was fiel Malfoy ein, sich in seine Gedanken einzuschleichen und ihn dort nicht mehr in Frieden zu lassen! Reichte es denn nicht, dass er ihn bisher immer genervt und schikaniert hatte? Hatte er sich denn nicht auch mal eine kleine Auszeit verdient? Aber nein, er musste sich ja den Kopf über seinen Feind zerbrechen.
Er klatschte sich eine Ladung eiskaltes Wasser ins Gesicht, welches dadurch allerdings nicht sehr viel munterer aussah. Was ihn wiederum zurück zu Draco brachte. Der Junge hatte ausgesehen, als hätte er nächtelang nicht mehr geschlafen, seine sonst so schöne milchweiße Haut wirkte kränklich-blass und ungesund, die ausdruckslosen, graublauen Augen wurden von dicken, tiefen Augenringen unterlegt. Alles in allem wirkte er mehr wie ein Schatten seiner selbst.
Harry starrte sich an. "Nein! Das bringt nichts! Du hörst jetzt sofort auf, darüber nach zu denken!", herrschte er sein Spiegelbild an und schüttelte dann über sich selbst den Kopf. Jetzt redete er auch noch mit sich selbst... Seufzend verließ er die Toilettenräume um im Großen Saal endlich sein Mittagessen einzunehmen.
Es kostete ihn alles an Selbstbeherrschung, nicht doch ab und zu zum Slytherintisch zu blicken, wo er - wie er wusste - Draco zwischen Goyle und Crabbe entdecken würde. Fast genau so schwer war es, der Unterhaltung seiner Freunde zu folgen und ein paar Kommentare dazu abzugeben, sich natürlich und 'Harry-typisch' zu verhalten. Den ganzen restlichen Tag über gelang ihm das sogar ausgesprochen gut, nur als er dann wieder in der Stille des Schlafsaals lag und den Atemzügen der anderen lauschte konnte er die sorgenvollen Gedanken nicht mehr verdrängen.
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Die ersten Wochen vergingen sehr schnell und Harry hatte kaum Zeit, sich über irgend etwas Gedanken zu machen. Kam er schon im 5. Schuljahr kaum mit seinen Hausaufgaben hinterher war es nun nicht wesentlich besser geworden, obwohl er nicht mehr von visionellen Alpträumen geplagt wurde und einige wenige Schüler in Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichtete.
Die gesamte Schülerschaft war gleichermaßen überrascht wie erfreut gewesen, als sich der neue Lehrer in Verteidigung gegen die dunklen Künste als Remus Lupin herausgestellt hatte. Zwar meldeten einige Eltern bedenken an, ihre Kinder von einem Werwolf unterrichten zu lassen, doch ob der Tatsache, dass in Remus' letztem Schuljahr als Lehrer nichts passiert war, waren die Einwände schnell beseitigt worden. Harry war froh, jemanden zu haben, mit dem er offen über Sirius reden konnte. Ron und Hermine waren in letzter Zeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen und Harry wollte auch nicht unbedingt mit ihnen darüber reden.
Er erinnerte sich noch zu genau an die Erinnerung Snapes an seine Eltern, Sirius und Remus, als diese noch Schüler waren und ihn übelst getriezt hatten. In den Sommerferien hatte Harry oft darüber nachgedacht und manchmal kam er nicht umhin, die Ähnlichkeiten zwischen der damaligen James/Sirius-Snape-Beziehung und der heutigen Harry-Draco-Beziehung zu bemerken.
Es war mal wieder eine sternenklare Nacht und Harry konnte nicht schlafen. Leise stand er auf, zog seinen Tarnumhang an und schlich sich hinaus. Ganz so, wie es Nachts sein sollte war es still in den Gängen Hogwarts und Harry begegnete keiner Menschenseele - auch keinem der Geister - auf dem Weg zum Astronomieturm, wo die Aussicht einfach am besten war. Er schlüpfte hinaus und blieb wie festgefroren stehen, als er sah, dass er nicht der Einzige war, der nicht schlafen konnte.
Nicht einmal drei Meter von ihm entfernt saß Draco Malfoy, Harry konnte ihn leicht erkennen. Das helle, silberblonde Haar reflektierte Sternenlicht und die weiße Haut schimmert leicht; die Knie hatte er dicht angezogen und die Arme darum geschlungen. Harry überlegte kurz, ob er nicht besser gehen sollte, als er sah, wie sich eine Träne langsam aus Dracos Augenwinkeln löste und sich einen Weg seine Wange hinunter bahnte, bis zum Kinn, von wo aus sie auf die Knie des Slytherins tropfte. Draco machte sich nicht einmal die Mühe, die folgenden aufzuhalten oder weg zu wischen.
