Aragorn wartete vor den Häusern der Heilung auf die Ankunft der anderen drei. Er saß auf den kalten Steinstufen, seine Ellbogen auf den Knien, sein Kinn auf seinen gefalteten Händen ruhend.
'Sie ist so jung,' dachte er. Zu jung um zu sterben. Er hoffte, daß er es geschafft hatte, sie rechtzeitig zu den Heilern zu bringen, um ihr Leben zu retten. Jetzt konnte er nichts mehr für sie tun, nichts außer hoffen und beten. Er hoffte und betete auch für Boromir. Er fragte sich, ob es tatsächlich möglich sein konnte, daß Atalar recht hatte. Er hoffte, daß es das nicht war, aber er konnte nicht sicher sein. Boromir war sicherlich ein edler Mann, aber er trug auch Schwäche im Herzen. Er ließ sich schnell von seinen Gefühlen leiten und war nicht fähig, sie zu kontrollieren. Aber konnte es sein, daß diese Schwäche ihn dazu getrieben hatte, eine Frau zu töten? Er mußte zugeben, daß es Hinweise gab, die auf Boromirs Schuld deuteten, aber im Moment weigerte Aragorn sich, in Boromir einen kaltblütigen Mörder zu sehen, der einem jungen und unschuldigen Mädchen den Tod gebracht hatte. Es brauchte mehr als einen Dolch und ein geflüstertes Wort, um ihn zu überzeugen. Er war immer noch in seine Gedanken versunken, als er drei Pferde sich nähern hörte.
"Was sagen sie? Wird sie leben?" wollte Atalar wissen als er von seinem Pferd gestiegen und an Aragorns Seite getreten war.
"Ich weiß es nicht," sagte Aragorn und runzelte die Stirn als er sah, daß Legolas Boromirs Bruder dabei half, vom Pferd zu steigen, und ihn dann abstützte während Faramir vor Schmerzen aufstöhnte als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Die linke Seite von Faramirs heller Hose war teilweise zerrissen und mit Blut durchtränkt.
"Was ist passiert?" fragte Aragorn und erhob sich von den Stufen.
"Ein Unfall," murmelte Atalar und wollte sich in das Haus zurückziehen, aber Aragorn packte seinen Arm und zwang ihn zu bleiben.
"Legolas?" fragte Aragorn und durchbohrte den Elb mit einem scharfen Blick. Bevor Legolas etwas erwidern konnte, sprach Faramir.
"Ihr habt Lord Atalar gehört. Es war nur ein Unfall," sagte er. Aragorn wußte sowohl, daß er log, als auch daß er große Mühe hatte, seine Schmerzen zu verbergen.
Atalar riß seinen Arm aus Aragorns Griff und ließ die drei allein auf der dunklen Straße stehen.
"Kommt, Faramir, Ihr müßt ebenfalls von den Heilern untersucht werden. Dies scheint mir eine ernste Wunde zu sein," sagte Aragorn mit einem Seufzen und trat näher, um Legolas dabei zu helfen, den jüngeren Sohn Denethors zu stützen.
Als Boromir wieder sein Bewußtsein erlangte, war das erste, was er feststellte, daß er geknebelt und seine Augen verbunden waren. Instinktiv straffte er seine Haltung und wollte die Hände zu seinem Gesicht heben um sich zu befreien, aber seine Handgelenke waren hinter seinem Rücken zusammengebunden. Ein erstickter Laut der Überraschung bahnte sich einen Weg aus seiner Kehle als er bemerkte, daß er auf einem Pferd saß, das sich langsam in eine Richtung bewegte, die er nur raten konnte. Er wußte nicht, wo er war und warum. Und mit wem. Oder war er alleine? Er versuchte, sich auf die umliegenden Geräusche zu konzentrieren. Es war nicht einfach, da sein Geist sich immer noch von der Bewußtlosigkeit zu erholen versuchte und er kaum etwas anderes spürte als Benommenheit und ein heftiges Schwindelgefühl, aber er konnte ausmachen, daß sich hier mehr als bloß vier Hufe bewegten. Plötzlich ertönte eine männliche Stimme zu seiner Rechten.
"Er ist aufgewacht," informierte die Stimme jemanden.
"Seht ihn euch an, immer noch die Haltung eines Adeligen, obwohl er gefesselt ist und sich sicherlich zu Tode fürchtet," sagte eine andere männliche Stimme, diesmal von der linken Seite. "Sag' mir, hast du Angst, Boromir von Gondor?"
Boromir drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam, obwohl er nichts sehen konnte. Er hätte noch nicht einmal sagen können, ob es Tag oder Nacht war.
"Ich habe dir eine Frage gestellt, Lord Boromir," sagte die Stimme mit einem amüsierten Unterton. Ein paar andere Männer lachten leise.
"Willst du nicht antworten?!"