Betroffen starrte Harry die Szene vor sich an, er konnte sich nicht erinnern, Malfoy jemals weinen gesehen zu haben. Kein Ton verließ die leicht geöffneten Lippen seines zusammengekauerten Gegenübers, kein Muskel bewegte sich. Hätte Harry nicht die glitzernden Tränen gesehen, hätte er schwören können, einer Statue gegenüber zu stehen, die Draco nur ähnlich sah.
Harrys Herz klopfte zum zerspringen in seiner Brust und er konnte jetzt unmöglich noch den Anblick der sternenklaren Nacht genießen. Langsam ging er auf ihn zu, immer darauf achtend, dass sein Umhang nicht verrutschte und er auch keinerlei Geräusche verursachte. Doch Harry glaubte sowieso nicht, dass Draco diese bemerken würde, der Slytherin schien viel zu sehr in seiner eigenen Welt gefangen zu sein.
Vorsichtig umrundete der Schwarzhaarige den Sitzenden, ehe er sich auf dessen anderen Seite nieder ließ. Noch immer strömten die Tränen aus den blaugrauen Augen, langsam und stetig wie ein Fluss. Harry verspürte den Wunsch, sie ihm wegzuwischen, ihn tröstend in den Arm zu nehmen. Doch er wusste, dass Draco das wohl niemals zulassen würde...
Erst als die Sonne langsam aufging bemerkte Harry, dass er mehrere Stunden damit zugebracht hatte, still neben Draco zu sitzen und ihm beim Weinen zuzusehen. Er betrachtete nur kurz den Sonnenaufgang und fühlte sich unendlich erschöpft und müde als er aufstand, um die restlichen drei Stunden die ihm bis zum Frühstück blieben zu schlafen.
Er warf einen letzten Blick auf Malfoy, der noch immer genau so da saß, wie Harry ihn gefunden hatte. Die Tränen waren mittlerweile versiegt und im Morgenlicht konnte der Schwarzhaarige erkennen, dass die Augen gerötet und von dunklen, tiefen Ringen untermalt waren. Er schüttelte kurz den Kopf und verließ den Astronomieturm entgültig.
Er musste mit jemandem darüber reden.
*+*+*
Die erste Stunde an diesem Morgen war ausgerechnet Geschichte der Zauberei und Professor Binns hatte ein nicht sehr interessantes Thema ausgewählt. Harry kämpfte tapfer dagegen an, nicht einzuschlafen oder ganz offensichtlich desinteressiert zu gucken. Als nächstes folgten zwei Stunden Zaubertränke und als Harry als letzter vor Snape das Klassenzimmer im Kerker betrat heftete sich sein Blick automatisch auf Malfoy.
Der saß hinter Goyle und Crabbe und hatte Pansy Parkinson neben sich, welche ihm irgend etwas erzählte, was ihn - seinem Gesichtsausdruck nach - nicht interessierte. Draco lachte ein paar Mal über irgendwelche gehässigen Kommentare seiner Slytherinkameraden, ansonsten blieb er aber recht still.
Harry ließ sich neben Neville nieder und fragte sich, wie Malfoy es schaffte, nach so einer Nacht nicht wenigstens ein wenig k.o. oder übernächtigt zu wirken. Die Blässe der Haut und die Augenringe erzählten zwar davon, aber der Junge selbst ließ sich nichts anmerken. Kopfschüttelnd blickte Harry nach vorne, wo Snape gerade mit dem Zauberstab auf die Tafel deutete und ihnen somit die Zutatenliste dieser Stunde gab.
Neville war nur ein wenig nervös, nachdem er am Ende des letzten Schuljahrs gegen die Todesser gekämpft hatte und auch in Verteidigung gegen die dunklen Küste wesentliche Fortschritte gemacht hatte, hatte er weniger Angst vor Snape, stellte sich aber durchaus nicht sehr viel besser an. Harry hingegen war die ganze Zeit unkonzentriert, so dass am Ende der Stunde ihr Zaubertrank irgendwie nicht ganz so aussah, wie die der anderen: statt eines intensiven Rottons hatte ihrer eine grünlich-braune Farbe angenommen.
Snape hob nur eine Augenbraue und sagte: "Natürlich, Potter und Longbottom. Klar, dass ihr nichts zustande bringt! 10 Punkte Abzug für Gryffindor!" Die Augen sämtlicher Mitschüler ruhte auf den beiden, die ein wenig schuldbewusst den Kopf gesenkt hatten, und in ihnen stand entweder Mitleid oder Häme. Als Snape der Klasse den Rücken kehrte schnitt Harry ihm schnell eine Grimasse und als er den Kopf rasch in eine andere Richtung wandte, begegnete er Malfoys Blick und wäre fast umgekippt als er dessen leichtes, kaum wahrnehmbares Lächeln entdeckte.
Weder Häme noch Mitleid stand in diesem kurzen Augenblick in dem blassen Gesicht, nur Amüsement. Doch noch ehe Harry sich mit einem weiteren Blick vergewissern konnte, hatte Snape mit einem Wink seines Zauberstabs die Zutatenliste für die zweite Stunde aufgerufen. Seufzend beugte er sich wieder mit Neville über seinen Kessel, zerkleinerte vorsichtig und überaus genau die Zutaten, wog noch vorsichtiger und genauer die selbigen ab.
Dieses Mal schafften sie es und Harry hörte Neville leise erleichtert aufseufzen, als der Trank auch noch die erwünschte Wirkung an dem Trainingsobjekt - einer armen Maus, die sich hier wohl irgendwo herumgetrieben hatte - zeigte. Mit ein wenig Genugtuung sah Harry Snapes enttäuschtes Gesicht, sicherlich hätte der Zaubertränkelehrer nichts dagegen gehabt, hätten die beiden wieder Mist gebaut.
Was Harry allerdings sehr überraschte war der leichte Anflug von Besorgnis, der in Snapes Augen erschien, wann immer sein stechender Blick Draco streifte, der, Pansy ignorierend, über seinen Kessel gebeugt da saß. "Malfoy", durchbrach die kühle Stimme des Hauslehrers Slytherins die angespannt-geschäftige Stille im Raum. "ich möchte Sie nachher noch kurz sprechen."
Der helle Haarschopf war nach oben geschossen und er war noch blasser geworden, falls das überhaupt noch möglich war. In Harry kribbelte es, er brannte darauf zu erfahren, warum Snape wohl seinen Lieblingsschüler sprechen wollte. Als die Stunde um war und die Schüler lärmend und erfreut den Kerkerraum verließen, blieb er drei Schritte später stehen und sah sich nach allen Seiten um. Ron und Hermine waren - wie in letzter Zeit öfters - schon als ein paar der Ersten verschwunden, so dass er innerhalb weniger Augenblicke allein da stand.
Rasch zog er seinen Tarnumhang, den er in seiner Büchertasche mit sich rumtrug, heraus und legte ihn an. Glücklicher weise war die Türe noch nicht geschlossen worden, so dass er noch rasch hineinschlüpfen konnte. Gerade noch rechtzeitig, wie er bemerkte, den keine zwei Sekunden später schloss Snape mit einem Wink seines Zauberstabs die Türe.
"Draco", hörte er die Stimme des verhassten Lehrers als er sich nach einem sicheren Platz umsah, "was ist in letzter Zeit los mit dir? Seit den Ferien scheinst du... irgendwie verändert." Überrascht horchte Harry auf und stellte sich so, dass er Schüler und Lehrer im Blick hatte. Snape hatte unüberhörbar besorgt geklungen und das 'Sie' wie selbstverständlich gegen das 'du' getauscht.
"Nichts", antwortete Draco mit leiser Stimme, wobei er den Professor allerdings nicht ansah. "Es ist alles in Ordnung."
Snape war währenddessen auf den Blondschopf zu gegangen und stand nun direkt neben ihm an dessen Sitzbank. "Draco... würdest du mir mal bitte deinen Arm geben?"
Die Reaktion die daraufhin von Malfoy folgte überrascht Harry. Der Slytherin war schneller aus der Bank geglitten und aufgestanden, als Harry gucken konnte, die Arme dabei beide hinter dem Rücken verschränkt. "Wieso?", fragte er leise, blickte seinen Lehrer dabei immer noch nicht an. Schon beinahe grob packte dieser ihn am linken Oberarm, entzwang dem schmächtigen Jungen ein leises, schmerzerfülltes Aufkeuchen.