Ein plötzlicher Schlag gegen seinen Hinterkopf ließ Boromir zusammenzucken und er bewegte seinen Körper abrupt als er sich aus Reflex duckte. Das Pferd, auf dem er saß, wurde nervös. Er versuchte, im Sattel zu bleiben, aber als das Tier anfing, sich unter ihm aufzubäumen, konnte er sein Gleichgewicht nicht länger ohne Hilfe seiner Arme halten. Er wurde vom Rücken des Pferdes geschleudert und schlug hart auf dem staubigen Boden auf, mit der Vorderseite voran. Ein schmerzerfülltes Stöhnen zwang sich seinen Hals herauf als seine Stirn hart gegen einen scharfen, soliden Gegenstand stieß, wahrscheinlich ein Gestein. Er hörte massives Gelächter mehrerer Männer um sich, aber er konnte immer noch nicht ermitteln, wie viele es genau waren. Er fragte sich ebenfalls, ob auch Aerilyn irgendwo hier war. Gefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen, so wie er. Die Besorgnis um seine Verlobte riß sein Herz in Stücke, aber es gab nichts, was er tun konnte. Er konnte sich kaum rühren, kaum atmen, und überhaupt nichts sehen. Noch nie zuvor war er in einer so entwürdigenden Situation wie dieser gewesen.
"Schafft ihn wieder hoch auf das Pferd, schnell," sagte jemand, immer noch lachend.
Boromir hörte zwei seiner Entführer von ihren Pferden springen und mit schweren Schritten auf ihn zukommen. Kräftige Hände packten ihn und zogen ihn grob auf seine Füße.
"Er blutet aus einer tiefen Wunde," sagte eine Stimme nah an seinem Ohr, etwas besorgt klingend.
"Das kümmert mich nicht. Wir müssen ihn sowieso loswerden, sobald die Zeit dazu gekommen ist. Und jetzt schafft ihn auf das Pferd!"
"Was werdet Ihr dem Volk sagen, Truchseß? Ich denke nicht, daß es weise wäre das Volk wissen zu lassen, was wirklich passiert ist. Dieser Vorfall könnte uns in einen Bürgerkrieg führen. Das Volk Katallas wird das Volk Gondors beschuldigen und bekämpfen, und anders herum ebenso. Aber Ihr müßt ihnen irgend etwas sagen, sie alle erwarten die Festivitäten," fragte Aragorn Denethor, als eine kleine Gruppe sich um einen großen Tisch versammelt hatte, um die Begebenheiten zu diskutieren. Als Denethor nichts erwiderte, sondern weiter über die Frage nachdachte, erhob Legolas seine sanfte Stimme.
"Aragorn hat recht. Egal wie schnell unsere Pferde uns tragen werden, ich bezweifle, daß wir Lord Boromir rechtzeitig finden würden. Außerdem ist Lady Aerilyn dem Tode nah. Die Hochzeit kann nicht stattfinden."
"Natürlich kann sie nicht stattfinden! Und sie wird es auch niemals! Meine Schwester wird sich nicht an einen Mörder binden!" fauchte Atalar von seinem Stuhl aus.
"Mein Sohn ist kein Mörder, Lord Atalar! Etwas Schreckliches muß ihnen beiden zugestoßen sein, Lady Aerilyn und Boromir," sprach Denethor.
"Und ich sage es ist er, dem wir die Schuld geben müssen! Boromir ist wohl bekannt dafür, nicht vertrauenswürdig zu sein!"
"Das ist nicht wahr!" sagte Ghorid, der älteste Sohn von Denethors Bruder.
"So sprecht Ihr bloß, weil Ihr von gleichem Blut seid! Ich traue keinem Eurer Leute!" rief Atalar und bewegte seinen Blick zurück zu Denethor. "Weder traue ich Euch, Truchseß von Gondor, noch traue ich Eurer Brut."
"Zügelt Eure vorlaute Zunge, oder Ihr werdet es bereuen!" donnerte Denethor, die Augen zu funkelnden Schlitzen zusammengekniffen.
"Denkt Ihr, ich habe Angst vor Euch?!" entgegnete der junge Mann nicht weniger laut.
"Atalar!" zischte Ribensis, Truchseß von Katalla, mit einem bedrohlichen Ton in seiner beeindruckenden Stimme um seinen hitzköpfigen Sohn zum Schweigen zu bringen.
"Ich werde eine Truppe aussenden um herauszufinden, was passiert ist. Und hoffentlich wird sie nicht nur mit Antworten zurückkehren, sondern auch mit meinem lebenden Sohn," beschloß Denethor schließlich.
"Lord Faramir ist verwundet, er kann nicht kommen. Ich werde an seiner Stelle gehen, im Namen der ehrenvollen Familie und Gondor," sagte Ghorid ohne zu Zögern.
"Ich werde auch mitkommen. Und ich schwöre bei meines Vaters Reiches, Ich werde tödliche Rache nehmen wenn unsere Reise ans Licht bringt, daß Boromirs Hände mit dem Blut meiner Schwester besudelt sind!" entfuhr es Atalar.
Während Aerilyns Bruder sprach, suchte Aragorns Blick die Augen Legolas'. Als sie sich schließlich ansahen, konnte Legolas leicht die stille Frage in Aragorns Augen lesen und nickte bloß einmal, zustimmend blinzelnd.
"Wir werden uns der Truppe auch anschließen, denn Boromir ist ein Kamerad, der tapfer an unserer Seite gekämpft und sein Leben mehr als einmal riskiert hat, um eines der unseren zu retten," sagte Aragorn, den scharfen Blick Atalars auf seinem Gesicht spürend.
"Gut. Je eher Ihr aufbrecht, desto besser," sagte Denethor und erhob sich von seinem Stuhl, um der Diskussion ein Ende zu setzen.