"Deinen Arm, zeig ihn mir! Du und ich, wir wissen beide, dass dein Vater nicht mehr in Askaban ist. Ich hab ihn beim vorletzten Treffen gesehen, Draco. Und ich weiß auch, dass der Lord nicht gerade erfreut darüber war, dass du immer noch nicht sein Zeichen trägst. Er hat deinen Vater ganz schön dafür bluten lassen und ich denke nicht, dass dieser diese Demütigung einfach so hin nahm. Die anderen haben alle schon das Zeichen, du bist der Einzige, der es bis dahin noch nicht hatte. Deinen Arm, Draco, ich will ihn sehen."
Langsam ließ Harry sich auf die hinterste Sitzbank gleiten. Er wusste nicht, was ihn mehr überraschen sollte: die Tatsache, das Lucius Malfoy aus Askaban geflohen war, ohne dass es im Tagesprophet erschien war oder irgend jemand davon wusste; oder die Tatsache, dass Draco noch nicht das Mal eines Todessers trug. Harry war sich im letzten Schuljahr sicher gewesen, dass Draco es spätestens jetzt tragen würde!
Draco hatte sich zwischenzeitlich von Snape losgerissen und seinen linken Arm fest an sich gepresst. Die graublauen Augen waren weit aufgerissen und die Haut aschfahl. Snape packte den jüngeren erneut an den Schultern, schüttelte ihn leicht. "Drac", sagte er leise und eindringlich, "die anderen reden schon darüber. Du musst doch zugeben, dass es höchst seltsam ist, dass der Sohn seines treuesten Anhängers noch nicht das Mal trägt! Und ich weiß nicht warum, aber der Lord will dich haben!"
Von Draco kam nur ein kleines Wimmern, dann schlossen sich dessen Augen und er biss sich auf die Unterlippe. "Ich...", fing er an, stoppte dann jedoch. "Du...?", hakte Snape nach und hob eine Augenbraue. "Ich will das Mal nicht!", brach es schließlich aus dem schmächtigen Jungen hervor. "Verstehst du nicht, Severus? Ich will es nicht! All die Jahre hab ich getan, was mein Vater wollte, habe nicht widersprochen und Sachen gemacht, die ich niemals tun wollte. Und seit ich in Hogwarts bin, ist das alles nur noch viel schlimmer geworden! Letzten Sommer hab ich ihm versprochen, diesen Sommer den Todessern 'beizutreten', aber dann hab ich sie einmal zufällig gesehen und... Ich kann das nicht, Severus! Ich kann so was einfach nicht machen!"
Die Augen wieder aufgerissen schimmerten von den Tränen, die ihn ihnen standen. Das sonst so schöne graublau war dunkel geworden vor Verzweiflung und Draco hatte seine kleinen Hände mit den dünnen, zerbrechlich wirkenden Fingern fest in Snapes Umhang gekrallt. Er schluchzte trocken auf und Harry dachte eigentlich, dass genau dies der Moment wäre, wo Snape ihn eigentlich von sich stoßen sollte. Doch dann überraschte er Harry erneut, als er Draco einfach in eine kurze, aber innige Umarmung zog. Mit offenem Mund starrte der Gryffindor die beiden an.
Nach ein paar Augenblicken schob Snape seinen Schüler ein Stückchen von sich, sanft, aber bestimmt. "Was meinst du damit, dass es schlimmer geworden ist, seid du in Hogwarts bist? Meiner Meinung nach hat sich dein Vater nicht sehr geändert..." Draco zuckte leicht die Schultern. "Na ja", fing er an. "das beste Beispiel dafür ist ja wohl Potter!" Harry zuckte bei der Nennung seines Namens kurz zusammen; Snape runzelte nur die Stirn. "Na komm schon, Severus, wenn du mal beiseite schiebst, dass du seinen Vater und seinen Patenonkel gehasst hast, musst du doch zugeben, dass er gar nicht so schlimm ist! Eigentlich denke ich, dass ich mich gut mit ihm verstanden hätte... wenn er nicht wäre, wer er ist und ich nicht ich wäre."
Snape hatte - wie Harry - leicht fassungslos nach Luft geschnappt und Draco angeguckt, als hätte er sich vor seinen Augen in eine Frau verwandelt. "Draco!", zischte der Professor. "Du bist ein Mal-" "Oh bitte, Severus", unterbrach Draco ihn. "das höre ich schon seit ich ein Baby bin!" Er räusperte sich kurz: "Du bist ein Malfoy, ein Malfoy tut so was nicht! Ein Malfoy zeigt keine Gefühle und ein Malfoy hasst Schlammblüter und Harry Potter sowieso!", zitierte er und amte die Stimme seines Vaters nach, die Harry nur zu gut kannte. "Na und", fuhr er dann wieder normal fort. "Ich hab mir ja nicht ausgesucht, ein Malfoy zu werden! Ich habe es satt! Meinetwegen soll er doch sein Leben für Voldemort wegschmeißen, ich habe das nicht vor, da kann er machen, was er will!"
Kopfschüttelnd sah Snape den jungen Slytherin an. "Drac... du fährst über die Ferien doch wieder nach hause, oder?" Überrascht ob des Themenumschwungs blinzelte der Angesprochene ein paar mal, ehe er antwortete. "Ja, klar, ich fahr doch immer heim. Was hat das jetzt damit zu tun?" "Wo ist dein Vater?"
Draco wurde noch eine Spur blasser, er wich bis an die kalte Kellerwand zurück und starrte Snape an. "Was... warum... Was hat das damit zu tun?", fragte er leise. Snape lachte heiser auf. "Draco, für die Weihnachtsferien ist ein weiteres Treffen angekündigt worden. Und ich kenne deinen Vater lange und gut genug um zu wissen, dass er dich notfalls zwingt, das Mal zu erhalten. Aber deine Mutter ist kein Todesser, sie würde also nicht auf eines der Treffen gehen. Wenn dein Vater also bis dahin wieder in Askaban ist, läufst du keine Gefahr..."
Der Zaubertränkelehrer ließ seinen Satz offen, doch sowohl Draco als auch der unsichtbare Harry wussten, was Snape sagen wollte. Man konnte regelrecht sehen, wie es hinter Malfoys Stirn arbeitete, doch dann schüttelte der Blondschopf den Kopf. "Ich kann es dir nicht sagen", brachte er hervor, leise und mit viel Mühe. Snape musterte ihn kurz, dann nickte er. "Verstehe... War ja eigentlich klar...", murmelte er kaum hörbar für Harry. "Kannst du mir wenigstens sagen, welchen Bann er angewandt hat?" Ein heftiges Kopfschütteln von Malfoy und Snape seufzte. "Aufschreiben?" - Wieder ein Kopfschütteln.
Dann herrschte einige Augenblicke Stille in dem Kerkerklassenzimmer. "Okay", meinte Snape schließlich. "Ich werde ein paar Orte nennen, und du nickst oder schüttelst den Kopf ja?" Ein knappes Nicken war die Antwort. "Nun, ich nehme an, zuhause wird er nicht sein.... In euerem Landhaus? - Nein?... Hmm... irgendwo in London? - Auch nicht... Bei einem anderen Todesser? - Ja? ....."
Erstaunt sah Harry dieser Prozedur zu, nur langsam begriff er, was genau hier vor sich ging. Lucius Malfoy war aus Askaban ausgebrochen, so viel hatte er gleich zu Anfang mitbekommen. Und er wollte Draco dazu zwingen, ein Todesser zu werden, was der aber nicht wollte... Und anscheinend hatte er einen Bann auf seinen Sohn gelegt, damit der keinem verraten konnte, wo er sich aufhielt. Harry hasste Lucius Malfoy mit jeder Sekunde mehr. Nicht, dass ihm dieser Mann jemals sympathisch war, aber seinem eigenen Sohn so etwas anzutun, dazu musste man noch eine ganze Ecke schlechter und mieser sein, als Harry bisher angenommen hatte.
Ein wenig besorgt sah der junge Gryffindor Draco an, dem die 'Befragung' ziemlich schwer fiel, er schwitzte leicht und war nun so blass, dass Harry die bläulichen, sehr feinen Adern unter der Haut klar erkennen konnte. Die noch immer ganz dunklen Augen wirkten in dem schmalen, blassen Gesicht riesengroß und wie die eines verängstigten, in die Falle geratenen Tieres. Es tat ihm weh, den Jungen so zu sehen.
In den letzten Minuten hatte er seine Meinung über Malfoy drastisch geändert; was musste der bisher für ein Leben gehabt haben, dass er immer tat, was sein Vater von ihm verlangte, auch wenn er ganz anderer Meinung war. Harry wollte so schnell wie möglich aus diesem Zimmer raus; er hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen, um die Szenerie vor sich nicht mehr wahrnehmen zu müssen.
Er dachte nur daran, wie großartig Draco bisher seine Rolle gespielt hatte und wie sie alle darauf reingefallen waren.
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Ende 2. Kapitel
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